#Boris Nemzow

Chaos im Kreml? Dieses Wochenende könnte entscheidend sein.

von and , 14.3.15

Seit Ende der Woche wird über die Gründe für das Abtauchen Wladimir Putins spekuliert. Freitagabend postete der Kreml-treue tschtschenische Präsident Ramsan Kadyrow auf Instagram „Ich werde Putin immer treu bleiben, egal ob er sein Amt behält oder nicht“. Ein Freudscher Versprecher? Was passiert hinter den Kulissen des Kreml? Ein Carta-Interview mit dem Russland-Experten Sergey Lagodinisky, Leiter des Referats Europäische Union / Nordamerika der Heinrich Böll-Stiftung.

 

Wie ist die Lage aktuell?

Sehr unübersichtlich. Jedenfalls besteht eine ziemlich hohe Wahrscheinlichkeit, dass wir am Montag in einer anderen Welt aufwachen werden. Ob sie besser sein wird ist noch ziemlich unklar. Dieses Wochenende könnte jedenfalls entscheidend sein…

 

Putin wurde bei uns bis zuletzt als innenpolitisch praktisch unantastbar beschrieben. Die internationale Isolation, die wirtschaftlichen Folgen der Sanktionen, der Mord an Boris Nemzow – all dies schien ihn nicht zu treffen. Wie schätzen Sie seine gegenwärtige Position ein?

Das liegt im Wesen von Systemen, die auf Verschmelzung zwischen Oligarchie und Sicherheitsapparat basieren. Putin ist nicht der Zar, er ist ein einflussreiches Staatsoberhaupt, welches das System zusammenhält. Darin liegt seine Bedeutung. Das wird in Russland auch relativ offen gesagt – Putin ist der Garant der Stabilität, wenn er gehe, werde es schlimmer werden. Das ist mittelbar die Bestätigung dafür, dass er das Gleichgewicht zwischen verschiedenen Kreisen zusammenhält. Die selbstverschuldete Wirtschaftsschwäche zusammen mit Sanktionen und politischem Druck von außen scheint ein Stresstest für das System zu sein. Egal, ob Putin wieder auftaucht oder nicht – wir erleben hier etwas, was wir sonst nur aus Sowjetzeiten kennen und was auf einen inneren Kampf oder einen radikalen Funktionswechsel des Systems hindeutet, ohne dass dieses System kollabiert. Beides halte ich für möglich.

 

Das Netz ist voller Gerüchte. Sie verfolgen die Lage intensiv. Was ist dran an den Berichten über Machtkampf im Kreml?

Die meisten Beobachter berichten von einem Kampf zwischen mindestens zwei Lagern in Kreml. Es war immer schon klar, dass es zumindest ansatzweise einen liberalen Lager und einen Hard-Liner-Lager gab. So erklärten auch einige, wie Informationsleaks, etwa über den bekannten Blogger Nawalny, stattfanden. Nun wird behauptet, dass Putin den Kampf nicht mehr aufhalten kann. Es wird auch nach Außen relativ deutlich kommuniziert – Putin ist nicht mehr präsent. Und jeder soll es auch vermuten vermuten – gegen seinen Willen.

 

Welche Szenarien sind aus Ihrer Sicht denkbar?

Erstens, ein Minimalprogramm, man könnte es auch „Kosmetik“ nennen: Es rollen ein paar Köpfe auf Ministerebene, eventuell der Innenminister, eventuell ein stellvertretender Premierminister, möglicherweise der Chefankläger. Das ist eine Version, die etwa Alexander Rahr schildert.

Das Maximalprogramm käme einem „Total make-over“ gleich. Putin wird – „aus gesundheitlichen Gründen“ – abgesetzt. Die Kontrolle erhalten die Sicherheitsapparatschiks. Einige vermuten, dass der Ukraine-Feldzug in der Ostukraine zurückgerollt wird, die Aggression der Bevölkerung in Richtung Tschetschenien kanalisiert wird. So argumentiert der russische Analytiker Gejdar Dschemal. Die Ermittlungen nach dem Tod Nemzovs gegen den Putin-ergebenen Präsidenten Tschetscheniens bereiten hierfür schon den fruchtbaren Boden. Hier könnte ein ganz kompliziertes „House of Cards“ gespielt werden. Die vorbereitende Kombination schildert der gut informierte russische Journalist Oleg Kaschin. Fest steht: Es gibt Unruhen in Russland und die GUS-Staaten könnte insgesamt destabilisiert werden.

 

Und die dritte Variante?

Das ist gewissermaßen der Bonustrack, oder auch „Karneval im Kreml“: Die ganze Unruhe und die ganzen Infos könnten bewusst in die Öffentlichkeit getragen werden. Am Montag sehen die Welt und Russland dann mit Erleichterung einen kerngesunden und tatkräftigen Putin. Es ist ja auch eine gute Ablenkung nach den schlimmen Schlagzeilen über den Mord an Nemzow. Wer redet noch über das Opfer Nemzow, wenn alle über das Opfer Putin Rätseln. Jetzt müssen wir nur noch abwarten, was davon Realität wird.

 

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