von Helmut Hartung, 1.4.10
Das Interview führt Juliane Gille mit dem Medienwissenschaftler Prof. Dr. Norbert Bolz für Helmut Hartungs medienpolitisches Fachmagazin promedia.
Herr Bolz, ist das Interesse der Menschen überall erreichbar zu sein und überall kommunizieren zu können wirklich so groß, wie immer behauptet wird?
Bolz: Diese Frage ist zweitrangig gegenüber dem viel wichtigeren Sachverhalt, dass generelle Erreichbarkeit und Mobilität erwartet wird. Es gibt eine Art sozialen Anschlusszwang an die neuen Medientechnologien, der jeden Einzelnen dazu zwingt überall und immer erreichbar zu sein. Jeder hat schon einmal die Erfahrung gemacht, dass er auf großes Befremden stößt, wenn er seine E-Mails einmal einen Tag lang nicht gelesen und beantwortet hat, oder telefonisch schwer erreichbar ist. Es geht um einen sozialen Standard, der sich unabhängig von Lust und Laune des Einzelnen durchsetzt.
Trifft das aber nicht nur auf eine kleinere Schicht beruflich geforderter, mobiler Menschen zu?
Man muss hier sicherlich sozial differenzieren. Es gibt eine leider wachsende Zahl der Bevölkerung, die sozial abgehängt sind und für die es keine dringende Notwendigkeit gibt, sich immer wieder in die Weltkommunikation einzuschalten. Es geht hier in der Tat vor allem um die Gruppe der gesellschaftlich und wirtschaftlich Produktiven. Man darf aber nicht vergessen, dass es außerhalb dieser Gruppe auch diejenigen gibt, die sich allein aus der Lust am Kommunizieren vielfach genau so verhalten. Gerade diese Gruppe – dazu zählen auch sehr viele Jugendliche – befeuern diese Entwicklung.
Wann werden die mobilen Endgeräte vollständig unser Leben prägen?
Sie werden eine zweite Natur werden – und sind es für viele schon längst geworden. Viele Menschen können sich ein Leben ohne diese Technologien schon heute nicht mehr vorstellen. Den Zustand der neuen Medien als zweiter Natur werden wir deshalb schon in sehr kurzer Zeit erreichen. Es war aber immer schon so, dass die Leitmedien einer Zeit die ganze Existenz in dieser Zeit geprägt haben. Das galt in der Gutenberg-Galaxis genauso wie in der Zeit des Radios und des Fernsehens. Wir sind immer in einer gewissen Weise Sklaven unserer Medien. Insofern wird der Widerstand gegen den Gebrauch des Neuen immer geringer, weshalb sich der Anpassungsprozess insgesamt beschleunigt.
Wird der Online-Exhibitionismus gebremst werden, wenn sich mit neuen Techniken auch private Informationen immer einfacher auffinden lassen?
Diese Frage wird von Ihnen vor dem Hintergrund der bürgerlichen Privatsphäre gestellt, aber mein Eindruck ist, dass immer mehr Menschen den besonderen Wert einer undurchdringlichen Privatsphäre gar nicht mehr nachvollziehen können. Es geht hier gar nicht so sehr um sozialen Exhibitionismus, sondern vor allem um soziale Gewohnheit. Man darf nicht vergessen, dass es nicht nur die „bösen“ Googles sind, die auf diesem Pfad wandern, sondern es ist unser eigener Staat, der ein wachsendes Interesse an allen privaten Informationen hat, etwa im Gesundheitsbereich. Das Interesse an Privatinformationen hat sehr viele Quellen und der Widerstand dagegen schrumpft, weil sich die Menschen nicht mehr als bürgerliche Privatiers verstehen.
Wird nicht auch in der Politik der Widerstand dagegen stärker, vielleicht als Spiegel des Widerstands in der Bevölkerung?
Einen Widerstand in der Bevölkerung kann ich leider nicht erkennen, auch wenn ich mich darüber freuen würde. Bei den Reaktionen der Politiker sehe ich hingegen zwei andere Motive: Zum einen herrscht hier eine Angst, die aus weitgehender Unkenntnis erwächst. Zum anderen würde sich das politische System gern selbst diese Daten vorbehalten und sieht hier eine private Konkurrenz, die ein staatliches Informationsmonopol bedroht. Ich bin aber nicht besonders optimistisch was die Nachhaltigkeit dieses Schutzinteresses betrifft und sehe es eher als Nachhutgefecht. Es ist kein Griff nach der Notbremse im rasend schnellen Zug.
Wenn das Leben des Einzelnen immer öffentlicher wird, wie ist dann noch eine individuelle Existenz möglich?
Diese Frage unterstellt, dass individuelle Existenz bisher ohne Weiteres möglich gewesen ist. Auf jeden Fall wird Individualität ein sehr viel anspruchsvolleres Konzept als in den Jahrzehnten, in denen wir sie rein konsumorientiert interpretiert haben. Auch dem traditionell bürgerlichen Sinn hat in der Realität kaum mehr jemand entsprochen. Die große Frage der Zukunft ist aber die nach der Zukunft unseres Begriffs von Freiheit, Liberalität und Individualität unter den neuen Medienbedingungen. Jeder Einzelne, der überhaupt noch ein Interesse an bürgerlicher Individualität hat, muss sich eine eigene Verteidigungsstrategie ausdenken.
Ist diese Individualität nicht ein Eckpfeiler der demokratischen Freiheit?
Sicher, allerdings muss man hier zwischen Demokratie und Freiheit unterscheiden, weil sich Demokratie leider sehr gut mit Unfreiheit verträgt. Das Interesse an Freiheit scheint mir in Deutschland nicht so stark entwickelt zu sein: Wie wenig ist aus den großen Zeichen der Geschichte 1989 geworden? Eigentlich hätte es ein Datum sein können, das den Stolz und die Emphase der Französischen Revolution haben könnte, aber fast nichts ist daraus geworden außer dem Jammern über Transferleistungen. Das Interesse an Freiheit ist in Deutschland immer sehr sekundär gewesen, gemessen an Dingen wir Sicherheit und Wohlfahrt.
Statt vom Web 2.0 sprechen einige inzwischen von Web 3.0 und Outernet. Kommt es wirklich zu einer Vermischung von realer und virtueller Welt?
Ich halte diese Frage für die wichtigste im Zusammenhang mit den neuen Medien. Früher hat man von Mensch-Maschine-Kommunikation und „Ubiquitous Computing“, d. h. dem allgegenwärtigen Computerisieren, gesprochen. Die moderne Technik wird gleichzeitig allgegenwärtig und doch unsichtbar. Die Komplexität der Technik wird in Kleidung, Gegenständen und Chips verschwinden, die man gar nicht mehr wahrnehmen muss. Sie setzen uns einem Datenstrom aus, der nun noch routinemäßig bewältigt werden kann. Es ist eine faszinierende Tatsache, dass Menschen offensichtlich keine Probleme darin haben, mit Computern zu kommunizieren, als wären es Personen. Mit Computern als soziale Agenten umzugehen ist scheinbar wesentlich einfacher als man es sich hätte träumen lassen. Meine Kollegin Knorr-Cetina spricht sogar von „Geselligkeit mit Objekten“ und meint damit genau diese Smart Objects.
Wodurch wird dann das Verhalten der Menschen gesteuert?
Das Verhalten der Menschen wird immer gesteuert vom Verhalten anderer Menschen. Die Frage ist, ob es noch Menschen mit größerem Einfluss gibt. Das sind die Leute, die heute diese Smart Objects programmieren. Vilém Flusser, der große Vereinfacher, hat gesagt, dass die Welt in Programmierer und Programmierte zerfällt. Ich finde diese simple These immer plausibler, je länger ich darüber nachdenke. Es macht den entscheidenden Unterschied, ob man Nutzer-Bürger-Kunde ist, oder zu denen gehört, die die virtuellen Welten entwerfen. Es wird gerade für die Jugendlichen immer mehr darauf ankommen auf die Seite der Programmierer zu gelangen.
Aber nur eine Minderheit der Gesellschaft kann Programmierer sein?
Bolz: So sieht es im Moment aus, es ist allerdings nicht ganz undenkbar, dass Programmieren einmal so selbstverständlich wird wie lesen und schreiben. Es ist eine Frage an die Pädagogik und das Selbstverständnis von Bildungsprozessen.
Es gibt die Gegenbewegung hin zu Entschleunigung und selektiver Kommunikation. Ist die skizzierte Entwicklung zwangsläufig?
Jeder Gegentrend gehört zum Trend selbst hinzu und widerlegt ihn nicht. Nur derjenige kann entschleunigen, der auch beschleunigen kann, und nur derjenige kann unerreichbar sein, der eigentlich immer erreichbar ist. Man sieht das sehr gut daran, dass es meistens die Bosse sind, die heute souverän und auch einmal unerreichbar sein können. Wenn man dagegen refraktär ist und sich einfach nur dagegen stellt, gehört man zu den Losern.
Wie wird sich in Zeiten des Outernets die Kommunikation entwickeln?
Kommunikation nimmt dort noch entschiedener die Stellung ein, die wir eigentlich schon kennen: den Vorrang der Computervermittelten Kommunikation vor der Faceto-face-Kommunikation. Das Outernet ist aber auch ein Zeichen dafür, dass das scheinbare Auseinanderfallen von virtueller Realität und realer Realität gar nicht unserer Zukunft entspricht, sondern es immer mehr zu Hybridformen kommt. Hybridität scheint mir ohnehin eines der großen Stichworte des 21. Jahrhunderts in allen Lebensbereichen zu sein: Statt entweder oder, beides zusammen.
Werden soziale Netzwerke zu den entscheidenden meinungsbildenden Organen?
Das glaube ich in jedem Fall, sie werden allerdings immer in Zusammenhang stehen mit den großen autoritativen Quellen. Es wird nach wie vor Regierungen geben, die offizielle Mitteilungen machen, und es wird weiterhin persönliche Autoritäten geben, die einen großen Einfluss auf eine Gemeinde nehmen. Auch die Internetkultur hat Gurus, etwa Steve Jobs. Das Internet ist nicht nur die radikaldemokratische Kollaboration der Netzwerke, sondern gerade wegen des Standards der Netzwerke wächst das Bedürfnis nach Leadership.
Welche Rolle spielen dann klassische Medien?
Es ist eine Frage der Generationen. Man kann in Schulen und Universitäten schon heute beobachten, dass die klassischen Massenmedien dort schon fast keine Rolle mehr spielen. Das Peer-Group-Prinzip über Netzwerke setzt sich dort immer mehr durch, so dass es eine Frage weniger Jahre ist, bis auch andere Formen der bürgerlichen Öffentlichkeit von diesen neuen Formen der Meinungsbildung wesentlich mitgeprägt werden. Die Politiker spüren heute sehr deutlich, dass sie in ihren alten Massenkommunikationskanälen keine relevanten Öffentlichkeiten mehr erreichen.
Soziale Netzwerke widmen sich mit großer Sachlichkeit vor allem Hobbys und Interessen. Wird es dann auch eine Hinwendungen zu Themen der Politik geben?
Ja, wobei man auch von einem Wandel des Politik-Begriffs ausgehen muss. Wir unterstellen heute, dass Politik das ist, was die Politiker interessiert. Das ist den Jugendlichen nicht mehr nahezubringen und man wird sich in Zukunft auch nicht via Internet für Bundestagsdebatten interessieren. Das wird die Leute immer langweilen. Die Politik bekommt eine neue Handfestigkeit, indem man sich etwa für lokale Probleme, aber auch für große Weltprobleme interessiert. Man möchte sich eine Meinung bilden, aber auch an Aktionen beteiligen.
Nehmen wir die aktuellen Beispiele Steuerreform und Gesundheitsreform. Wo wird so etwas künftig meinungsbildend diskutiert?
Man darf nicht vergessen, dass das Nicht-Teilnehmen an einer Diskussion auch einen Diskussionsbeitrag darstellt. Die Tatsache, dass sich gewisse Gruppen der Bevölkerung nicht an der Gesundheitsdiskussion beteiligten, kann man nicht per se als apolitisches Verhalten interpretieren. Man glaubt einfach nicht daran, dass in diesen politischen Diskussionen ein direkter Effekt erzeugt werden kann, sondern hält es für ein langweiliges Ritual. Das ist ein politisches Statement. Man darf unsere Standards des Wichtigen und Unwichtigen sicher nicht einfach auf die Internetkultur übertragen.
Gesundheitsversorgung und Altersversorgung sind aber Themen, die auch junge Leute interessieren müssten?
Was in zwanzig Jahren ist, lässt sich schlecht antizipieren. Die meisten Jugendlichen spüren, dass es irgendwie unrealistisch ist, wenn ihnen heute geraten wird, eine Riester-Rente abzuschließen, weil nicht abzusehen ist, was sich in 20 Jahren entwickeln wird. Denken Sie nur an die aktuelle Finanzkrise. Solche Sachverhalte kann man „spüren“ auch ohne große politologische Einsichten zu haben. Das politische Desinteresse hängt also nicht nur mit einer veränderten Mediennutzung zusammen, sondern steht für eine veränderte Sicht auf die Gesellschaft, die durch eine veränderte Mediennutzung begleitet wird.
Sie teilen auch nicht die Sorge, dass die Menschen im virtuellen Kommunikationsraum weiter vereinsamen?
Nein. Mir fällt es schon schwer anzunehmen, dass die Mehrheit der Menschen in hervorragend funktionierenden sozialen Beziehungen gestanden hätten und heute nun vereinsamen würden. Das stimmt für mich aus vielen Gründen nicht. Kommunikationstechnologien haben im Allgemeinen den umgekehrten Effekt, nämlich mehr Beziehungen herzustellen – gerade für Menschen, die sich in persönlichen Begegnungen nicht durchzusetzen wissen. Die Frage ist vielmehr, ob sich die Hoffnungen der Internetgemeinde erfüllen werden, dass es einen Schritt von der passiven zur aktiven Mediennutzung geben wird. Diese Frage muss man die Zeit beantworten lassen, die Sehnsucht danach und das Interesse daran sind jedenfalls gigantisch. Der Inhalt selbst wird dabei immer unwichtiger im Vergleich zu der Frage, ob man selbst teilhaben und aktiv werden kann. Man kann sich leicht lustig machen, über den Schrott, der dabei produziert wird, aber wir sollten als Beobachter die Tendenz ernst nehmen.
Wird die Mehrzahl der Menschen wirklich aktiv „mitmischen“ wollen?
Es wird hoffentlich nicht die Mehrzahl sein, denn die werden sehr schnell spüren, dass es relativ sinnlos ist Kommunikationsverhältnisse aufzubauen, bei denen es mehr Sender als Empfänger gibt. Letztlich sind es aber fundamental neue Verhältnisse: Es ist eine Kulturrevolution, wenn der Zugang zur Öffentlichkeit so sehr technisch und sozial erleichtert wird, dass es im Grunde überhaupt keine Gatekeeper mehr gibt. Das beunruhigt natürlich die etablierte Gesellschaft und die meisten, die sich kulturpessimistisch äußern, sind selbst Gatekeeper. Diese Entwicklung sollte man daher hoffnungsvoll betrachten und bis zum Beweis des Gegenteils werde ich das tun.
Wird es in Zeiten des Outernets noch reale Fußballspiele und reales Kino geben?
Mehr denn je. Gerade weil Virtuelles zum Alltagsstandard wird, wird es in Zukunft – man kann es aber heute schon sehen – ein wachsendes Interesse an realer Präsenz geben. Man kann jedes Musikstück als Podcast qualitativ viel hochwertiger hören als bei einem Konzert, aber die Leute gehen immer mehr in Konzerte, um die Akteure persönlich zu erleben. Was für die Stars gilt, gilt sogar für Wissenschaftler, deren Ergebnisse man selbst auf dem Smartphone lesen kann, aber trotzdem möchte man sie treffen. Die Sehnsucht nach realer Präsenz wird weiter anwachsen.
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Dieses Interview hat Juliane Gille für das medienpolitische Fachmagazin promedia geführt, das mit Carta kooperiert.
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