#Senderreform

Bunkermentalität beim ZDF? Oder Mut, Kraft und Willen zur Reform?

von , 30.1.12

Am vergangenen Samstag hatte Carta über die ZDF-interne Oppositionsgruppe „Freiheit für das Zweite“ berichtet. In diesem Bericht beziehen wir uns auch auf die Rundmail des stellvertretenden ZDF-Chefredakteurs Elmar Theveßen an seine Mitarbeiter. Der (immer noch verlinkungsresistente) Spiegel griff die Meldung am Sonntag (in der üblichen Verkürzung) auf.

Weil das öffentliche Interesse an den Vorgängen in einem öffentlich-rechtlichen Sender sehr groß ist, und weil Elmar Theveßen in seiner Rundmail ausdrücklich mehr „Transparenz“ einfordert, dokumentiert Carta den Brief in voller Länge. Denn einerseits ist dieser Brief ein alarmierendes Zeichen, wie sich das Mitarbeiter-Klima in einem von der Außenwelt weitgehend abgeschotteten ‚Bunker’ entwickeln kann, zum anderen macht er deutlich, welch übermenschliche Kraft es erfordert, einen Rundfunk-Supertanker wie das ZDF in die crossmediale Welt zu steuern. Theveßens Mut, die „Transformation“ des Senders tatsächlich anzugehen, sollte deshalb ebenso viel Beachtung finden wie die erschütternde Mutlosigkeit, die sich in Belegschaften gut versorgter Institutionen breitmachen kann.

Die Rundmail wurde übrigens nicht „jetzt“ verschickt, wie einige Meldungen suggerieren, sondern bereits am 30. Dezember. Hier das Schreiben im Wortlaut:

 

Liebe Kolleginnen und Kollegen,

wo fängt man an, wo hört man auf? Alles war so unübersichtlich in diesem Jahr, und das nächste wird vermutlich nicht besser. Damit meine ich noch nicht einmal die Ereignisse in der Welt – die waren mit unerwarteten Revolutionen, einer Triple-Katastrophe mit „Super-Gau“, dem eine atemberaubende Politik-Kehrtwende folgte, königlichen Hochzeiten, einer die Politiker überfordernden Euro-Krise und einem bemerkenswerten Diktatorensterben wirklich überraschend, widersprüchlich, bedrohlich und komplex genug.

Nein, es geht um uns, unsere Hauptredaktion und das ZDF, deren Lage uns so unübersichtlich erscheint. Dabei tendieren wir dazu, uns von allem Negativen so beeindrucken zu lassen, dass wir das Positive häufig übersehen. Das Schlimmste daran ist, dass deshalb bei manchen Zweifel aufkeimen, ob der Weg richtig ist, den unser Sender und unsere HR eingeschlagen haben. Aus diesem Grund setze ich einem zermürbenden Defätismus diese Jahres-Abschluss-Mail für mehr Transparenz, für mehr „miteinander reden“ als “übereinander reden“ und für mehr mutiges Engagement in neuen Projekten entgegen.

Als Nachrichtenmacher wissen wir nur zu gut, dass es keine Gewissheiten gibt und geben kann über das, was künftig geschieht. Ohne neue Wendungen und überraschende Ereignisse gäbe es keinen Bedarf, über diese zu berichten und die Hintergründe zu erklären. Darauf zu reagieren ist unsere große Stärke. Aber die können wir nur ausspielen, wenn wir selbst agieren, um die notwendigen Rahmenbedingungen zu schaffen, und dafür müssen auch wir uns auf unerforschtes Gebiet wagen. Franz Kafka hat das einmal auf den Punkt gebracht: „Wege entstehen dadurch, dass man sie geht.“

Bei diesem Satz gibt es zwar auch keine absolute Gewissheit, dass er wirklich von Kafka stammt, aber dennoch die Sicherheit, dass sein Inhalt wahr ist. Nur wenn Menschen sich entschließen, aus Strukturen auszubrechen, um sie neu zu gestalten, kann es Veränderung und Fortschritt geben. Sonst bleibt es beim Stillstand. Da Strukturen und Gewohnheiten aber viel Macht über Menschen haben, braucht Veränderung drei Voraussetzungen, um erfolgreich sein zu können:

Sie braucht unseren unerschütterlichen Willen, ein als strategisch wichtig erkanntes Ziel auch zu erreichen, ob auf dem einen oder dem anderen Weg; sie braucht den Mut, sich auf das Ungewisse einzulassen und dabei auch Risiken einzugehen; und sie braucht die Kraft, sich selbst und anderen Fehler einzugestehen und aus ihnen zu lernen. Ich glaube fest daran, dass wir das können, weil ich es in den vergangenen Jahren bei Ihnen und Euch oft genug erlebt habe. Hochmotivierte Mitarbeiter/innen in Redaktion, Produktion, Kamera, Schnitt, Grafik und anderen Bereichen haben ein neues, revolutionäres Nachrichtenstudio erschaffen, jede Weltlage – von Kriegen über Tsunamis bis zu politischen Erdbeben – bestens bestanden und unser Programm mit unzähligen, kreativen Ideen wie 100sec, heute plus, Expedition Deutschland, pro und contra, specials und vielem mehr bereichert.

Dabei haben wir gemeinsam dafür gekämpft, dass wir für neue Herausforderungen auch zusätzliche Mitarbeiter/innen bekamen und dass diese, weil sie gut waren und gebraucht wurden, auch bleiben konnten – nicht nur Redakteure, sondern auch Cutter, Grafiker, Techniker. Wenn wir das nicht getan hätten, dann hätte es einige Innovationen wie die 100sec nie gegeben und wären einige von Ihnen und Euch vielleicht nicht beim ZDF beschäftigt – schon gar nicht mit nun für viele unbefristeten, sicheren Verträgen.

Doch dann bedarf es nur einer kleinen Meldung im Spiegel und schon fühlen sich manche von der Geschäftsleitung betrogen, weil diese doch die KEF getäuscht habe und nur deshalb nun die massiven Einschnitte im Personalbereich notwendig seien. Ein genauer Blick in den KEF-Bericht hätte ergeben, dass es sich bei der Spiegel-Meldung in erster Linie um böswilligen Spin und damit selbst um eine Täuschung der Öffentlichkeit handelt. Denn die KEF lobt in ihrem Bericht ausdrücklich die vorausschauende Personalpolitik des ZDF. Angesichts knapper Haushalte verordnet sie dem Sender allerdings einen extrem harten Sparkurs, weil durch den Ausbau der Programmangebote in den vergangenen Jahren die Kosten aus dem Ruder zu laufen drohen.

Tatsächlich werden u.a. durch die vorgesehenen Gehaltssteigerungen immer mehr Programmgelder aufgebraucht, sodass wir jetzt an einem Scheideweg stehen. Wir können nicht mehr jeden Wunsch aller gesellschaftlichen Gruppen erfüllen und uns gleichzeitig in allen Bereichen technisch und inhaltlich weiterentwickeln, wie es uns das Urteil des Bundesverfassungsgerichts garantiert. Wir müssen darüber entscheiden, auf was wir verzichten und wie wir unsere Strukturen so verändern, dass wir möglichst modern und effizient arbeiten. Diese Entscheidungen sind unvermeidlich. Wer glaubt, dass wir an jeder Ecke weiter sparen und kürzen können, ohne dass die Qualität leidet, der befindet sich im Irrtum. Flächendeckende Exzellenz auf allen Kanälen rund um die Uhr ist nicht machbar. Solch eine Selbsttäuschung führt am Ende nur zu flächendeckender Mittelmäßigkeit im Programm und damit zur Verzichtbarkeit in dieser Gesellschaft. Diese eindringliche Warnung habe ich mündlich und schriftlich an die übergeordneten Stellen im ZDF kommuniziert.

Unser Ziel ist deshalb: Hohe Qualität in unserem Kerngeschäft eines bildorientierten Multimediaunternehmens, das mit herausragender Exzellenz an den wichtigen Stellen – und dazu gehört in besonderem Maße die tagesaktuelle Berichterstattung – seine Existenzberechtigung in dieser und für diese Gesellschaft eindrucksvoll unter Beweis stellt. So sieht der Entwurf für das ZDF der Zukunft aus.

Aber wenn man, wie wir, im wahrsten Sinne des Wortes von Baustellen umgeben ist, fällt der Blick aufs große Ganze schwer. All die Baustellen sind Teil der notwendigen Transformation unseres Senders. Wir arbeiten gerade Konzepte ab, die schon vor Jahren entworfen, aber nicht umgesetzt wurden, weil der Mut zur Veränderung fehlte, weil der Status Quo als das geringere Risiko angesehen wurde und weil es angesichts eines Zwei-Milliarden-Haushalts auch das Gefühl gab, man könne es weiterhin allen recht machen. Jetzt ist der Druck endlich groß genug, das nachzuholen, was andere Medienunternehmen schon längst vollzogen haben: Die Umstellung von der sendungsbezogenen zu einer themengetriebenen Arbeit, die crossmedial ausgerichtet ist.

Wesentliche Maßnahmen dafür sind:

  • Bau eines virtuellen Studios mit crossmedialer Nutzung
  • Zusammenlegung von Innen- und Außenpolitik
  • Schließung der Nachrichtenlücke in der ARD-Woche
  • Streamlining der Nachrichtensendungen am Tag, verbunden mit effizienterem Personaleinsatz
  • Stärkung von 19 Uhr heute und heute nacht
  • crossmediale Nachrichten aus einer Hand mit heute und heute.de innerhalb der HR Aktuelles
  • Umbau des Newsrooms mit enger Verzahnung von Logistik und Inhalten für tagesaktuelle Sendungen (Newsdesk)
  • Einrichtung von Kompetenzteams/-zentren, die hauptredaktionsübergreifend und themenbezogen arbeiten
  • Schaffung eines Planungszentrums, in dem unterschiedliche Redaktionen gemeinsam transparent planen
  • Neukonzeption der Mittagsschiene mit deutlicher Konzentration des Informationsprofils

All diese Vorhaben basieren auf Überlegungen und Konzepten, die schon vor Jahren innerhalb der Redaktionen und/oder in jüngerer Zeit durch Arbeitsgruppen innerhalb der HR Aktuelles (zum Teil auch mit der HR Neue Medien) entwickelt wurden. Diese Ideen werden nicht von oben aufgedrückt, sondern seit fast zwei Jahren – also deutlich vor den Sparforderungen – von der Führungsebene vorangetrieben. Die Leitungsteams der aktuellen Redaktionen und der Hauptredaktion Aktuelles wollen neue Wege entstehen lassen, indem wir sie – endlich – gehen. Wir alle gemeinsam in allen Bereichen haben jetzt die einmalige Chance, das ZDF so modern zu gestalten, wie wir es uns schon seit vielen Jahren wünschen. Und es gibt keinen Grund, warum wir nicht gemeinsam erfolgreich sein könnten, wenn wir den Willen, den Mut und die Kraft aufbringen.

Dabei stehen wir uns manchmal selbst im Weg. Die Ausdehnung der heute in der ARD-Woche ist ein Beispiel dafür. Warum glauben viele den ARD-Intendanten mit ihrem propagandistischen Trommelfeuer mehr, als den eigenen Führungskräften? Der eine Grund ist sicherlich, dass die Kommunikation des Vorhabens offenbar nicht gut oder nicht überzeugend genug war, obwohl wir den Plan seit vielen Monaten in emails und Redezeiten immer wieder erläutert haben. Da müssen und werden wir besser werden (Achtung: Nicht nur guter Vorsatz, sondern Versprechen für 2012!). Aber der andere Grund ist – auch da sollten wir ehrlich sein – eine präventive Überzeugung bei manchem von uns, dass die Reformen nicht erfolgreich sein können und dass sie deshalb per se schlecht sind.

Das ist der Defätismus, den ich eingangs erwähnte. Wo ist der Mut, wo ist die Kampfeslust, die viele von Ihnen und Euch gerade im Umgang mit unseren Wettbewerbern früher immer eingefordert haben? Die zu zeigen, das Glas nicht als halbleer sondern als halbvoll anzusehen, das würde ich mir von uns allen für das Jahr 2012 wünschen – ebenfalls als Versprechen, nicht nur als guten Vorsatz. Wir werden die Transformation nur schaffen, wenn wir uns gegenseitig mehr Vertrauen schenken. Dazu gehört auch Ihr/Euer Vertrauen in unsere Entscheidungen, die wir vorher diskutieren, aber dann in der Praxis erproben, miteinander bewerten und dann – wo es notwendig ist – nachsteuern.

Diese Entscheidungen sind nicht willkürlich, sondern entstammen langfristigen Konzepten und sind wohl begründet. Verschwenden wir unsere Kräfte nicht in gegenseitigem Misstrauen. Dieses Misstrauen – wenn überhaupt – sollte sich eher gegen Stimmungsmacher von außen richten, die nichts anderes im Sinn haben, als uns im Wettbewerb zu schwächen. Da ist es entlarvend, wenn der stv. Chef von ARD aktuell in einem Artikel der Süddeutschen Zeitung diese Woche den eigenen Intendanten deutlich widerspricht: Dank EinsExtra sei die Ausdehnung der Tagesschau in der ZDF-Woche „aus dem Stand“ zu schaffen, ohne nennenswerten Mehraufwand und ohne zusätzliche Sendungen, denn es gebe diese Ausgaben ja schon im Digitalkanal.

Für den couragierten Blick nach vorn haben wir – trotz der Spardiskussionen – beste Voraussetzungen. Wir sind nicht die FDP, sondern das ZDF – mit den besten, verständlichsten und verlässlichsten Nachrichten in Deutschland. In unseren tagesaktuellen Sendungen bieten wir noch stärker als bisher Themen, die die Menschen wirklich angehen. Unsere Landesstudios liefern tolle Berichte und Reportagen. Wir verfügen über die profiliertesten Moderator/innen und das analytisch stärkste Korrespondentennetz. Wir haben erstklassige Krisenreporter und hochprofessionelle Produktioner, die auch unter schwierigsten Bedingungen alles möglich machen. Wir senden großartige Dokumentationen und Reportagen, haben wunderbare Fernsehfilme und Krimis, sehr erfolgreiche Shows und die mitreißendste und kreativste Sportberichterstattung, die dank der Champions League dem ZDF künftig jedes Jahr mehr als ein dutzendmal zusätzlich Quoten im „Wetten Dass“-Bereich beschert.

In allem können und müssen wir noch besser werden und dafür unsere Strukturen kontinuierlich weiterentwickeln. Zu Jahresbeginn werden wir die Arbeitsgruppen für unser Leitmotiv „Alles, was Sie heute angeht“ anschieben. Im Frühjahr kommen der Newsdesk und die neue Konzeption der Finanz- und Wirtschaftsberichterstattung. Gemeinsam mit der HR Neue Medien bereiten wir den Wechsel der heute.de in unsere Hauptredaktion vor. In 2012 werden wir auch das Konzept für ein gemeinsames Planungszentrum aller tagesaktuellen Sendungen, den sogenannten NewsHub, erarbeiten. Und „junge Nachrichten“ im Hauptprogramm und einem Digitalkanal rücken in greifbare Nähe – wenn wir bereit sind, an anderer Stelle dafür etwas zu streichen. All dies wird nicht getrieben von den Sparvorgaben, sondern von der Einsicht, dass ein moderner, crossmedialer Sender entsprechende Arbeitsweisen braucht. Aber natürlich wird die Transformation uns auch helfen, künftige Sparrunden besser zu überstehen.

Uff, das musste alles mal raus. Und es wäre noch viel mehr zu sagen über manche Neuerungen im neuen Jahr. Aber der Blick aufs große Ganze soll dadurch nicht vernebelt werden.

Liebe Kolleginnen und Kollegen in der Hauptredaktion und dem Produktionsmanagement Aktuelles,

Liebe Mitarbeiter/innen in allen redaktionellen, produktionellen und technischen Bereichen, mit denen wir zusammenarbeiten und auf deren Unterstützung wir uns immer verlassen können, ich danke Ihnen sehr für Ihren Einsatz, Ihren großartigen Beitrag zu einem tollen Programm und für Ihre kritische Begleitung unserer gemeinsamen Arbeit!

Für das neue Jahr wünsche ich Ihnen und Ihren Familien von Herzen Glück, Gesundheit und Gottes Segen! Auf ein gutes Jahr 2012!

Elmar Theveßen

 

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