von Thomas Straubhaar, 21.9.09
1. Die Ausgangslage
Die Fakten sprechen eine klare Sprache. Die neue Bundesregierung steht vor großen Aufgaben. Deutschland leidet unter den kostspieligen Folgen der schwersten Rezession der Nachkriegszeit. Die Wirtschaft wächst zwar wieder, aber nur langsam. Das Bruttoinlandprodukt dürfte nach einem Minus von rund fünf Prozent in diesem Jahr in 2010 bestenfalls um ein Prozent, realistischerweise aber eher schwächer wachsen. Das ist zu wenig, um die beiden wichtigsten Herausforderungen der kommenden Legislatur zu bewältigen: Beschäftigung und Staatsverschuldung.
Selbst wenn die Konjunktur ihren Tiefstpunkt mittlerweile hinter sich haben dürfte, wird der Beschäftigungsabbau noch bis zum nächsten Frühling weitergehen. Zunächst schleichend und tropfenweise verschwinden hier und dort einzelne Jobs. Auslaufende Verträge werden nicht verlängert, Zeitarbeitsverhältnisse nicht erneuert. Freiwillig ausscheidende und in Ruhestand oder Elternschaft gehende Mitarbeiterinnen werden nicht ersetzt. Kurzarbeit ist von rund 200.000 Betroffenen im Vorjahr im Juni 2009 auf gut 1,4 Millionen hoch geschnellt. Noch aber hat die Wirtschaftskrise die Maße der Bevölkerung nur am Rande getroffen.
Das wird sich im kommenden Winterhalbjahr ändern. Weitere Firmenpleiten werden folgen. Wenn neben der schwachen Konjunktur und den strukturellen Problemen einzelner Branchen noch der saisonale Beschäftigungsrückgang wirken werden, wird die Arbeitslosigkeit stark nach oben gehen und deutlich jenseits der vier Millionengrenze liegen. Das wird nicht nur die Stimmung trüben. Es wird auch das ohnehin bereits drängende Verschuldungsproblem der öffentlichen Haushalte noch einmal verschärfen. Denn eine steigende Arbeitslosigkeit bedeutet für den Staat höhere Sozialausgaben und geringere Steuereinnahmen.
Die große Koalition hinterlässt der Nachfolgeregierung nicht nur rekordhohe Staatsdefizite. Sie hat auch eine Schuldendynamik ins Rollen gebracht, die noch während Jahren die staatlichen Handlungsspielräume begrenzen wird. In den fünf Jahren von 2009 bis 2013 dürfte die Nettoneuverschuldung von Bund, Ländern und Gemeinden insgesamt mehrere hundert Milliarden Euro betragen. Die Staatsschuld wird damit auf über 2 Billionen Euro steigen. Sie steigt von 66% des Bruttoinlandproduktes im letzten Jahr auf weit mehr als 70% in diesem und auf gegen 80% im nächsten Jahr. Das wird auch die Schuldzinsen nach oben treiben. Heute bereits belaufen sich die jährlichen Zinslasten von Bund, Ländern und Gemeinden auf insgesamt rund 67 Milliarden Euro. Das sind immerhin jeden Tag mehr als 180.000 Euro. Wie viele Kindergartenplätze, kostenlose Schulmahlzeiten und Ganztagesschulen ließen sich davon finanzieren?
2. Agenda 2020: keine Aussicht auf Erfolg
Angesichts der Dramatik der Wirtschaftskrise und ihren Folgen würde man von einer neuen Bundesregierung eine Agenda 2020 erwarten, die nachhaltige Wege zu mehr Wachstum, damit zu mehr Beschäftigung und weniger Schulden weist. Eine Agenda 2020 müsste darauf gerichtet sein, Beschäftigungshindernisse zu beseitigen, dynamische Wachstumsimpulse zu stimulieren und Veränderungskräfte zu entfesseln. Sie sollte Innovationen fördern, Investitionen anregen sowie Forschung und Bildung zum zentralen Thema einer neuen Legislatur machen. Nur so ließe sich jenes nachhaltige starke Wachstum erzeugen, das auch für mehr neue Beschäftigung sorgen würde.
Weil alle wirtschaftshistorische Erfahrung eindeutig zeigt, dass Innovation und Wachstum in einem Umfeld erfolgreicher gedeihen, das auf Wettbewerb und Marktwirtschaft statt Plan- und Staatswirtschaft setzt, müsste die Agenda 2020 eine Fortschreibung der von rot-grün auf den Weg gebrachten Agenda 2010 sein. Sie wäre ein Wirtschaftsprogramm, das nach vorne gerichtet, die Strukturen tief greifend verändert, auf Eigenverantwortung basiert, das Steuersystem radikal vereinfacht, die Sozialsysteme individualisiert, den Arbeitsmarkt liberalisiert, den Kündigungsschutz durch Abfindungsregeln ersetzt, das Gesundheitssystem auf eine Kopfprämie umstellt und die Daseinsvorsorge weiter privatisiert. Die Agenda 2020 wäre die aktualisierte Neuauflage des schnörkellosen, radikalen, marktwirtschaftlich orientierten (Leipziger-)Wahlprogramms 2005 der christlichsozialen Kanzlerkandidatin Angela Merkel und damit eine sehr rasch konsensfähige Plattform für eine schwarz-gelbe Regierungskoalition.
Allein, zu einer marktorientierten Agenda 2020 wird es in keinem Falle kommen. Dafür spricht nicht nur die traumatische Erfahrung der Bundeskanzlerin mit dem Wahlergebnis von 2005. Ebenso schlechte Erinnerungen hat auch der SPD- Kanzlerkandidat gemacht, der als einer der Väter der Agenda 2010 hautnah erleben musste, wie Teile seiner eigenen Partei auf Distanz zu Reform und Veränderung gingen. Viel stärker noch als 2005 gibt es 2009 für einen marktwirtschaftlichen Kurs keine Zustimmung und schon gar keine politische Mehrheit. Das gilt selbst dann, wenn es zu einer schwarz-gelben Koalition kommen sollte. Sie wird stärker das Soziale bedienen müssen und nur am Rande das Liberale als Leitmotiv verfolgen können. Das ist die unmittelbare Konsequenz der Finanzmarktkrise und deren Folgen.
3. Kompromisse statt Konflikte
Der Zusammenbruch der Finanzmärkte und die Notwendigkeit staatlicher Rettungsprogramme haben das in Deutschland ohnehin weit verbreitete Misstrauen gegenüber der Marktwirtschaft weiter genährt. Zu offensichtlich ist zu oft bei zu vielen Anlegern, Aktionären und Vorständen der schnelle Gewinn zur moralischen Triebfeder geworden, hat kurzfristige Gier das Handeln bestimmt und ist auf der Strecke geblieben, was sich nur langfristig bezahlt macht. Das Vertrauen in das freie Spiel der Marktkräfte, in die schöpferische, wenn auch zerstörerische Entdeckungskraft des Wettbewerbs und in die moralische Integrität von Managern und Aufsichtsbehörden ist für lange Zeit in Frage gestellt worden. Die breite Öffentlichkeit ist der festen Überzeugung, dass die in den letzten Jahren von Regulierungen befreiten Märkte wieder an staatliche Fesseln zu ketten seien. Es gehe um eine Zähmung des Kasino-Kapitalismus und eine „Zivilisierung“ der Finanzmärkte.
Das zum Allgemeingut der politischen Diskussion verkommene Banker-Bashing oder die von vielen akzeptierte und von manchen mit Schadenfreude gebilligte Geiselhaft von Vorständen sind nur die Spitze eines Eisbergs, der veranschaulicht, wie frostig das Klima zwischen „oben“ und „unten“ geworden ist und wie Frustration, Neid, Ohnmacht und Angst unter der Oberfläche weitere und zunehmende soziale Spannungen erzeugen. In dieser auffrischenden Kältezeit wider den Kapitalismus muss jede marktwirtschaftliche Maximalforderung Schiffbruch erleiden, die nicht zumindest gleich- wenn nicht sogar vorrangig die sozial gefühlte Gerechtigkeit mit berücksichtigt. Eine Agenda 2020 passt in einem solchen Umfeld nicht in die sozioökonomische Landschaft. Für eine neue Bundesregierung kann es deshalb nur darum gehen, das Vertrauen in eine durch Eigenverantwortung und Selbstbestimmung geprägte Marktwirtschaft zurückzugewinnen. Sie darf nicht polarisieren. Sie sollte nach Kompromissen statt Konflikten suchen.
4. Sanierung der Staatshaushalte
Akzeptiert man die nüchterne, mehr pragmatische und weniger ideologische Ausgangslage, dann ist es offenbar schlicht nicht die Zeit der großen wirtschaftspolitischen Zukunftsagenden. Für eine neue Bundesregierung kann es somit lediglich darum gehen, möglichst breite Konsens-Plattformen zu verankern, die einerseits ökonomisch zumindest in die richtige Richtung gehen und andererseits auch den in der breiten Öffentlichkeit tiefverankerten Wunsch nach Gleichheit nicht ignorieren. Weil sich bekanntlich alles ums Geld dreht und alle wirtschaftspolitischen Weichenstellungen von der Finanzierung abhängig sind, stehen somit die öffentlichen Haushalte im Zentrum.
Wie sollen die ausufernde Staatsverschuldung eingedämmt sowie Staatsausgaben und Staatseinnahmen in ein Gleichgewicht gebracht werden, um enorme Belastungen für kommende Generationen zu verringern und politische Handlungsspielräume zurückzugewinnen? Die Theorie ist einfach, die Praxis jedoch ist viel schwieriger.
Erstens könnten die Staatsausgaben resolut gekürzt werden. Was ökonomisch durchaus sinnvoll wäre, ist politisch nur begrenzt durchsetzbar.
Zweitens müssten die Steuereinnahmen erhöht werden. Wer aber in einer so starken Rezession wie heute die Steuersätze anhebt, wird weniger und nicht mehr Steuereinnahmen ernten. Es ist und bleibt eine tragische Illusion zu glauben, Steuererhöhungen würden der Königsweg sein, um den Staatshaushalt ins Gleichgewicht zu bringen. Eher ist das Gegenteil möglich: Höhere individuelle Steuerbelastungen fördern vielfältige Formen legaler Steuerumgehung und auch die illegale Steuerflucht. Sie schwächen die private Kaufkraft und führen zu Konsum- sowie Investitionszurückhaltung. Gerade in Zeiten der Unsicherheit braucht es mehr und nicht weniger Geld in den Taschen der Bevölkerung – und zwar bei Arbeitnehmer(inne)n wie auch bei Selbständigen und Unternehmer(inne)n.
Drittens besteht der schönste Weg des Schuldenabbaus in einer raschen Rückkehr auf einen steilen Wachstumspfad. Es kann dann gelingen, aus der Staatsverschuldung herauszuwachsen. Boomt die Wirtschaft, sprudeln die Steuereinnahmen. Sozialleistungen und Subventionen können zurückgefahren werden. Für die kurze Frist ist die Hoffnung auf ein starkes Wachstum jedoch wenig realistisch. Viertens schließlich sind hohe Inflationsraten kurzfristig der einfachste Weg, Staatsschulden zu beseitigen. Das politisch so süße Gift ist langfristig jedoch ein zu teuerer Weg des Schuldenabbaus. Zudem wird die Geldpolitik in Frankfurt für den Euroraum insgesamt bestimmt und nicht in Berlin von der Bundesregierung.
5. Eine große Steuerreform hat höchste Priorität
Werden die vier Wege aus der Schuldenmisere gebündelt und das ökonomisch Wünschbare dem politische Machbaren gegenüber gestellt, wird klar, dass sich die dramatische Überschuldung der öffentlichen Haushalte nicht durch eine kosmetische Drehung an einzelnen Stellschrauben korrigieren lässt. Es wird nicht ohne eine ganz grundlegende Steuerreform gehen, die am besten gleich zu Beginn auf den Weg zu bringen ist. Sie muss gleichermaßen Beschäftigungs- wie Wachstumsziele verfolgen und die Gerechtigkeitsgefühle nicht aus dem Auge verlieren. Zudem muss sie kompromissfähig sein für eine wie auch immer zusammengesetzte Koalition von zwei oder mehreren Parteien. Eine Steuerreform, die sich von der Grundidee leiten lässt, dass es um Vereinfachung, Verbreiterung der Steuerbasis und Verringerung der individuellen Steuerbelastung geht, erfüllt genau diese Forderungen. Sie soll weg von direkten und hin zu indirekten Steuern sowie weg von abgaben- und hin zu steuerfinanzierten Sozialsystemen. Damit erlaubt sie Konsens im Grundsatz und Kompromisse bei der quantitativen Festlegung von Steuerfreibetrag, Eingangs- und Spitzensteuersätzen.
Der erste Schritt: von direkten zu indirekten Steuern
Der erste Schritt einer großen Steuerreform sollte auf eine Abkehr von direkten Einkommens- oder Unternehmenssteuern und eine Hinwendung zu indirekten Steuern, also insbesondere zu Mehrwert- und Verbrauchssteuern ausgerichtet sein. Dadurch wird die hiesige Wertschöpfung steuerlich entlastet. Das macht deutsche Güter und Dienstleistungen im In- wie auch im Ausland billiger und damit international wettbewerbsfähiger. Positive Wachstums- und Beschäftigungseffekte sind die Folge. Sie spülen automatisch mehr Steuereinnahmen in die öffentlichen Kassen.
Zur Abkehr von direkten Einkommenssteuern gehören eine Anhebung des Steuerfreibetrags pro Kopf, die Abschaffung der kalten Progression und ein Übergang zu einem Stufenmodell mit drei unterschiedlichen Steuersätzen: einem tiefen Steuersatz für Geringverdiener, einem mittleren für mittlere und einem hohen für höhere Einkommensgruppen. Wie hoch die Steuersätze in der Praxis konkret sein und für welche Einkommensgruppen sie genau gelten sollen, müsste das Ergebnis der zu führenden Koalitionsverhandlungen sein. Dabei ist selbstredend offensichtlich, dass die Festlegung davon abhängig ist, welche Aufgaben dem Staat übertragen werden, wie weit die Umverteilung gehen und welches Volumen die Staatsaufgaben demzufolge haben sollen.
Die Regel ist einfach: je mehr vom Staat erwartet wird, desto höher muss die Steuerbelastung werden. Und das wiederum muss mit den Wachstums- und Beschäftigungseffekten abgewogen werden, die mit einer direkten Besteuerung verbunden sind: je höher die steuerliche Belastung der Einkommen, desto unattraktiver wird es, gering entlöhnte Arbeit anzunehmen und desto größer ist die Versuchung, von staatlicher Unterstützung – vielleicht noch gepaart mit Einkünften aus Schwarzarbeit – zu leben. Dazu kommt, dass bei einer zu starken individuellen Steuerlast Besserverdienende und Unternehmenssitze innerhalb des europäischen Binnenmarktes in jene Länder ausweichen können, die direkte Steuersätze senken und Gewinne überhaupt nicht mehr oder nur sehr gering besteuern.
Richtig ist, dass eine Hinwendung zu höheren Mehrwertsteuersätzen sozialpolitisch blind ist. Sie trifft alle gleich und nimmt keine Rücksicht auf die Leistungsfähigkeit der Betroffenen. Die Mehrwertsteuer besteuert, wer konsumiert. Sie wirkt regressiv. Weil Ärmere einen relativ größeren Teil ihres Einkommens zum Kauf von Gütern des täglichen Verbrauchs ausgeben müssen als gut Verdienende oder Reiche, ist die Mehrwertsteuer ungerecht. Die Mehrwertsteuer auf Babywindeln ist für die Professorenfamilie kaum spürbar. Für die alleinerziehende, arbeitslose Mutter ist sie eine zusätzliche Last. Also beginnt der Staat einzelne Konsumgüter von der Mehrwertsteuer teils oder vollständig zu befreien. Mieten, Dienstleistungen von Ärzten und Krankenhäusern, Ausgaben für Theater-, Konzert- und Museumsbesuche sind Mehrwertsteuer frei. Für Nahrungsmittel, Personennahverkehr, Bücher, Zeitungen, Zeitschriften und nicht in Flaschen verkauftes Wasser gilt ein ermäßigter Mehrwertsteuersatz von 7%. So gut so recht.
Was aber gut gemeint ist, muss noch nicht gut gemacht sein. Wie oft wohl die alleinerziehende, arbeitslose Mutter im Stadttheater oder bei den Bayreuther Festspielen in der Loge sitzt? Ob wohl Katzenfutter wirklich ein zu subventionierendes Nahrungsmittel ist? Sollen wirklich alle Freizeit-, Computer- und Regenbogen-Zeitschriften steuerlich begünstigt werden? Von der Befreiung oder dem ermäßigten Mehrwertsteuersatz profitiert die Professorenfamilie eben genauso wie die alleinerziehende arbeitslose Mutter. Wäre es da nicht klüger, alle den vollen Mehrwertsteuersatz entrichten zu lassen und dafür den sozial Schwächeren als Kompensation direkt mehr Geld in Form höherer Transferzahlungen zu geben oder höhere Steuerfreibeträge pro Kopf der Familie festzuschreiben? Dann könnten sich alle selber lieb sein, wofür genau sie ihr Geld ausgeben.
Daraus folgt eines klar: Die sozialpolitische Blindheit der Mehrwertsteuer muss durch gezielte direkte Hilfen an einkommensschwache Haushalte korrigiert werden. Höhere Freibeträge pro Kopf bei den direkten Steuern sind eine zielgenaue Entlastung, die genau jenen besonders hilft, die durch die Mehrwertsteuer besonders belastet werden. Wer die Gerechtigkeit im Auge hat, soll den Armen und Schwachen der Gesellschaft direkt helfen. Er soll das Arbeitslosengeld anheben, für qualitativ gute und trotzdem billige Kindertagesstätten, Ganztagesschulen mit kostenlosem Mittagessen und qualifizierter Aufgabenhilfe sorgen, den Arbeitsmarkt flexibilisieren, so dass viele Menschen möglichst rasch eine Beschäftigung finden. Sozialhilfe bis hin zu einem Bürgergeld für alle wirkt dort am stärksten, wo die Not am größten ist. Sie sind ökonomisch die besseren Antworten, als der Versuch, mit einer tiefen oder gar einer ermäßigten Mehrwertsteuer Sozialpolitik betreiben zu wollen.
Eine Anhebung der Mehrwertsteuer von heute 19% auf 25% würde vieles teurer machen. Die Konsumlust würde geringer. Deshalb darf diese Maßnahme nicht isoliert getroffen werden. Sonst ist sie für die noch schwache Konjunktur das reine Gift. Sie kann nur bei gleichzeitiger Entlastung bei den direkten Steuern erfolgen. Eine Mehrwertsteuererhöhung um sechs Prozentpunkte würde erlauben, die direkten Steuern und Abgaben zu senken. Noch einmal: der sozialen Ausgewogenheit wegen spricht nichts dagegen, die direkten Transfers an die Ärmsten zu erhöhen und die Steuerfreibeträge nach oben zu setzen.
Die Verschiebung von der direkten zur indirekten Steuererhebung ist kein Nullsummenspiel. Der erhöhte Mehrwertsteuersatz verlangt keinen bürokratischen Zusatzaufwand. Vollzug und Erhebung sind relativ einfach zu handhaben und relativ schwer zu umgehen. Die Mehrwertsteuererhöhung hat keinen Einfluss auf die Exportpreise. Sie wird auch von allen Touristen mitgetragen. Vor allem aber wird es für viele Deutsche und vielleicht sogar auch für den einen oder anderen Ausländer attraktiver werden, den Steuersitz in Deutschland zu haben. Die Devise für ein neues, einfaches, transparentes, gerechtes Steuermodell für Deutschland muss also heißen hoch mit den Mehrwertsteuersätzen, runter mit den direkten Steuersätzen, weg mit den indirekten Hilfen, Subventionen und Privilegien dafür hin zu direkten Unterstützungszahlungen an all jene, die wirklich Hilfe nötig haben.
Der zweite Schritt: Lohnnebenkostensenkung
Der zweite Eckpfeiler einer großen Steuerreform müsste den seit Anfang der 1990er Jahre bereits eingeschlagenen Pfad beschleunigt weiter beschreiten und konsequent eine weitergehende Abkehr von einer Finanzierung der Sozialversicherungssysteme über Lohnnebenkosten hin zu einer Steuerfinanzierung anstreben. Denn heute wird jede Arbeitsstunde mit zusätzlichen Abgaben von fast 40% in Form der Lohnnebenkosten belastet. Die Lohnnebenkosten verteuern einseitig Arbeit, so dass selbst dort Automaten eingesetzt werden, wo Menschen genau so gut die Aufgaben erledigen könnten. Kein Wunder, wird automatisiert und werden teure Arbeitskräfte durch billigere Maschinen ersetzt. Kein Wunder, ist für viele Tätigkeit die Schwarzarbeit attraktiv. Kein Wunder, werden arbeitsintensive Produktionsprozesse ins Ausland verlagert.
Ausgerechnet der Faktor Arbeit trägt über die Lohnnebenkosten die Hauptlast der Alters-, der Kranken- und der Pflegeversicherung. Die Abgaben für die Sozialversicherungen sind eine Beschäftigungsbremse – vor allem im Bereich der gering qualifizierten Tätigkeiten. Sie wirken wie eine Strafsteuer auf Arbeit. Sie treiben einen Keil zwischen Brutto- und Nettoeinkommen. Der Keil hat sich in den 1990er Jahren gewaltig verbreitert – nicht zuletzt, weil die deutsche Wiedervereinigung in hohem Masse über die Sozialversicherungssysteme finanziert worden ist.
Wenn brutto und netto derart stark auseinander klaffen, steigen die Anreize zu Schattenwirtschaft und sinken die Abstände zwischen dem was am Ende eines Monats durch harte Arbeit übrig bleibt und dem, was vom Sozialamt ausbezahlt wird. Gerade im Niedriglohnbereich nimmt so die Bereitschaft ab, schlechter bezahlte Jobs anzunehmen. Zu oft ist die Kombination von Arbeitslosengeld und Schwarzarbeit attraktiver als ein reguläres Beschäftigungsverhältnis.
Alles was hilft, die Lohnnebenkosten zu senken, hilft der legalen Beschäftigung. Jeder Prozentpunkt weniger bedeutet, Arbeit billiger und damit wettbewerbsfähiger zu machen – nicht nur gegenüber den Konkurrenten im Ausland, sondern auch gegenüber den Maschinen in Deutschland. Eine Senkung der Lohnnebenkosten muss also zuoberst auf der wirtschaftspolitischen Agenda einer neuen Bundesregierung stehen. Kapitaleinkommen, Zinserträge, Mieteinnahmen und eben auch die Mehrwertsteuereinnahmen sollen einen höheren Beitrag zur Finanzierung der Sozialversicherungen leisten, was sie übrigens de facto in steigendem Ausmaße auch bereits längstens tun, weil die Defizite der Sozialversicherungssysteme zunehmend aus dem Staatshaushalt finanziert werden.
Der dritte Schritt: Mindestsicherung statt Mindestlohn
Eine pragmatische, konsensorientierte Steuerreform müsste drittens die sozialpolitische Forderung nach Mindestlöhnen durch die Gewährung einer Mindestsicherung aufgreifen. Es gibt bestens bekannte, mehrfach erläuterte und immer wieder vorgetragene gute ökonomische Gründe, die schlüssig und überzeugend gegen Mindestlöhne sprechen. Aber offensichtlich sind die politischen Entscheidungsträger nicht willens, sich die klugen ökonomischen Argumente zu Eigen zu machen. Scheinbar überwiegt bei Ihnen die Überzeugung, dass sich mit einer Position für den Mindestlohn mehr Wählerstimmen gewinnen lassen als mit einer Position gegen den Mindestlohn. Und ebenso offensichtlich liegen sie mit dieser Einschätzung in der politischen Wirklichkeit nicht daneben.
Eine überragende Mehrheit der Deutschen plädiert bei Meinungsumfragen für und nicht gegen Mindestlöhne. Die Angst, durch Arbeit nicht genug für die Finanzierung des Lebensunterhalts verdienen zu können, belastet viele Deutsche. Selbst jene, die gut verdienen, sind sich nicht so recht im Klaren, wie lange sie sich ihres Jobs noch sicher sein können. Also schielen auch sie insgeheim auf Mindestlöhne, um im Falle eines Falles nicht ins Bodenlose zu fallen. Gegenüber diesen Sorgen helfen gute ökonomische Hinweise auf die beschäftigungszerstörenden Wirkungen von Mindestlöhnen offenbar wenig.
Wenn es nicht so sehr eine Frage der ökonomischen Rationalität, sondern viel eher eine Frage des polit- ökonomischen Spannungsfeldes ist, das politische Entscheidungsträger für und nicht gegen Mindestlöhne stimmen lässt, kann die Antwort nicht die Forderung nach einer first- best-Lösung (also einem Verzicht auf Mindestlöhne) liegen, sondern in der Suche nach second-best-Lösungen. Eine offensichtliche Second-Best-Lösung wäre die Akzeptanz eines Mindestlohnes auf geringem Niveau. Sie dürfte auf erheblichen politischen Widerstand stoßen.
Eine andere Second-Best- Lösung besteht darin, den politischen Fokus weg von einem Mindestlohn und hin zu einer Mindestsicherung zu verlagern. Wer diesen zweiten Weg einschlägt, begibt sich auf die Diskussionsebene, die im weitesten Sinne mit der Forderung nach einem Grundeinkommen endet. Dabei ist das Grundeinkommen nichts anderes als ein Steuerfreibetrag in Höhe des Existenzminimums – so wie er bereits heute in Deutschland allen gewährt werden muss.
Die Forderung nach einem Grundeinkommen als Mindestsicherung für alle ist ein pragmatischer Kompromiss. Er schlägt der polit-ökonomischen Bewegung für einen Mindestlohn das Argument aus der Hand, ein Mindestlohn sei erforderlich, um „arm durch Arbeit“ zu verhindern. Wer sicher ist, dass ein Misserfolg nicht zu einem bodenlosen Fall in Not und Armut führt, wird mehr wagen. Wer weiß, dass, was immer auch geschieht, das Existenzminimum gesichert ist, wird kommende Herausforderungen eher als Chance und weniger als Bedrohung bewerten und rascher zu unverzichtbaren Veränderungen bereit sein.
Die Versicherungsökonomie zeigt überzeugend, dass eine individuelle Mindestsicherung positive gesamtwirtschaftliche Effekte auslöst. Hierin liegt die Rechtfertigung für Pflichtversicherungen, beispielsweise einer Kfz-Haftpflichtversicherung oder einer Kranken- und Unfallversicherung. Hierin liegen auch gute ökonomische Gründe für eine staatliche Sozialpolitik, die dem Ziel dient, allen Staatsangehörigen das Existenzminimum zu sichern. Dafür sprechen auch Erkenntnisse aus der Sozialökonomie, die zeigen, dass in einem Land, in dem die Verteilung der Einkommen als einigermaßen gerecht empfunden wird, das wirtschaftliche Wachstum stärker ist.
Festzulegen ist eine Mindestsicherung für alle – wie sie faktisch in Deutschland natürlich durch das Arbeitslosengeld II und die Sozialhilfe für nicht Erwerbsfähige bereits besteht. Und hier zeigt sich, wie kompromissfähig die Idee einer Mindestsicherung gerade für Koalitionen ist, die mehrere Parteien in die Regierungsverantwortung einbinden müssen. Haben sich die Parteien einmal auf die Grundsatzentscheidung für ein Grundeinkommen geeinigt, ist die Festlegung der Höhe eine Frage der politischen Präferenzen. Dabei gilt ein äusserst einfacher ökonomischer Zusammenhang: Ein hohes Grundeinkommen bedingt hohe Steuersätze, ein niedriges Grundeinkommen ermöglicht tiefe Steuersätze. Hohes Grundeinkommen und hohe Steuersätze verringern den Anreiz zu arbeiten, tiefes Grundeinkommen und tiefe Steuersätze verstärken den Anreiz zu arbeiten. Je höher der Anreiz zu arbeiten, um so einfacher wird das Grundeinkommen zu finanzieren sein, je geringer die Arbeitsanreize, um so weniger wird das Grundeinkommen finanzierbar sein.
Es mag sein, dass sich Parteien, um die Gunst des Publikums zu gewinnen, darin überbieten, das bedingungslose Grundeinkommen zu erhöhen. Das ist doch aber heute auch schon nicht anders, wenn es beispielsweise darum geht, das Existenzminimum zu definieren oder die Höhe der Sozialleistungen und Renten festzulegen. Die Auseinandersetzung mit normativ völlig unterschiedlichen Standpunkten gehört nun einmal zu einer Demokratie. Hier hilft nicht Gegenpolemik, sondern Aufklärung.
Es gilt, der Bevölkerung zu offenbaren, welche ökonomischen Folgen mit welcher politischen Wahlentscheidung verbunden sind, und welche Rückwirkungen sich daraus auf das individuelle Verhalten ergeben. Gerade aus direkt-demokratischen Entscheidungsprozessen, beispielsweise in der Schweiz, weiss man, dass sich Menschen von Populisten dann nicht verführen lassen, wenn ihnen klar gemacht wird, dass mit steigenden Ansprüchen an den Staat auch die Steuern und Abgaben angehoben werden müssen und es unklug ist, den Bogen der individuellen Steuer- und Abgabenbelastung so zu überspannen, dass er letztlich bricht. Wieso sollte es nicht auch in Deutschland einer neuen Bundesregierung möglich sein, der Bevölkerung diese einfache Logik zu vermitteln?
Dieser Beitrag erschien zuerst in der Reihe Policy Papers des HWWI.