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Die BRIC-Staaten – eine Fiktion?

von , 5.6.12

Den Namen Jim O’Neill kennt außerhalb der Finanzbranche kaum jemand. Doch die vier Buchstaben, mit denen der Chefökonom von Goldman Sachs Brasilien, Russland, Indien und China 2001 zu einer Gruppe von besonders lukrativen Investitionsstandorten zusammenfasste, sind fast jedem geläufig, der in den vergangenen zehn Jahren eine Zeitung gelesen hat: BRIC. Ursprünglich nicht mehr als ein cleveres Wortspiel (der Artikel, in dem O’Neill den Begriff erstmals gebraucht, heißt “The World Needs Better Economic BRICs.”), hatte der Begriff weitreichende Folgen für das Selbstverständnis und die Zusammenarbeit der vier Länder, die ohne eigenes Zutun und ohne größere historisch-kulturelle Gemeinsamkeiten in dieser Schublade gelandet sind.

Heute ist das Akronym BRIC in aller Munde und die vier Länder haben sich selbst zu einer Gruppe geeint, die ‘dem Westen’ etwas entgegensetzen will (wobei ‘der Westen’, zumindest aus Sicht Brasiliens, nicht geografisch zu verstehen ist). Doch sehen sich die Länder allein als eine strategische ad-hoc-Allianz, um ihre Interessen gegenüber westlichen Ländern durchzusetzen? Oder gibt es Fakten, die auf gemeinsame Zukunftserwartungen oder gar eine weitergehende politische Integration der Gruppe hindeuten?

Wenn man politische Akteure außerhalb der zugehörigen Länder befragt, betonen diese meist, die Gruppe der BRIC sei willkürlich zusammengefasst und nicht viel mehr als eine politische Fiktion. Russland sei allein durch seine alternde Bevölkerung und den ins Stocken gekommenen wirtschaftlichen Aufschwung nicht mehr in einem Atemzug mit den drei anderen Staaten zu nennen.

Dr. Claudia K. Huber ist für das Projekt Foresight der Alfred Herrhausen Gesellschaft tätig, das eine Plattform bietet, auf der akademische und politische Akteure der BRIC-Staaten gemeinsam mit Experten aus den USA und der Europäischen Union ihre Zukunftsentwürfe vergleichen und über die künftige Weltordnung diskutieren. Ziel des Projekts ist es, die Welt durch die Augen des jeweils anderen zu sehen.

Auch sonst sind von außen in erster Linie Differenzen zwischen den Staaten festzustellen:

Die BRIC-Staaten blicken von sehr unterschiedlichen Standpunkten auf das Weltgeschehen. Während Brasilien die Rolle des regionalen Hegemons in Südamerika einnimmt und Russland sich nicht zwischen Europa und Asien entscheiden kann, sind sich Indien und China zwar geografisch nahe, diese Nähe führt allerdings öfter zu Grenzkonflikten als zu gemeinsamem Handeln. Auch im Hinblick auf die Sicherheitslage unterscheiden sich die Staaten voneinander. Brasilien spielt in der Gruppe eine Sonderrolle. Als einziges der vier Länder verfügt es nicht über Kernwaffen und ist von atomwaffenfreien Ländern umgeben.

Die Gesellschaftssysteme der vier Staaten könnten unterschiedlicher nicht sein, so stehen die demokratischen Systeme Brasiliens und Indiens im Kontrast zu den autokratischen Systemen Russlands und Chinas. Hinzu kommt, dass China – zumindest in Teilen – als kommunistischer Staat geführt wird, während die anderen Staaten marktwirtschaftlich organisiert sind. Angesichts all dieser Differenzen ist es fraglich, ob die künstlich zusammengefasste Gruppe einen inneren Zusammenhalt entwickelt oder gar eine weitergehende wirtschaftliche und politische Integration anstrebt.

Doch abstrahiert man von der westlich geprägten Sicht und lässt sich auf die Perspektive der BRIC ein, ergibt sich ein anderes Bild. Heute verwenden die vier Staaten selbst das Etikett, das ihnen einst von einem Banker verliehen wurde. Ihre Regierungsvertreter treffen sich seit 2009 regelmäßig zu BRIC-Summits und haben damit ein Forum des Austauschs und der Interessenvermittlung geschaffen, das alternativ zu den stark westlich dominierten internationalen Institutionen arbeitet. Inzwischen wurde mit Südafrika ein weiteres Land in die Gemeinschaft aufgenommen. Man spricht nun also von den BRICS.

Die erste Gemeinsamkeit der Gruppe ist ihre rasante wirtschaftliche Entwicklung. Deren Tempo und Umfang lässt keinen Zweifel daran, dass sie früher oder später massiven Einfluss auf die Weltordnung nehmen werden. Die Population der BRIC macht fast die Hälfte der Weltbevölkerung aus. Das macht sie zu Staaten der Zukunft. In der Gegenwart sind sie jedoch alle noch mit enormen innenpolitischen Herausforderungen konfrontiert. Diese führen Vertreter der BRIC häufig auch dafür an, international (noch) keine Verantwortung übernehmen zu wollen.

Das hat sich zum Beispiel bei der Abstimmung zur Libyen-Resolution des UN-Sicherheitsrats gezeigt. Alle vier haben sich hier trotz des enormen moralischen Drucks der internationalen Gemeinschaft einheitlich enthalten. Entsprechend wird der Gruppe vorgeworfen, nicht ihrem politischen Gewicht entsprechend Verantwortung zu übernehmen, nicht zur Vermeidung von Unrecht in der Welt beizutragen, insbesondere dann nicht, wenn ein solches Engagement geschäftsschädigend für die erstarkenden Wirtschaften wäre.

Positiv formuliert, machen sie bisher keine Anstalten, ihre Gesellschaftssysteme exportieren zu wollen und sehen auch untereinander Systemgegensätze nicht als Hinderungsgrund für ad-hoc-Kooperationen. Die nationale Souveränität einzelner Staaten zu wahren, hat für diese aufstrebenden Staaten in der internationalen Zusammenarbeit höchste Priorität.

Es ist zu erkennen, dass die von den BRIC immer wieder proklamierte Nichteinmischungspolitik nicht allein Konsequenz ihres Entwicklungsstadiums ist, sondern auch Resultat einer gemeinsamen Werthaltung. Diese lässt sich nicht zuletzt mit der kolonialen Vergangenheit der Länder erklären. Sowohl Indien als auch Brasilien und China haben jahrzehntelang unter der Kolonialherrschaft der Briten, Franzosen, Portugiesen und Niederländer gelitten.

Elisabeth von Hammerstein studiert Internationale Beziehungen an der
Technischen Universität Dresden und an der Sciences Po Bordeaux. Sie hat die Arbeit der Alfred Herrhausen Gesellschaft an einer Studie zu Werten und Zukunftsvorstellungen der BRIC-Staaten inhaltlich unterstützt. Zurzeit arbeitet sie zu der Frage, ob die Staaten der BRIC-Gruppe eine gemeinsame Identität ausbilden.

Die Doktrin der Nicht-Einmischung bedeutet aber nicht, dass sie nicht gemeinsam auf eine Veränderung der Weltordnung hin zu einem multipolaren System hinwirken. Als Gruppe streben die vier Staaten gemeinsam an, entsprechend ihrer ökonomischen Kraft auch politisches Gewicht zu erlangen. Immer wieder argumentieren sie öffentlichkeitswirksam, die Struktur des internationalen Systems spiegele die real existierenden Machtverhältnisse nicht mehr wider. Insbesondere Indien und Brasilien treten gleichzeitig für eine größere Beteiligung in internationalen Organisationen wie dem UN-Sicherheitsrat oder dem Internationalen Währungsfond ein.

Die BRIC-Kooperation ist wenig institutionalisiert und erlaubt den beteiligten Staaten, jenseits von Differenzen partiell für gemeinsame Interessen und Ziele einzutreten und ihr Gewicht auf der politischen Bühne zu vergrößern. Zheng Bijian, ein chinesischer Denker und Politstratege, der schon Deng Xiaoping beraten hat, prägte den Begriff der communities of interest. Dieser geht davon aus, dass politische Zusammenarbeit auch jenseits von Systemgegensätzen und Wertedifferenzen möglich ist. Die derzeitige politische Lage deutet darauf hin, dass nach einem von ideologischen Gegensätzen bestimmten Jahrhundert nun ein pragmatischer Ansatz der internationalen Zusammenarbeit vorherrschend wird.

Die Einsatzkosten bleiben bei dieser Form der Zusammenarbeit gering. Denn Koalitionen sind auch jenseits von Konflikten und Gegensätzen möglich. Die BRIC sind keine Freunde, aber sie sind auch keine Feinde, sie sind vielmehr ‚Frenemies‘, Staaten, die Zweckgemeinschaften eingehen, die communities of interest bilden, aber gleichzeitig Konflikte und Spannungen untereinander haben. Das gemeinsame Auftreten der BASIC-Gruppe in Kopenhagen beim Weltklimagipfel hat gezeigt, dass die Formation der BRIC keine Ausschließlichkeit beansprucht. Die Länder bauen wechselnde strategische Partnerschaften zu anderen Mächten auf, wie beispielsweise Indien mit den USA oder Brasilien, das sich derzeit der EU annähert. Doch ganz gleich, welche Qualität die Formation der BRIC-Staaten hat, zweifellos wird diese Gruppe von Ländern in Zukunft an Einfluss gewinnen. Die bipolare Weltordnung gehört der Vergangenheit an.

Das gemeinsame Auftreten der BRIC-Staaten ruft bei den etablierten westlichen Akteuren wie den USA oder der EU häufig ein Konkurrenzdenken und damit verbundene Ängste hervor. Die derzeitige Ordnung des internationalen Systems beruht auf der Mächtekonstellation nach 1945. Bleiben diese Strukturen starr und verschließen sich weiterhin der derzeitigen Entwicklung, werden sich auch künftig alternative politische Institutionen und Bündnisse nach dem Vorbild der G20 bilden, die den erstarkenden Volkswirtschaften als politische Plattform und Sprachrohr dienen. Das bestehende Ungleichgewicht wird solange Motor für diese Entwicklung sein, bis eine Institutionenreform stattgefunden hat.

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