von Lena Reinhard, 17.4.11
Ich war dieses Jahr aus diversen, unumgänglichen Gründen nicht auf der re:publica. Leider. Nun hing ich also 3 Tage lang schluchzend vor meinem Monitor, hasste alle Tweets mit #rp11-Hashtag, guckte in freien Minuten den LiveStream und las alles, was zu kriegen war. Und es war viel zu kriegen. Insbesondere, nachdem der große Spuk vorbei war, alle Blogger wieder Wlan hatten zuhause waren und endlich Dampf ablassen konnten. Zum Beispiel über die “Digitale Gesellschaft“.
Ich möchte nachfolgend laut darüber und über einige Grundsatzfragen, nachdenken.
Prolog
Sascha Lobo. Man kann von ihm halten, was man will, ich halte jedenfalls nichts von frisurbasierten Vorverurteilungen, und da ich ihn nicht kenne, bin ich da recht neutral. Er schrieb vor Kurzem im Spiegel über Die Dagegen-Öffentlichkeit.
Er sprach mit dem Beitrag einen Punkt an, der mir ebenfalls schon länger auf die Nerven geht. Atomkraft? Finden bei Twitter und Facebook ja alle irgendwie blöd. Aber finden Sie da mal jemanden, der mit auf eine Demo geht. Oder nehmen Sie Vorratsdatenspeicherung, JMStV, Netzsperren etc. – es gibt zu den meisten Themen enorm viele, die dagegen sind. Dagegen sein ist so einfach, Dagegen lässt sich schnell in Polemik, Zynismus und Satire verpacken, bei Bedarf auf 140 Zeichen reduzieren, bums. Fertig. Genauso einfach ist es, mal schnell Argumente zu zerschießen. Ernsthafte Kritik ist da schon schwieriger, verlangt Konstruktivität, im Wortsinn: etwas aufzubauen, also Anstrengung, Nachdenken, Zeit und ein Auseinandersetzen mit dem Thema. Nun aber kommt Populismus gerade im Internet verdammt gut an. Populismus schafft Popularität.
Die Dagegen-Öffentlichkeit also. Fast, als hätte er’s geahnt.
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Denn kaum etwas passt besser als Einleitung zu einem Beitrag über die “Digitale Gesellschaft”. Was ich gestern und heute in einigen Blogbeiträgen und vielen Tweets las, insbesondere der scheinbar fast automatische Abwehrreflex, hat mich ein wenig verwundert. Es gibt an diesem Verein (in Gründung) schon Einiges, das man kritisieren kann:
Die Namensgebung (zweifellos blöde, gaukelt eine Repräsentativität vor, die so nicht mal eben gegeben ist, dazu mehr untenstehend). Die Struktur (wer dabei ist, wird aus Datenschutzgründen nicht veröffentlicht, genauso wenig, wer was entscheidet). Die Partizipationsmöglichkeiten (spenden und ehrenamtlich helfen gerne, jedoch ohne Mitspracherechte). Die Frage, was man generell von Lobbyismus (dem erklärten Ziel des Vereins) hält. Eine möglicherweise vorhandene Parteinähe der Mitglieder (Gründer Markus Beckedahl ist bei den Grünen, die anderen Mitglieder sind, s.o., unbekannt).
Das wären die Hauptkritikpunkte. Die Frage ist aber doch: Sind das so essentielle, irreparable Systemfehler, dass die ganze Idee wieder eingestampft werden muss?
Es gibt beispielsweise im Blog Internet Law den Vorwurf, die geplante Hierarchie des Vereins stehe im Widerspruch zur Struktur des Netzes und zur Art und Weise, wie sich Bürgerprotest bisher online organisiert habe. Damit drängt sich aber die Frage auf: Wie organisiert man denn diesen “Bürgerprotest” im Netz, und zwar so, dass er etwas erreicht? Über E-Petitionen? Über die Planung von Demonstrationen? Über das Sammeln von Tweets oder Blogbeiträgen / -kommentaren, die “gegen” etwas sind? Egal, was davon man nimmt: Es reicht nicht, zu schrei(b)en.
Es braucht immer jemanden, der dafür sorgt, dass gehört wird. Es braucht einen Hauptpetitor, der eine Petition im Bundestag vorträgt, es braucht Leute, die zu Demos gehen und welche, die bei Entscheidungsprozessen (und um die Beeinflussung derselben geht es ja bei “Bürgerprotesten”) mitwirken und diese digitalen Proteste ernst nehmen. Aber so lange es all diese offline-Protagonisten nicht gibt, kann online so viel protestiert werden, wie die Netze hergeben, – und im Zweifelsfall muss es niemanden interessieren. Es muss einen Weg geben, Politiker zu erreichen, das, was online passiert, ins offline-Dasein zu tragen, den Stimmen Gehör zu verschaffen – und in der Politik etwas zu erreichen. Und dieser Weg kann keine Partei sein.
Das alles lässt sich auch am Beispiel der Revolutionen in der arabischen Welt verdeutlichen, wo ab und an von der “Facebook-Revolution” gesprochen wurde. Die Bloggerin Noha Atef brachte es in ihrem Beitrag auf der re:publica auf den Punkt: Social Media können Menschen mobilisieren – aber Revolutionen passieren nicht über Nacht. Der internetradierer formuliert es so: “Nicht Social Networks stürzen Regimes, sondern Menschen.”
Wir könnten in diesem Zusammenhang kurz Revue passieren lassen, wie das die letzten Jahre “mit dem Internet” so lief. Lose zusammengewürfelt hier mal die großen Themen der letzten Jahre (unvollständig): Wir hatten das Thema Zensursula, die Freiheit statt Angst-Demos, die E-Petition gegen Internetsperren und zu dieser Zeit einen großen Wahlkampf der Piratenpartei. Wir haben die Arbeitskreise AK Zensur und AK Vorratsdatenspeicherung, die Diskussionen um den Jugendmedienstaatsvertrag, Sperrung oder Löschung von Kinderpornographie undsoweiterundsofort.
Das waren / sind Themen, die enorm wichtig sind. Auch wenn es vielen nicht bewusst ist: Es sind Themen, die ausnahmslos jeden, der sich in diesem Land mit einem Internetzugang oder einem Handy oder einem Telefon oder auf einer Straße bewegt, etwas angehen.
Viele wünschen sich für solche Themen und die Proteste niederschwellige Angebote, Partizipationsmöglichkeiten für zwischen-Kaffee-und-Glitzercontent, und für vom-Computer-aus. Dummerweise funktioniert aber Realpolitik so nicht. Und dummerweise sind es gerade die realpolitischen Themen, die aus dem spaßigen Herumt(r)ollen plötzlich Ernst machen. Weil man sich dann um ganz unschöne Dinge Gedanken machen muss (Datenschutz? Och nö.), auf die man im Zweifelsfall aber überhaupt keinen Bock hat.
Der Begriff der digitalen Gesellschaft an sich ist sowohl für die Gesamtmenge der Endnutzer digitaler Geräte als auch für einen Verein, der diese irgendwie repräsentieren will, _etwas_ unglücklich gewählt. Denn mit der Bezeichnung verhält es sich m.E. ähnlich wie mit dem Unionsbürger: Beide existieren nur augenscheinlich, bei näherer Betrachtung jedoch überhaupt nicht.
Die Internetnutzer sind eine Masse, wie sie heterogener kaum sein könnte. Es ist alles dabei – von reinen E-Mail-Verschickern, Newskonsumenten und Facebook-/YouTube-/StudiVZ-Nutzern über Twitterer, Blogger, so genannte Nerds, bis hin zu Unternehmern, NGOs und Politikern, Behörden und Geheimdiensten. Nun müsste man Internetnutzer eigentlich unterscheiden und gewichten: Nach Nutzern. Und Machern. Aber eigentlich “macht” auch jeder, der bei Facebook Katzenfoto-Links postet, etwas. Dann gibt es andere, die _mehr_ “machen”, die Blogs über Lokal-, Netzpolitik, Medien und Alltag schreiben. Aber genaugenommen ist es doch so: Alles, was man im Internet nutzt, macht auch etwas mit dem Internet, und sei es nur, dass man bei Google einen Suchbegriff eingibt und damit werberelevant wird. Zwischen passivem Konsum und aktiver Teilhabe ist es nirgends so nah wie hier.
Das Tolle ist: Jeder kann Internet, jeder ist Internet. Irgendwie. Doch daraus ergibt sich ein Relevanzproblem: Wo zieht man die Grenze? Wer, wessen Meinung, wessen Inhalte, sind relevant? Dass Relevanz nicht nur über Quantität (Zahl von Blogeinträgen, Tweets, Verlinkungen) definiert werden kann, dürfte mittlerweile durchgesickert sein. Eine genaue Definition wird vermutlich aber immer praktisch unmöglich bleiben. Wessen Meinung ist also wichtig? Ist es die Meinung derer, die für Themen, die sie als Internetnutzer betreffen, auf die Straße gehen? Die Meinung derer, die drüber schreiben und online debattieren? Ist einfach jede Meinung relevant, Hauptsache, sie ist eine Meinung?
Wer ist die ominöse “Netzgemeinde”, darf irgendwer sie repräsentieren, wenn ja, wie legitimiert sich ein Repräsentationsanspruch? Und, wenn nein: Können wir dann bitte endlich konsequent sein und alle Netzpolitikblogs einstampfen? Dann ist nämlich alles, was online passiert, Gelaber. Mehr nicht. (Ich will die Arbeit von FoeBud und Co. nicht kleinreden. Die Frage ist nur, ob es nicht mehr gibt, das man* tun kann.)
Was passiert, wenn man versucht, alles in extrem flache Hierarchien zu packen und basisdemokratisch zu entscheiden, ist seit einiger Zeit bei der Piratenpartei zu beobachten, von der man munkelt, sie sei derzeit in einem Sandkasten verschwunden, und debattiere noch die Frage, wer wem zuerst Sandkuchen weggegessen habe (scnr). Das Internet ist so toll, weil hier jeder alles machen, alles sein kann. Es gibt hier verdammt viele große Egos mit sehr großer Klappe, die zu allem Bescheid wissen. Und man kann im Internet ganz schnell Themen hypen – um sie dann genauso schnell wieder in der Schublade verschwinden zu lassen.
Seit Ewigkeiten, das nur exemplarisch und auch von Lobo erwähnt, kam immer mal wieder murmeltierartig der Wunsch nach einem deutschen Bloggerverband auf. Kam auf, ward diskutiert, ward wieder vergessen. Und das im Land der Gartenbauvereine. (Unter uns: Lasst uns das Ding gründen und es DIE METTPARTEI nennen, und wir können uns vor Zulauf nicht mehr retten.)
Es wird im Internet immer Leute geben, die einfach Catcontent, Facebook-Nachrichten, T-Online-Newsportale wollen. Die hier schöne Texte, Kunst, Design, ihr Unternehmen, ihre letzten Urlaubsfotos präsentieren. Und immer Leute, die herumtrollen und anderen ans Bein pinkeln wollen. Diese Leute sollen, und das meine ich nicht abwertend, ihr Internet noch genauso nutzen können wie bisher. Das Problem ist eben nur, dass sie verstehen müssen, dass das kein Automatismus ist.
Dafür wiederum muss es Leute geben, die ein Bewusstsein dafür haben, dass diese erwähnten Seiten des Internets nicht alles sind. Dass es da mehr gibt, und dass das wichtig ist – und dass man da etwas tun muss. Dass man bei mehr Menschen ein Bewusstsein für diese sensiblen Themen schaffen muss, und dass man sich dort, wo Sperren beschlossen, Überwachungsmaßnahmen eingeleitet werden, Gehör verschaffen muss. Nur braucht es dafür Leute, die etwas tun – und sich damit zwangsläufig aus der recht passiven, grauen Masse abheben, womit die Hierarchie schon wieder eine Stufe hat.
Für diese Leute muss es Möglichkeiten geben, sich zu engagieren, und zwar über einen Klick bei einer E-Petition hinaus. Es braucht Leute, die mit Politikern reden, in Arbeitskreisen diskutieren, die auf die Straße gehen, andere sensibilisieren. Das kostet Zeit, das kostet Geld, und, ehrlich, ich bin gespannt, wie viele der aus dem Boden geschossenen “ich will auch mitspielen, wir brauchen eine breitere Basis, wir wollen Transparenz!”-Forderer da dann mit dabei sind. Ach ja, zum Thema “dagegen”: Lobos eigene Reaktion auf die Vereinsgründung war auch eher, nennen wir es: verhalten.
Ich glaube, dass “Digitale Gesellschaft” eine Möglichkeit sein kann, dem, was online passiert, mehr Gewicht zu verleihen, und finde es gut und wichtig, dass etwas passiert. Ich denke nur nicht, dass das so funktionieren wird, wie der Verein sich gerade aufstellt.
Im Verein selbst muss sich noch Manches verändern, auch, um eine breitere Basis, mehr Zustimmung und damit Schlagkraft zu schaffen. Jedoch könnte der Verein, so er sich denn öffnet, eine Chance bieten, neben den doch recht elitären etablierten Kreisen (AK Vorrat, AK Zensur, FoeBud, CCC) eine Partizipationsmöglichkeit zu schaffen. Dass das parteiunabhängig geschehen muss, dass es dafür überzeugendere Konzepte braucht – ist eh klar. Doch die “Digitale Gesellschaft” erhebt keinen Alleinvertretungsanspruch, es muss also auch keine schon länger existierende Organisation um ihre Existenz bangen. Eine weitere Koordinationsstelle hat noch keinem Protest geschadet, und wird vielleicht auch dem “digitalen Bürgerprotest” gut tun.
Also: gebt dem Ganzen doch einfach mal eine Chance, gebt ihm ein bisschen Zeit, und schmeißt das Kind nicht in den Brunnen, bevor es überhaupt laufen gelernt hat. Das Internet ist ein großartiger Spielplatz. Aber vielleicht wird es Zeit, dass mehr von uns ein bisschen erwachsen werden.
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Mehr zu “Digitale Gesellschaft” hier:
Opalkatze: “Digitale Gesellschaft – Überlegungen”
Simon Zeimke: (“Digitale Gesellschaft versus Gesellschaft Digital”
F!XMBR: “Die ‘Digitale Gesellschaft’ ist nicht die digitale Gesellschaft”
heise “Braucht die digitale Gesellschaft die ‘Digitale Gesellschaft’?”
taz: “Digitale Gesellschaft ohne Community”
Matthias Richel: “Vom Engagement und Empowerment”
Christoph Deeg: “Re:Publica – oder warum wir (noch) keine digitale Gesellschaft sind”