#Demokratie

Demokratische Technik oder technischer Staat?

von , 24.3.10

Staat und Vernetzung haben eine lange gemeinsame Geschichte. Bereits die ersten von Menschen geschaffenen Netze, die Bewässerungssysteme der alten Ägypter und Babylonier, waren auf eine fundamental neue Art gemeinschaftsbildend. Diese neue Technologie verband vor etwa 6.000 Jahren die soziale und ökonomische Leistungsfähigkeit verstreuter Ansiedlungen zu einer historisch völlig neuen Organisationsform: dem Staat.

Der Einzelne profitierte durch höhere Ernteerträge, musste dafür allerdings erstmals einer übergeordneten Instanz, die fern seiner lokalen Realität residierte, Abgaben leisten. Durch diese neuen Netze ließ sich nicht mehr nur ein Überschuss an Getreide erwirtschaften, sondern auch ein Überschuss an Zeit. Die Ägypter begannen Silos zu bauen, in denen man Zeit speichern kann – die Pyramiden. Diese Bauwerke wurden mit einer Maschine errichtet, die aus tausenden von Menschen bestand. Etwa 150 Jahre lang produzierte diese erste, logistische Maschine 80 monumentale Pyramiden. Es folgte eine Zeit der Unruhe und Anarchie, dann begann eine neue Zeit und etwas sehr Erstaunliches war geschehen: Nun hatte mit einem Mal jeder das Recht, unsterblich werden zu dürfen, nicht mehr nur der Pharao. Die Unsterblichkeit war demokratisiert worden.

Dieses Muster, das wir heute Demokratisierung nennen, hat sich in immer neuen Abwandlungen entfaltet, sei es, dass die Bibel gegen den Willen des Klerus für alle verständlich aus dem Lateinischen übersetzt worden ist, sei es, dass die Aristokratie abgeschafft wurde. Und immer hatten – und haben – diese Übergänge damit zu tun, dass Macht, Möglichkeiten und Wissen von ein paar Wenigen auf möglichst Viele verteilt werden und dass die Gesellschaft sich öffnet.

In der nordischen Mythologie flüstern Raben alles, was auf der Welt vorgeht, exklusiv dem Gott Wotan ins Ohr. Diesen Einflüsterungen können inzwischen – den modernen Medien sei Dank – alle lauschen. Und was einst mit dem Telefonnetz begann, hat jetzt mit dem Internet eine neue Dimension erreicht: Dialog, Debatte und interaktiver Austausch. Als sich in den achtziger Jahren das Usenet – das “Netzwerk der Nutzer” – auszubreiten begann, entfaltete sich die neue virtuelle Welt auch als eine Projektionsfläche für gesellschaftliche Utopien. Frei und ohne Zäune sollte die neue Welt sein, eine Einladung für den Gemeinsinn. Nun gab es eine Alternative zur medialen politischen Frontalbeschallung: Erstmals sprachen die Vielen zu den Vielen.

Aber das will gelernt sein – und dieser Lernprozess dauert an. Zwischen den Verheißungen freier Meinungsäußerung und dem, was dann in der Realität stattfindet (oder eben nicht), öffnet sich nach wie vor eine erstaunliche Kluft. Und es sind nicht nur Politiker, die das Verlautbaren gewohnt sind, oder behördliche Abwehrtechniken wie “Dann drücken Sie bitte die Sieben”-Dialogsysteme. Auch Journalisten haben oft ihre liebe Not mit dem, was passiert, wenn freie Meinungsäußerung auch tatsächlich stattfindet – nicht mehr nur handverlesen auf Leserbriefseiten oder in repräsentativen Debatten, an denen ein paar ausgewählte Talkgäste teilnehmen, sondern sozusagen unrasiert in Kommentarspalten, Online-Foren, auf Twitter oder dem Facebook-Livestream.

Das Internet schenkt heute vielen ein Gefühl federleichter Beweglichkeit und schwindender Entfernung. Manchen erscheinen die politischen Gefüge, deren Grenzen das Web so leichthin überschreitet, bereits als Anachronismus. Sie wollen, dass die Nationalstaaten verschwinden, von denen im Lauf der Geschichte schon so viel Unheil ausgegangen ist. Ein Weltstaat, so die Vision, würde den Planeten von der Bürde des Kriegs befreien und enorme kulturelle und wirtschaftliche Kräfte freimachen.

Aber: “Small is beautiful” – ich bin mir sicher, dass dieser von dem österreichischen Philosophen Leopold Kohr geprägte Begriff nichts an Aktualität verlorenhat. Im September 1941 schrieb Kohr in der amerikanischen Zeitschrift “The Commonweal” einen bemerkenswerten Aufsatz: “Einigung durch Teilung. Gegen nationalen Wahn, für ein Europa der Kantone”. Darin kommt er zu dem Schluss, dass Demokratie sich nur in kleinen Einheiten entfalten kann. “Das”, schrieb Kohr, “ist natürlich eine lächerliche Idee, orientiert allein an dem Menschen als einem lebendigen, geistigen Individuum. Welteinigungspläne dagegen sind todernste Vorhaben und auf einen Menschen zugeschnitten, den man sich nur als kollektives Wesen vorstellt.”

Eine solche Gesellschaftsform – genauer gesagt: solche Gesellschaftsformen, die wegen ihrer beabsichtigten Kleinteiligkeit naturgemäß etwas mühevoller zu betreiben sind, sind wie gemacht für das Internet. Und sie können auch ein Modell abgeben für andere große Systeme, deren Demokratisierung erst noch bevorsteht – beispielsweise Google. Im Internetzeitalter wünscht man sich den Staat als eine Einrichtung, die das Individuum stärkt. Die Technik ist schon da, die Politik erst zu Teilen.

Was Gemeinschaftsgeist in einer vernetzten Welt bedeutet, beschreibt eine kleine Geschichte aus dem britischen Guardian. William Lyttle, den die Nachbarn den Maulwurfmann nennen, gräbt seit von seinem Haus im Londoner Stadtteil Hackney aus seit den späten sechziger Jahren Tunnel. Er vernetzt den Untergrund. Behördliche Messungen mit Ultraschallscannern gaben Hinweise auf bis zu acht Meter tiefe Tunnels, die in alle Richtungen ausstrahlen. Lyttle behauptet, er habe sich ursprünglich einen Weinkeller graben wollen, der im Lauf der Zeit etwas größer geworden sei. Vor fünf Jahren war der Gehsteig vor dem Haus eingebrochen. “Man konnte die ganzen Tunnel darunter sehen”, sagt eine Nachbarin. Und ein Nachbar bringt zum Ausdruck, was Briten für Menschen wie William Lyttle empfinden: “Wir möchten nicht, dass diesem Mann etwas Böses geschieht. Er arbeitet hart. Bedauerlicher Weise setzt er seine Energien nicht in die richtige Richtung ein.”

In einem solchen vernetzten Staat möchte ich leben.

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Dieser Beitrag erschien zuerst im Push-Magazin der CeBIT. Crosspost mit freundlicher Genehmigung des Autors.

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