#Gesundheitspoilitik

Der Arzt als Dealer

von , 18.4.09

Die Zahl der Tablettensüchtigen in Deutschland ist wesentlich höher als gedacht. Mehr als 1,5 Millionen Patienten erhalten Schlaf- und Beruhigungsmittel aus der Medikamentengruppe der Benzodiazepine über einen längeren Zeitraum, als in den Leitlinien der Ärzte vorgesehen. Das meldet der SPIEGEL unter Berufung auf eine noch unveröffentlichte Studie des Hamburger Instituts für interdisziplinäre Sucht- und Drogenforschung. Demnach schreiben Ärzte vermehrt Privatrezepte über die Arzneimittel, die ein hohes Abhängigkeitspotential haben. 800 000 Menschen sollen laut SPIEGEL auf diese Weise zu Dauerkonsumenten werden.

Der unkritische Umgang mit Benzodiazipenen ist aber nur die Spitze des Eisbergs. Die wachsende Zahl chronischer Krankheiten (jeder Fünfte in Deutschland) führt zu immer mehr Patienten mit einer Vielzahl von Symptomen, von denen die meisten mit Medikamenten bekämpft werden. Chronisch Kranke schlucken oft mehr als 15 verschiedene Arzneien – da überlagern die Neben- und Wechselwirkungen rasch die eigentlichen Symptome der Krankheit. Abzuklären, was Krankheit und was Medikamentenwirkungen sind, gehört inzwischen zum Standardprogramm jeder internistischen Visite in einer Klinik.

Krankheiten werden meist als Mangelzustand interpretiert – als „lack of medication syndrome“.  Andere Strategien hat die Medizin meist nicht parat. Dabei sterben an den Nebenwirkungen von Arzneimitteln allein in den USA jährlich rund 100 000 Patienten. Das Leiden an den unerwünschten Begleiterscheinungen führt dazu, dass viele Kranke nicht das tun, was ihnen der Arzt sagt – das schafft neue Probleme. Für Deutschland wird geschätzt, dass jedes fünfte Medikament nicht wie vom Arzt verordnet eingenommen wird. Die Folgekosten dieser mangelnden Therapietreue werden auf 15 bis 20 Milliarden EUR jährlich geschätzt. Das sind rund 10 Prozent der Gesamtausgaben für unser Gesundheitswesen. Jede vierte Einweisung in ein Krankenhaus ist vermutlich Folge mangelnder „Compliance“ (Therapietreue). Allein 40 000 Herzkranke sterben jährlich am falschen Umgang mit ihren Medikamenten.

Jedes dritte Medikament, schätzt das Umweltbundesamt, wird in Deutschland nicht eingenommen, sondern weggeworfen. Schon jetzt finden sich in unserem Trinkwasser Blutfettsenker, Antirheumaarzneien, Röntgenkontrastmittel und Schmerzmittel.

Einen besonders hohen Grad an Non-Compliance zeigen die chronisch Kranken: Die Deutsche Gesellschaft für bürgerorientierte Gesundheitsversorgung rechnet vor, dass nur jeder dritte dieser Patienten der Empfehlungen seines Arztes folgt, obwohl diese Gruppe Kranker 80 Prozent der Gesundheitsleistungen in Anspruch nimmt. Europaweit hochgerechnet, summieren sich hier Folgekosten von 200 bis 300 Milliarden Euro im Jahr. Jedes zusätzliche Compliance-Prozent würde den europäischen Gesundheitssystemen eine Ersparnis von ein bis drei Milliarden Euro bringen.

Es wird Zeit, dass die Medizin umdenkt – zum Beispiel Naturheilverfahren in ihre Behandlungen einbezieht, aber nicht einfach nur „alternativ“ – nach dem Motto, „Was nichts nützt, kann auch nichts schaden“ – so sehen das viele Ärzte. Sondern wissenschaftlich überprüft und abgestimmt auf die konventionellen Therapieansätze, wie das etwa die in Deutschland noch junge Integrative Medizin an der Essener Uniklinik macht. Auf diese Weise lassen sich Symptome lindern und die Medikamentendosis reduzieren, in einem Großteil der Fälle.

Jeden Tag einen feuchtkalten Brustwickel – so simpel wie gut gegen Überreizung und Schlafstörungen. Vielleicht zu simpel. Denn die Gesundheitsindustrie kann daran nichts verdienen. Und wir müssen selbst was tun…

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