Bissinger: Warum Journalisten auch als „Täter“ gefragt sein können

von , 17.5.11

Das Fachmagazin Meedia nannte diesen Essay eine „eine scharfe und treffende Analyse der Situation der Medienhäuser“ und titelte „Bissinger fordert das Verleger-Internet“.

Carta veröffentlicht den Einleitungstext von Manfred Bissinger zur diesjährigen Buchausgabe des Henri Nannen Preises.

Von Manfred Bissinger.

"Altmeister" Bissinger: Fahrlässige Verlage und eigensüchtige Blogger (Foto Hoffman und Campe)

Vorbemerkung:

Als ich gebeten wurde, die ersten Seiten des eindrucksvollen Bandes zum Henri Nannen Preis mit den „besten Arbeiten der deutschsprachigen Presse 2010“ mit einem Essay einzuleiten, da konnte meine Antwort nur Ja! sein.

Gibt es doch wenig geeignetere Orte dem anschwellenden Gemurmel von der Krise des Gedruckten im Zeitalter des Internets zu widersprechen.

Angefangen hatte es vor Jahren mit Meldungen über bröckelnde Auflagen, sinkende Anzeigenumsätze und wöchentlich steigende Klickzahlen. Die daraus folgende Sinnkrise von Verlegern und Journalisten füllte schon bald Bücher. Doch die erörterten Rezepte zur Rettung von Zeitungen und Magazinen waren selten offensiv; mit ihnen hätten auch Schraubenfabriken dem Markt angepasst werden können: Produktionsprozesse straffen, Rohstoffe verbilligen, Personal abbauen.

In der Printbranche aber sind Investitionen in Köpfe und Kampf um User angesagt. Bevor allerdings die Schwerter gekreuzt werden, sollten wir uns noch einmal unserer selbst vergewissern: Woher Kommen wir, wer sind wir, was treibt uns? Vor allem auch: Welche Fehler machen wir?

1.
Die neuere journalistische Zeitrechnung beginnt mit dem 9. Mai 1945. Die alliierten Truppen hatten Deutschland nach zwölf Jahren Gewalt und gleichgeschalteter Presse von der Naziherrschaft befreit und den moralischen Befehl ausgegeben, aus der unübersehbaren geistigen und ethischen Trümmerwüste ein demokratisches Staats- und Gemeinwesen zu formen. Es war die Stunde Null einer neuen kritischen Öffentlichkeit. Sie sollte einerseits das Gesetz von Ursache und Wirkung im nationalen Bewusstsein verankern und andererseits den Stolz der Menschen wiederbeleben.

Zugegeben, den Deutschen war die Demokratie aus den Jahren der Weimarer Republik bekannt, aber geliebt hatten sie – obrigkeitshörig und staatsgläubig, wie sie nun mal gewesen sind – diese freieste aller Regierungsformen so richtig nie. Schließlich hatten sie 1933 Hitler mit millionenfachem Jubel als Befreier begrüßt, auch weil er versprach, den Volksgenossen alle wichtigen Entscheidungen abnehmen zu wollen.

2.
Die Siegermächte der Amerikaner, Russen, Briten und Franzosen waren fest entschlossen, die Deutschen so lange zu traktieren ¬- sie nannten es re-education – bis auch der Letzte gelernt hätte, die geschenkte Freiheit nicht nur zu leben, sondern auch zu lieben. Vom deutschen Boden sollte niemals mehr Gefahr oder gar ein Krieg ausgehen. Es dauerte vier Jahre, bis die untereinander längst zerstrittenen Alliierten glaubten, den nächsten Gang einlegen zu können.

Dem westlichen Teil des Landes wurden unter dem Namen Bundesrepublik Deutschland erste Schritte zur staatlichen Hoheit gewährt. Der Osten war den Polen zugeschlagen worden, weil die unter der Hitlerschen Mord-Maschinerie besonders gelitten und die eigenen Ostgebiete an die Sowjetunion abzutreten hatten. Mitteldeutschland wurde von den Russen kurzerhand als Deutsche Demokratische Republik zur Volksdemokratie erklärt und damit zu weiteren vierzig Jahren in diktatorischer Abhängigkeit und ohne freie Presse verurteilt.

3.

Um die Demokratie zu befördern, stand im Westen der Aufbau einer kritischen Öffentlichkeit ganz oben auf der politischen Agenda. Die Erziehung zur kontroversen Auseinandersetzung als Voraussetzung für ein Leben in Frieden und Unabhängigkeit. Die Freiheit von Meinung und Dichtung, von Wissenschaft und Kunst als verbrieftes Recht für jedermann. Ein für allemal sollte das Prinzip der Gewaltenteilung zwischen Exekutive und Legislative sowie der Jurisdiktion als schlichtender unabhängiger dritter Macht verankert werden. Waren es doch die Richter, die sich neben den Redakteuren, den Professoren und den Medizinern als besonders willfährig gegenüber der Hitlerei erwiesen hatten.

4.

Auf dem steinigen Weg in die demokratische Zukunft war der gedruckten Presse und den Rundfunkanstalten eine herausragende Rolle zugedacht. Die westlichen Besatzungsmächte erteilten Lizenzen und achteten penibel darauf, dass alle politischen Richtungen (selbst die Kommunisten) zum Zuge kamen; das Radio organisierten sie von Anfang an nach britischem Vorbild öffentlich-rechtlich.

Die Verfassungsväter stützten die freie Öffentlichkeit mit besonderem Nachdruck. Das Recht auf Meinungsfreiheit und das Zensurverbot verankerten sie im Grundgesetz weit vorne im Paragraphen 5, direkt nach der Glaubens- und Gewissensfreiheit und noch vor dem Schutz von Ehe und Familie. Das Pro und Contra galt fortan als wichtige Grundlage für die Meinungsbildung. Die Deutschen sollten wieder selbstbewusst und vor allem selbst denken; das System von Befehl und Gehorsam endgültig Vergangenheit sein. Ihr eigentliches Ende fand diese Vergangenheit erst zwanzig Jahre nach der tatsächlichen Befreiung, als Studenten und Schüler aus den „Talaren den Muff von 1000 Jahren“ zu vertreiben wussten.

5.
Lange zuvor hatte die Stunde der jungen begabten Männer geschlagen, die die von den Siegern gebotenen Chancen nutzten und sich als Journalisten, Publizisten und Verleger engagierten. Sie blieben nach ihrem Tod unsterblich und ihre Namen haben noch heute Glanz:

Axel Springer, der BILD erfand und Hörzu verlegte; Gerd Bucerius, der mit der Gräfin Dönhoff DIE ZEIT zu großer Blüte führte; Henri Nannen, der seinen STERN zum “Reichsgericht des kleinen Mannes“ ausbaute; Paul Sethe, Karl Gerold und Werner Friedmann, die mit Frankfurter Allgemeine, Frankfurter Rundschau und Süddeutsche Zeitung drei bis heute tonangebenden Zeitungen ins Leben riefen, und natürlich – unvergessen – Rudolf Augstein, der, noch keine 25 Jahre alt, mit seinem vom angelsächsischen investigativen Journalismus geprägten Nachrichtenmagazin SPIEGEL manch autoritären Rückfall der jungen Demokratie stoppte.

Der neue respektlose Ton und die ungewohnt selbstbewussten Kommentare brachten den Magazingründer schließlich 1962 hinter Gittern. Zum ersten Mal im Nachkriegsdeutschland zeigten Zehntausende, dass sie die gewünschte Lektion gelernt hatten, sie gingen für Augstein und den SPIEGEL, für Pressefreiheit und gegen restaurative Tendenzen auf die Straße. Republik und Demokratie hatten ihre erste Bewährungsprobe bestanden. Von da an war es vorbei mit der Adenauerschen „Demokratur“.

6.
Rudolf Augstein („Im Zweifel links“) zählte sich fortan wie Axel Springer (rechts), Henri Nannen (liberal) oder Gerd Bucerius (liberal-konservativ) zu den „Tätern“, wenn es darum ging, meinungsstark für politische und ökonomische Ziele, für Fortschritt und Freiheit einzutreten. Es waren die Goldenen Jahre des Meinungsjournalismus. Die Welt harrte darauf, entdeckt zu werden, die Menschen hungerten nach mutigen Geschichten. Wissen war schon damals die harte Währung für den Aufstieg.

Die Verlage verdienten üppig. Es gab weder kommerzielles Fernsehen noch Radio, vom Internet ganz zu schweigen, den Werbekuchen konnten die großen Häuser unter sich aufteilen. Die Redaktionen schöpften aus dem Vollen. Es floss viel Geld für aufwändige Recherchen, lange Reisen, auch für exorbitante Gehälter der Redakteure und Honorare der Autoren. Selbst den Erbsenzählern in den Verlagsleitungen kam es auf einen Reporter mehr oder weniger nicht an. Die Zahl der Mitarbeiter war eher durch die vorhandenen Zimmer eingeschränkt als durch das Budget. Journalisten und Verlage lebten in einer glückseligen Einheit aus Ansehen und Erfolg.

7.
Alle wussten, was es zu verteidigen galt. Die meisten Chefredakteure und Verleger hatten die nationalsozialistische Indoktrination noch am eigenen Leib erfahren. Henri Nannen, der Namensgeber des bedeutenden deutschen Journalistenpreises, war es, der seine Kaste feinsinnig in „Merker“ und „Täter“ unterteilt hatte. Die „Merker“ hatten die Realität zu beschreiben, so wie sie sich täglich offenbarte, aber sie durften nicht erkennen lassen, wo sie selbst standen. Tageszeitungen und Nachrichtensendungen mussten (und müssen) so arbeiten; sie verfälschten sonst die Realität.

Die „Täter“ dagegen wollten über die Information hinaus Wirkung erzielen. Für Henri Nannen, der Journalismus noch aus Liebe, Lust und Leidenschaft betrieb, aber auch für den rationaler denkenden Rudolf Augstein war das die Aufgabe kritischer Magazine. Dazu bedurfte es investigativer Recherche, einer lesbaren Sprache und nacherzählbarer Stories. Wenn es beispielsweise um die Frage der Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze ging, dann war Nannen nicht damit zufrieden, in einem Kommentar eindeutig Position zu beziehen, er schickte Reporter nach Polen. Sie sollten im schlesischen Grünberg (Zielona Góra) alle, (ja, wirklich alle) Bewohner des Marktplatzes besuchen, ihr in der Regel tristes Schicksal beschreiben, sie waren Vertriebene aus Ostpolen. Aber damit nicht genug.

In Deutschland wurden all’ jene (ja, wirklich alle) gesucht, die vom Marktplatz vertrieben worden waren. Und siehe da: Letzteren ging es zumeist blendend, sie waren längst integriert, vor ihren Häusern parkten VW oder Mercedes, während die Ostpolen um ihre Existenz kämpften. Die gut aufbereiteten Fakten sollten die STERN-Leser davon überzeugen, dass eine Rückkehr in die alte Heimat nur neues Leid und Unrecht auslösen würde und diese – nicht nur wegen des Geredes von Ursache und Wirkung – verloren ist.

8.
Die großen Verlage, die sich durch Fusionen und Zukäufe konsolidiert hatten, profitierten vom fruchtbaren Streit ihrer Redaktionen über Richtung und Rolle der neuen Republik. Die Schlachtordnung war klar: auf der einen Seite die Springer-Blätter plus FAZ, Bunte und Quick, auf der anderen SPIEGEL, STERN, DIE ZEIT, Süddeutsche Zeitung und Frankfurter Rundschau, immer öfter gesellten sich die Öffentlich-Rechtlichen dazu; rechts von der Mitte die Südschiene der ARD und das ZDF und links davon NDR und WDR mit den streitbaren und investigativ recherchierenden Magazinen von Monitor und Panorama.

Journalisten und Verleger bewegten die Öffentlichkeit, sie beförderten das gesellschaftliche Engagement, sie agierten als Vierte Gewalt im Staat und erfüllten die ihnen aufgetragene Wächterrolle. Unterstützten beispielsweise Springer und seine Blätter kompromisslos die Wiederbewaffnung, die Westorientierung der Bundesrepublik sowie den Beitritt zur Nato, so suchten die liberalen Blätter die verkrusteten Strukturen aufzubrechen. Sie setzten Zeichen in der Innenpolitik, kämpften gegen die Paragraphen 175 (Homosexualität) und 218 (Abtreibung), gegen den Radikalenerlass, und sie förderten die antiautoritäre- ebenso wie die Emanzipationsbewegung. Sie verhalfen Willy Brandts Ostpolitik zu einem triumphalen Sieg und legten so den Grundstock für die spätere Wiedervereinigung 1989.

Die öffentlichen Schlachten faszinierten das Publikum, die permanent ausgetragene Fehde um den richtigen Weg brachte den Medien Aufmerksamkeit und Anerkennung. Einig waren sich die journalistischen Kontrahenten nur ein einziges Mal: Im Jahr 1989, als die Mauer fiel und Deutschland wieder einig Vaterland wurde, als zusammen wuchs, was zusammen gehörte. Da standen die großen Blätter rechts und links der Mitte geschlossen an der Seite des Kanzlers Kohl, der bis dahin Objekt heftigster Attacken vor allem liberaler Publizisten gewesen war.

9.
Die kaum noch für möglich gehaltene deutsche Einheit löste in den Medienkonzernen hektische Betriebsamkeit aus. Die Verlage suchten in die neuen Bundesländer zu expandieren, der publizistische Markt sortierte sich neu. Doch die Millionengewinne der 70er und 80er Jahre waren dahin geschmolzen. Erstmals seit dem von den Alliierten veranlassten Neustart zogen Wolken auf.

Die „Täter“ waren abgetreten, der das Publikum aufwühlende engagierte Meinungsstreit verflachte mit jedem Jahr mehr. Die bleiernen Kohljahre legten sich aufs Gemüt der Journalisten. Eine neue, eine unpolitische Managergeneration war weniger auf Inhalte, denn auf Profit fixiert. Der Kampf um die Werbemillionen wurde härter, die Inhalte der Blätter dafür seichter. Immer mehr Journalisten definierten sich nicht mehr als Aufklärer, sondern als Dienstleister einer auf Service orientierten Gesellschaft.

Mit dem Start der privaten Fernsehkanäle buhlten nicht mehr nur drei Programme um die Aufmerksamkeit der Zuschauer, über Nacht sendeten zwanzig und es wurden Monat für Monat mehr. Aus Mangel an Exklusivität flüchteten sich die neuen Sender in die Boulevardisierung und Skandalisierung. Es war die Geburtsstunde der hirn- und sinnfreien TV-Unterhaltungsindustrie – vom Notdurft-Container Big Brother bis zum Ekel-Camp im Dschungel. Die Formel – die Toten und die Zoten bringen die Quoten – war schlicht: Ohne Zuschauer keine Werbung, ohne Werbung kein Geld, ohne Geld kein Programm.

Der investigative Journalismus als Visitenkarte hatte bei den Neuankömmlingen auf dem Medienmarkt keine Chance. Der Hang zur Selbstentblößung wurde zum Charaktermerkmal für öffentliche Aufmerksamkeit. Die Kollateralschäden waren bald zu besichtigen. Bei ARD und ZDF ebenso wie in den bislang seriösen Zeitungen und Magazinen, in denen immer mehr bunte Seiten die bisherigen Inhalte verdrängten.

10.
Die Krise eskalierte, inhaltlich wie ökonomisch, als der technische Fortschritt und mit ihm das Internet zum Sprung ansetzen, lieb gewordene Lese- und Sehgewohnheiten zu revolutionieren. Ein faszinierendes Medium voll ungeahnter Möglichkeiten des Infotainment, der Interaktivität, der Mitsprache. Ein grandioses Archiv für jedermann, dazu ein erfolgversprechender Verkaufskanal für Konsumgüter, aber auch für Theaterkarten oder Bahntickets.

Das neue Medium ist demokratischer und aktueller als alles was es bisher auf dem Medienmarkt gab. Die westlichen Alliierten hätten ihre Freude daran gehabt. Jeder hat Zugang, jeder kann in der unendlichen Weite des world wide web surfen. Inzwischen reicht sogar das Handy zum Gebrauch.

Keine Überraschung, dass sich dieses Internet über Nacht zur mächtigen Konkurrenz für die Verlage entwickelt. Das Geschäftsmodell, Nachrichten, Analysen, Unterhaltung gegen Gebühr gerät nach Einführung der kostenlosen privaten Fernsehprogramme ein weiteres Mal ins Wanken. Es schien offen, ob die bisherige Faustregel Bestand haben könnte: Zeitungen und Zeitschriften verdrängen das Buch nicht, das Radio bringt die Print-Medien nicht in Gefahr, und neben dem Fernsehen gedeiht der Rundfunk prächtig. Auch das Internet muss die herkömmlichen Medien – allen Unkenrufen zum Trotz – nicht zwangsläufig ins Abseits drängen. Das WWW ist eben nur ein und nicht der Vertriebskanal des 21. Jahrhunderts.

11.
Dass das Internet sich überhaupt nachhaltig als mediale Alternative in das Bewusstsein der Konsumenten schleichen konnte, ist der Fahrlässigkeit der Verlage geschuldet. Sie erkannten zu spät die Sprengkraft des Netzes und behandelten es von oben herab. Es schien ihnen gerade mal tauglich als Marketing-tool für ihre Titel, aber wenig sinnvoll für den Verkauf ihrer Inhalte, von den Managern gern content genannt.

So wanderten die von Journalisten erarbeiteten Geschichten kostenfrei ins Netz, und die Verlage waren zufrieden, wenn möglichst viele user sie anklickten. Unbedacht und leichtfertig verschenkten sie damit Vertriebserlöse, die das rückläufige Anzeigengeschäft hätten kompensieren können. Denn um die Werbemillionen konkurrierte jetzt ja auch noch das Internet. Waren die Verlage bei Buch, Radio und TV noch bemüht gewesen, die Verwertungskette selbst zu bestimmen, so verzichteten sie beim Internet von vorne herein auf Erlöse und begriffen erst spät, dass der neue Weg zum Konsumenten den bislang erfolgreichen über alle Maßen schädigen konnte.

Der Traum vom Internet als Appetizer für das gedruckte Wort verflüchtigte sich schnell. Die Auflagen schmolzen dahin, das Ruder wieder herumzureißen, erwies sich als schwierig bis illusorisch. Wer zahlt schon gerne freiwillig für etwas, was ihm über Jahre kostenfrei zur Verfügung stand? Und noch etwas dämmerte den Managern zu spät: Dass das Internet ein genialer Marktplatz sein könnte, genialer als alle Rubriken es in ihren Objekten je waren. Warum ist ebay keinem Verlag eingefallen? Warum ist es keiner journalistischen Marke gelungen, um sich herum ein soziales Netzwerk aufzubauen? Das hätte einträglicher sein können, als der Süddeutsche-Weinhandel oder die BILD-Bibeln.

Wir erinnern uns: Als privates Fernsehen zugelassen wurde, gründeten die Medienhäuser ein Verlegerfernsehen, um einen Fuß in die Tür zu stellen. Einen gemeinsamen Auftritt als Verleger-Internet haben sie nicht einmal diskutiert; schon gar nicht die Eigenentwicklung eines dazugehörigen Bezahlsystems. Das blieb der Krake Google überlassen, die auch die überragende Archiv- und Serviceperformence des www erfolgreich auszubeuten wusste.

12.
Das Kulturgut Print steht auf dem Spiel. Die Haptik, die Eleganz, die Verfügbarkeit von Zeitungen und Zeitschriften. Es ist höchste Zeit, die Verwertungskette für journalistische Arbeiten ins Internet zu verlängern; nach Jahren der freien Verfügbarkeit Gebühren für Berichte, Analysen, Reportagen zu kassieren.

In den USA, die in ökonomischen Fragen Europa oft mehr als einen Schritt voraus sind, haben Verleger und Redaktionen längst zur Umkehr geblasen. Wall Street Journal, New York Times und einige Magazine stellen ihren content nur noch kostenpflichtig zur Verfügung. Es gibt gute Gründe und erste Zahlen, an einen Erfolg dieser Offensive zu glauben. Warum auch sollten Abonnenten ihren SPIEGEL nicht auf dem iPad oder ihren Stern auf dem Computer lesen? Erste zaghafte Versuche sind angelaufen. Warum nicht wie amazon, ebay oder der Otto-Versand im Internet Geschäfte betreiben? Bisher scheint da einzig BILD erfolgreich zu sein. .

13.
Dieses Buch dokumentiert die journalistische Kraft die Kolleginnen und Kollegen zu entwickeln in der Lage sind. Schreiberische Höchstleistungen, an denen Henri Nannen und seine berühmt gewordene Schwiegermutter (die er als Maßstab für Geschichten zitierte, die beim Leser gut ankamen, was natürlich freihändig erfunden war) ihr Vergnügen gehabt hätten. Möglich sind solche Arbeiten aber nur mit starken und kreativen Verlagen im Rücken.

Wir sollten also den erhobenen Zeigefinger wieder einfahren und aufhören, Untergangsszenarien zu beschwören. Auch Wehleidigkeit hilft wenig. Es stimmt schon, was die Alliierten wussten, als sie Deutschland wieder auferstehen ließen: Ohne Journalismus keine Aufklärung und ohne Aufklärung keine Demokratie. Große Worte, und doch: Mit ihnen zu trommeln, muss Teil der Überlebensstrategie sein. Wir dürfen uns nicht länger von der Eiligkeit des Netzes treiben lassen und zu unbedacht, zu schlecht recherchiert, zu wenig reflektiert in die Tasten hacken.

Es reicht, wenn dies die sogenannten Leser-Reporter tun, für die das Netz das wahre Paradies ist, aber deren – meist unter falschem Namen gesendete – blogger-Blähungen der Tod jeder inhaltlichen Debatte sind. Das Internet in seiner oft stupiden Oberflächlichkeit und ohne jede Quellensicherheit darf für den Print-Journalismus nicht stilprägend werden. Das investigative Handwerk – eigener Blick, eigene Fragestellung, eigene Handschrift ist zu verteidigen; Stern und SPIEGEL, Süddeutsche und Frankfurter Allgemeine Zeitung sind mit diesen Standards zu journalistischen Marken aufgestiegen, vergleichbar den großen deutschen Industrie-Brands BMW oder VW, Bosch oder Siemens.

14.
Über all dem aber muss guter Journalismus verkäuflich sein, ohne gekauft werden zu können. Er muss zuspitzen und Haltung zeigen. Gerade da scheitert das Netz am häufigsten. Die Blogger-Szene ist ein Marktplatz eigensüchtiger Präsentationen. Vieles, was einem tagtäglich entgegen googelt, ist interessengeleitet oder fremdbestimmt. Da hat das manipulierte Falsche ebenso seinen Auftritt, wie das recherchierte Wahre. Die Skandale um verfälschte Biografien bei Wikipedia sind nur die Spitze des Eisberges. Und die hochgejazzten Twitter, facebook oder StudiVZ tropfen nur so vor eitler Selbstbespiegelung. Sie markieren das Ende des Privaten. Mit all den schrecklichen Folgen für unser tägliches Zusammenleben. Daran ändert auch nichts, das Blogs, Twitter und Facebook in Krisensituationen, wie in Ägypten oder in Japan, eine nicht zu unterschätzende Verständigungsquelle sein können.

15.
Noch ist der Journalismus im Internet eine Wundertüte, die ihre seriösen Inhalte aus den Printmedien bezieht. Ohne deren Texte und Fotos würde sie schnell an Geschmack verlieren und müsste ziemlich schnell geistige Insolvenz anmelden.

Wenn also Verleger, Redakteure und Autoren den Mut fänden und sich verabredeten, ihre Kunst der Zuspitzung, ihre Kraft zu Auswahl und Reduzierung, ihre Fähigkeit zu Recherche auf einen Schlag kostenpflichtig zu machen, dann wäre das Gemurmel um die Krise des Gedruckten schnell verstummt. Um eine solche Allianz zu schmieden, aber wären einmal mehr „Täter“ gefragt, solche, wie es Henri Nannen, Axel Springer, Rudolf Augstein oder Gerd Bucerius waren. Die hätten sich von einer neuen Technik, von einem noch so genialen Vertriebskanal nicht ins Bockshorn jagen lassen. Sie hätten ihn bespielt. Mit ihrem content und natürlich gegen Bares.

Nachbemerkung:
Was wir gerade in der Causa Guttenberg bewundern durften, die friedliche Kooperation, ja, sogar die Zusammenarbeit zwischen Print und Internet könnte als Muster für die Zukunft taugen. Da traten erstmals wie in guten alten Zeiten SPIEGEL und Stern auf der einen und BILD und Welt auf der anderen Seite gegeneinander an. In bester „Täter“-Manier. Und das Internet führte mit seiner ausgereiften Suchmaschinentechnik exemplarisch das ganze Ausmaß des Täuschungsmanövers vor. Wenn das nicht Mut macht.

 

Dieser Text stammt aus dem Buch „Henri Nannen Preis 2011“ – . Die Veröffentlichung dieses Text im Internet erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Autors. Der Text wurde minimal editiert. Hervorhebungen erfolgten durch Carta.

/th

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