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Wie Kulturinstitutionen mit dem Schwarm kooperieren

von , 27.10.12

Manche tragen Fotos, Briefe und Wissen zum Ersten Weltkrieg zusammen, andere arbeiten an der erfolgreichsten Enzyklopädie der Welt. Die Publizistin Kathrin Passig lotet die Zusammenarbeit des Schwarms mit öffentlichen Institutionen aus.

Die meist anonyme Masse von Internet-Nutzern, die sich zu einem bestimmten Zweck zusammentut und auch „Crowd“ genannt wird, ist etablierten Institutionen nicht immer ganz geheuer. Als das östereichische Bundesdenkmalamt 2011 im Internet Freiwillige aufrief, landesweit sämtliche Denkmäler zu verorten und zu fotografieren, um endlich ein vollständiges öffentliches Verzeichnis anzulegen, herrschte in den Fluren der staatlichen Einrichtung auch Skepsis. „Was sind das wohl für Nerds?“ – so beschreibt der Denkmalpfleger Andreas Lehne eine anfängliche Haltung in seiner Behörde. Inzwischen ist „Wiki loves Monuments” eine weltweite Bewegung, mit mehr als 350.000 Beiträgen von mehr als 15.000 Menschen in 35 Ländern – ein Weltrekord. Von vielen Denkmälern gibt es nun erstmals frei lizenzierte Fotos (Creative Commons-Lizenz BY-SA 3.0), auch deren kommerzielle Nutzung ist erlaubt.

„Nicht alles wird von Freiwilligen erledigt“

Das immer noch etwas unbestimmte Verhältnis zwischen staatlichen Institutionen und dem Schwarm an Freiwilligen war ein großes Thema der Konferenz „Zugang gestalten! Mehr Verantwortung für das kulturelle Erbe“ am 22. und 23. Oktober 2012 in Berlin. Vertreter traditionsreicher Einrichtungen und Akteure der Netzgemeinde tauschten sich über konkrete Projekte aus.

Die Publizistin, Journalistin und „Internet-Expertin“ Kathrin Passig nahm eine Bestandsaufnahme vor. Einem Entweder-Oder-Denken erteilte Passig gleich zu Beginn eine Absage. „Selbst der enthusiastische Anhänger einer Weisheit der Massen wird nicht davon ausgehen, dass in Zukunft alles durch Freiwillige erledigt wird“, so Passig. „Es geht immer um Mischformen zwischen unbezahlten und bezahlten Kräften.“ Existenzängste angesichts des digitalen Wandelns sollten, anders als in der emotional geführten Urheberrechtsdebatte, keine dominante Rolle spielen.

Fehlende Fehler-Analyse

Zunächst brachte die Konferenz zahlreiche Beispiele erfolgreicher Kooperationen. Bei „Galaxy Zoo“ und „Zooniverse“ klassifizieren Hunderttausende von Freiwilligen anhand von Fotos fremde Galaxien – eine  Arbeit, die Computer überfordert und Forschungseinrichtungen personell nicht leisten könnten. Die Idee, die „Crowd“ aktiv in die Forschung einzubinden, hatten britische Universitäten.

Europas digitale Bibliothek Europeana ruft derweil in Zusammenarbeit mit nationalen Instituten dazu auf, Dokumente, Artefakte und Geschichten aus dem Ersten Weltkrieg – auch online – zusammenzutragen, die schließlich im Netz nutzbar sind. Aufsehen erregte das Projekt, als in München eine bislang unbekannte Postkarte von Adolf Hitler aus dem Jahr 1916 auftauchte.

Von erfolglosen Crowd-Projekten weiß auch Passig wenig zu berichten, da in diesen Fällen meist nur noch die optimistischen Pressemitteilungen zur Startphase im Netz übrig bleiben. Forschung und Presse feiern (derzeit) lieber die Erfolgsgeschichten im Netz, als sich mit den digitalen Friedhöfen zu befassen. Lag es am Ende an der falschen Ansprache der Freiwilligen? War die freiwillige Arbeit zu öde? Dauerte es zu lange, bis die Experten sie mitspielen ließen? War die Nutzeroberfläche zu kompliziert? „Man weiß es nicht“, so Passig. Allerdings hält sie eine Fehler-Analyse erfolgloser Crowd-Projekte für wichtig. Andere Institutionen könnten daraus lernen. „Im Moment scheint mir der naive Propaganda-Glaube zu herrschen, dass man sich nur trauen müsste, und dann löst sich alles wohlgefällig.“

Schwarm und Institutionen nähern sich an 

Eine weitere Erkenntnis der Konferenz:  Die Annäherung zwischen „Crowd“ und Institutionen – Universitäten, Museen und Archiven – entwickelt sich. Nach britischem Vorbild engagierte das Deutschen Archäologische Institut (DAI) mit Marcus Cyron den ersten „Wikipedian in Residence“. Bis Ende 2012 erklärt Cyron, Autor und Redakteur tausender Wikipedia-Artikel zum Altertum, den DAI-Mitarbeitern in Workshops die Wikipedia-Welt, das Partizipationsprinzip, die Struktur der Artikel und die kollektiven (Korrektur-)Prozesse. Mit dem GLAM-Projekt (Akronym für: Galleries, Libraries, Archives, Museums), getragen von der Wikimedia Stiftung, haben Kooperationen der Wikipedianer mit dem Kultursektor mittlerweile eine eigene Plattform.

Folgt man Lennart Guldbrandsson, Wikipedian in Residence am “Swedish National Heritage Board”, ermöglicht es Wikipedia Forschungseinrichtungen und Gedächtnisinstitutionen, im Netz (überhaupt) wahrgenommen zu werden und so ihrem öffentlichen Auftrag nachzukommen. Die freie Enzyklopädie Wikipedia ist eine der meistbesuchten Webseiten der Welt. Schon eine Verlinkung in der Wikipedia kann dem Wissen und den Werken in staatlichen Institutionen eine nie dagewesene Aufmerksamkeit bescheren.

Konzeptionell unterschiedliche Systeme

Unter dem Eindruck der Konferenz lässt sich auch zugespitzter formulieren: Die Wikipedia bestimmt heute maßgeblich, was in der breiten Öffentlichkeit zum kulturellen Erbe gehört, welche Informationen darüber vermittelt und tatsächlich genutzt werden. Diese Aufgabe haben Hunderttausende Freiwillige den traditionellen Gedächtnisinstitutionen unentgeltlich abgenommen. Auch hat die Wikipedia traditionsreichen Enzyklopädien wie der Encyclopaedia Britannica (ab 1768) und der Brockhaus Enzyklopädie (ab 1808) den Rang abgelaufen. Bezahlte Experten haben also an Deutungshoheit verloren.

Passig spricht nicht unbedingt von Konflikten, sondern von einem „Spannungsfeld“: Zwischen den Institutionen mit ihrer Kontinuität, ihren Hierarchien, ihrem Geld und ihren Gebäuden, und dem Schwarm mit seiner Flüchtigkeit, seiner Flexibilität, seiner Schnelligkeit und seinen flachen Hierarchien. Die 10 Jahre, die Wikipedia alt ist, sind im musealen Maßstab nicht viel. Die „konzeptionell unterschiedlichen“ Systeme könnten allerdings produktiv zusammenarbeiten, wenn mit „Nachdenken und gutem Willen“ Schnittstellen gefunden werden, so Passig. „Die Welt steht nicht zum ersten Mal vor dem Problem, dass unterschiedliche Systeme kommunizieren sollen“, sagt die Journalistin, zeigt beiläufig ein Foto kompliziert aufeinander gesteckter Kabel und Adapter – und erntet Gelächter.

Der Schwarm wird institutioneller, Experten verlieren ihren Status

Da sich der Austausch zwischen Wikipedianern und Institutionen verfestigt, beobachtet Passig eine gewisse Institutionalisierung des Schwarms. Zum einen ist das notwendig. Persönliche Ansprechpartner – etwa bei Wikimedia – sind für die Kooperation mit Institutionen wichtig. Zum anderen verträgt sich das „nur mittelgut“ mit dem Crowd-Prinzip, wie Passig es formuliert. „Dadurch wird ein flexibles und formloses Projekt allmählich immer institutioneller, hierarchischer und bürokratischer.“ Es kommt zu „Flaschenhälsen in Personenform“. Wenn in der anderen Richtung bezahlte Experten in der Crowd tätig werden, müssen sie sich den dortigen Regeln anpassen. Dort gibt es flache oder gar keine Hierarchien. Niemand kann sich beispielsweise in der Wikipedia auf seinen Expertenstatus berufen, den er sich außerhalb erarbeitet hat. „Man muss alles von vorne geduldig begründen“, so Passig. „Nicht alle können das.“

Was kann der Schwarm? Was kann die Institution?

Passig rät dazu, sich ein Bild von den Stärken und Schwächen der beiden Systeme zu machen. Was der Crowd fehlt, können Institutionen bieten: Kontinuität, Geld, Räumlichkeiten, den Umgang mit materiellen Gegenständen, eine Organisation, um Außenstehende anzusprechen und einzubinden. Der Schwarm kann sich dagegen projektbezogen zusammentun und Millionen von Arbeitsstunden leisten, während Institutionen „immer zu wenige“ Mitarbeiter haben, die sie nach einem Projekt auch nicht einfach vor die Tür setzen können.

Mit Blick auf künftige Kooperationen ist Passig zuversichtlich „Es wird künftig mehr Möglichkeiten geben, sich zwischen den Polen zu bewegen.“ Barcamps und Coworking Spaces seien Versuche, eine Art Adapter zu finden, im Spannungsfeld zwischen Dauerhaftigkeit und Flexibilität, zwischen Digitalem und der Notwendigkeit von Räumen.

Wer sind diese Leute?

Auf der Konferenz blieb die Frage offen, wer der Schwarm der Freiwilligen ist, ob man es mit einer digitalen Elite zu tun hat. Passig verweist darauf, dass die Zusammenarbeit der Kulturinstitutionen mit Freiwilligen nicht neu ist. Bereits in analogen Zeiten arbeiteten Zehntausende in Museen und Archiven unbezahlt mit, vornehmlich Rentner. Indem die digitale Arbeit zeitlich flexibler zu verrichten ist, sind Projekte laut Passig offener für andere Bevölkerungsgruppen.

Dass es auch hier Mischformen gibt, zeigt eine Beobachtung von Andreas Lehne. Als das östereichische Bundesdenkmalamt schließlich Teilnehmer des „Wiki loves Monuments” nach Wien einlud, erschienen als „Nerds“ vornehmlich Männer im Ruhestand.
 
Die Konferenz „Zugang gestalten!” wurde mitveranstaltet vom iRights.Lab Kultur.

  • Siehe auch Tobias Schwarz’ Zusammenfassungen vom ersten und zweiten Tag der Konferenz
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