#Aufklärung

Die eingeschüchterte Aufklärung

von , 22.7.12

Am vergangenen Montag erschien in der Süddeutschen Zeitung ein Leitartikel des Innenressortchefs Heribert Prantl zum Thema „Beschneidung“. Die Überschrift lautete: „Was Aufklärung verlangt“. Prantl, in Deutschland gerühmt als publizistischer Bundesverfassungsrichter, plädiert in seinem Text aber nicht – wie man es von ihm erwartet hätte – für die körperliche Unversehrtheit des Kindes im Sinne von Artikel 1 und 2 unserer Verfassung, nein, er plädiert für das religiöse „Recht“ auf Beschneidung und führt allerlei verharmlosende Vergleiche ins Feld: Schönheitsoperation, Tätowierung, bloß ein Stückchen Haut etc.

Prantl möchte beide Augen zudrücken und alle Fünfe grade sein lassen. Warum? Weil er glaubt, dass ein Verbot des archaischen Rituals den multikulturellen gesellschaftlichen Frieden in Deutschland gefährden könnte. Das ist ein gewichtiges Argument. Es gründet zum einen in der bayrischen Lebensphilosophie („Leben und leben lassen“), zum anderen in der Hegelschen Rechtsphilosophie („Was vernünftig ist, das ist wirklich; und was wirklich ist, das ist vernünftig”). Man möge daher, so Prantl, kein allzu großes Bohei um den kleinen Fetzen nutzloser Kindeshaut machen.

Leider macht Heribert Prantl dann aber selbst das allergrößte Bohei: Er setzt sein bayrisch-hegelianisches Toleranzedikt mit den zivilisatorischen Errungenschaften der Aufklärung gleich. Ja, er versteigt sich zu der absurden Aussage, es sei letztlich die Aufklärung, die ein Ja zur Beschneidung „verlange“. Denn nur, wenn man die Beschneidung erlaube, könne man sie aufklärerisch tolerieren. Das liest sich, als habe Prantl an Karl Valentins verquerer Logik Gefallen gefunden.

 

Zweierlei Maß

In seinem Text unterscheidet Prantl außerdem zwischen einer ‚schwachen’ und einer ‚starken’ Grundrechtsnegierung:

„Wenn die Würde des Menschen verletzt wird, wenn eine angeblich göttliche Leitkultur die Grundrechte negiert – dann sind die Grenzen überschritten. Aber die Beschneidung ist nicht der Einstieg in die Scharia (!), nicht Symbol für die Negation der Rechtsordnung, sie ist vielen nur befremdlich fremd. Eine Bestrafung des nur Befremdlichen wäre unverhältnismäßig. Das heißt: Der Schutz der Vorhaut gegen vermeintlich unverständige Eltern ist keine Angelegenheit für das Strafrecht.“

Das klingt zunächst sympathisch und lebensnah. Doch ginge es in der Debatte allein um Muslime, würde der seltsame Brauch, kleinen Kindern das Zeichen ihrer Religionszugehörigkeit gewaltsam mit dem Messer einzuritzen, wohl sehr viel bereitwilliger als archaisch, grausam und rückständig abgestempelt. Die jüdisch-christliche Tradition dagegen erscheint nur „befremdlich“. Diese abgestufte Wertung zeigt, wie selektiv Prantl den Begriff der Aufklärung benutzt. Er merkt offenbar nicht, dass sein vermeintliches Plädoyer für multikulturelle Toleranz dem religiös-reaktionären Rollback in die Hände spielt.

 

Das Sanctum Praeputium

Auch im Christentum gibt es die Beschneidung, allerdings nur an seinem Beginn – und danach in Form einer bizarren Verherrlichungsgeschichte. So heißt es im zweiten Kapitel des Lukas-Evangeliums:

„Als acht Tage vorüber waren und das Kind beschnitten werden sollte, gab man ihm den Namen Jesus, den der Engel genannt hatte, noch ehe das Kind im Schoß seiner Mutter empfangen wurde… Als seine Eltern alles getan hatten, was das Gesetz des Herrn vorschreibt, kehrten sie nach Galiläa in ihre Stadt Nazaret zurück.“

Seit dem frühen Mittelalter wurde deshalb am 1. Januar (am achten Tag nach Christi Geburt!) das Fest der Beschneidung des Herrn (Circumcisio Domini) gefeiert.

Im Verlauf der Jahrhunderte stieg das Sanctum Praeputiumdie „heilige Vorhaut“ – dann sogar zur Reliquie auf. Da es sich um den einzigen Körperteil handelte, der an Christi Himmelfahrt nicht mit in den Himmel aufgefahren war, wurde er zum kostbarsten Andenken, das die irdische Kirche von Gottes Sohn haben konnte.

An Weihnachten 800, so die Legende, soll Papst Leo III. das Sanctum Präputium von Karl dem Großen geschenkt bekommen haben – anlässlich seiner Kaiserkrönung in Rom (etwas ähnlich Verrücktes können sich wohl nicht einmal die Titanic oder Der Postillon ausdenken!). Karl der Große wiederum habe das gute Stück von Kaiserin Irene von Byzanz erhalten. Der beschenkte Papst bewahrte die „heilige Vorhaut“ zusammen mit anderen Reliquien in der Kapelle Sancta Sanctorum im Lateran auf – in seiner Hauskapelle. Deren Inschrift lautet: „Non est in toto sanctior orbe locus“ – Kein Ort ist heiliger als dieser auf dem ganzen Erdkreis.

Doch ganz sicher war man sich offenbar nicht, wo die Vorhaut nach der Beschneidung abgeblieben war. Im Mittelalter erhoben gleich mehrere Kirchen Anspruch darauf, die Original-Vorhaut zu besitzen.

Schließlich ist sie – nach einer weiteren Legende – bei der Plünderung Roms im Jahr 1527 von einem deutschen (!) Landsknecht aus der Hauskapelle des Papstes gestohlen worden. 30 Jahre später hat man sie in der Gefängniszelle jenes Söldners gefunden und in die benachbarte Pfarrkirche von Calcata überführt. Noch bis 1983 wurde die heilige Vorhaut dort bei Prozessionen gezeigt (was dem Vatikan sichtlich peinlich war), erst danach verschwand sie unter ungeklärten Umständen.

 

Unzeitgemäße Rituale

Das ist, wie gesagt, eine bizarre Geschichte. Sie zeigt aber äußerst anschaulich, auf welches Terrain man sich mit der Beschneidungs-Debatte auch begibt: auf das Feld des Obskurantismus und des Irrationalismus. Der Psychotherapeut Wolfgang Schmidbauer hat alles Nötige dazu gesagt. Wir verteidigen ein Ritual, das wir nicht mehr begreifen können, wir verteidigen es, obwohl die Gründe für seine ursprüngliche Einführung (im ägyptischen Exil, in der babylonischen Gefangenschaft, in der römischen Knechtschaft?) nicht mehr existieren. Sie haben sich überlebt und sie wurden – vernünftigerweise – von klugen Kirchenleuten in unblutige Formen des religiösen Bekenntnisses umgewandelt, gewissermaßen sublimiert. Diese Modernisierungsanpassung sollte man von allen Religionen verlangen, und es gibt ja durchaus vernünftige Ansätze dazu (Brit Shalom, Jews against Circumcision, Nocirc).

 

Auch Religionen ändern sich

Artikel 24c der UN-Kinderrechts-Konvention sagt unmissverständlich:

„Die Vertragsstaaten treffen alle wirksamen und geeigneten Maßnahmen, um überlieferte Bräuche, die für die Gesundheit der Kinder schädlich sind, abzuschaffen.“

Die Beschneidung von Mädchen gilt deshalb zu Recht in der EU als Straftat, die Beschneidung von männlichen Säuglingen und minderjährigen Jungen soll aber weiterhin als religiöses Brauchtum durchgehen – eine absurde Ungleichbehandlung, die vor dem Grundgesetz keinen Bestand haben kann. Deshalb sollte man die Reformer in den Religionsgemeinschaften unterstützen, nicht die Hardliner.

Im Christentum wurde das Beschneidungsritual durch das Ritual der Taufe abgelöst. Diese neue Art, den Bund mit Gott zu schließen, hat dem religiösen Leben nicht geschadet, sie hat die Ausbreitung der Religion sogar ungemein erleichtert. Schon der Apostel Paulus empfahl, die Beschneidung nur noch im übertragenen Sinne vorzunehmen:

„Ihr sollt die Vorhaut eures Herzens beschneiden und nicht länger halsstarrig sein.“

Das heißt: Religionen sind nicht in Beton gegossen, sondern veränderbar. Sie gehen mit der Zeit. Nur halsstarrige Fundamentalisten klammern sich an jeden Buchstaben, der in den alten Büchern steht. So mag das unveränderliche Merkmal des Beschnittenseins die religiöse Identität eines tapferen Volkes gewahrt haben, doch dieses Ritual war auch immer eine zwanghafte xenophobe Abwehrmaßnahme gegen die „Vermischung“ mit allem Fremden. Der Brauch könnte deshalb sehr wohl von moderneren Formen des Bekenntnisses abgelöst werden, ohne dass dadurch die Erinnerung an schwere Zeiten verblassen müsste. Das Zweite Vatikanische Konzil, die große Modernisierungskonferenz der Katholiken, schaffte z.B. das Fest zur Beschneidung des Herrn 1962 ab, doch Papst Benedikt XVI. ließ das Gedenken an die heilige Vorhaut (am Oktavtag) wieder zu – im Jahr des Herrn 2007!

Soll sich der geistig-religiöse Rollback nun im Gewand einer missverstandenen Aufklärung fortsetzen dürfen? Soll säkulare Politik dieses ganze Gewese um Rituale und Reliquien, das von den Liturgiereformen der Moderne abgeschafft wurde, auch noch unterstützen – in Form eines Toleranzedikts? Und müssen die Grünen, die Sozialdemokraten, die Liberalen und die der Aufklärung verpflichteten Medien (wie DIE ZEIT – siehe Jan Ross, und die SZ – siehe Heribert Prantl) dabei mithelfen?

 

Die (Rückwärts-)Rolle des Bundestags

Der Deutsche Bundestag – erschreckt von der Kritik wütender Religions-Funktionäre – will im Herbst die Voraussetzungen für „eine medizinisch fachgerechte rituelle Beschneidung“ schaffen. Schon der Begriff ist ein Widerspruch in sich, denn die medizinische Ethik verlangt, dass keine überflüssigen Operationen an gesunden Kleinkindern durchgeführt werden.

Der Bundestag möchte sein Toleranzedikt gern auf eine möglichst breite Grundlage stellen – und merkt nicht, dass er die moderne Gesellschaft damit spaltet. Schon die Vorschläge, wie und wo die künftige Regelung erfolgen soll – im Patientenrechtegesetz (!), im Strafrecht oder im Gesetz über die religiöse Kindererziehung – zeigen, welche juristischen Verrenkungen nötig sein werden, um auch nur halbwegs zufriedenstellende, nicht verfassungswidrige Regelungen zustande zu bringen.

Dass in der Debatte ausgerechnet der Parlamentarische Geschäftsführer der Grünen, Volker Beck, ein Bresche für die rituelle Beschneidung von Jungen schlägt, verwundert umso mehr, als seine Partei seit langem scharf gegen die rituelle Beschneidung von Mädchen protestiert – die medizinischen und wissenschaftlichen Aspekte des Problems müssten ihm also bekannt sein.

Beck begründet sein Eintreten für die Beschneidung – ebenso wie Prantl – damit, dass jüdisches und muslimisches Leben in Deutschland weiterhin möglich bleiben müsse. Beide tun gerade so, als sei jüdisches und muslimisches Leben in Deutschland ohne das Ritual der Kinder-Beschneidung unmöglich.

Willkommen im 21. Jahrhundert – vor Christus!

Lesen Sie dazu auch: Thomas Stadler, Die Beschneidung des Rechtsstaats sowie Eva Quistorp, Wider die postmoderne Religionspolitik (im Perlentaucher)

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