#Ägypten

Die arabische Welt und der Westen

von , 2.2.11

Wer hätte gedacht, dass ein verzweifelter Gemüsehändler aus dem tunesischen Hinterland Weltpolitik machen und im Nahen Osten mehr in Bewegung bringen kann als Clinton, Bush und Obama in 20 Jahren. Mohammed Bouazizi, 26, aus der zentraltunesischen Stadt Sidi Bouzid verkaufte illegal Obst, weil er nach dem Studium keinen Job fand. Als Polizisten seine Ware beschlagnahmten, protestierte er, indem er sich am 18. Dezember selbst anzündete. Kurz darauf starb er an seinen schweren Verletzungen.

Sidi Bouzid wurde zum Schlachtruf eines ganzen Landes. Vier Wochen später verließ Diktator Ben Ali, seit 23 Jahren an der Macht, fluchtartig das Land.

Seither steht die arabische Welt Kopf. Bouazizi hat mit seiner Selbstverbrennung ein revolutionäres Feuer entzündet, dessen Reichweite nicht absehbar ist. Der Nahe Osten, wie wir ihn kennen, soviel steht fest, existiert nicht mehr.

Am meisten staunen die Araber selbst. Die Tunesier haben ihren Diktator ohne fremde Hilfe aus dem Land gejagt. Kein amerikanisches Militär, keine NATO-Kontingente, keine auslandsfinanzierte Exilopposition haben den Gerontokraten gestürzt, sondern eine blütenreine, hausgemachte Revolution.

Leaderless but powerful, wie die ägyptische Kolumnistin Mona Eltahawy feststellt: „Die Tunesier haben sich ohne jeden Führer gegen Ben Ali erhoben, und ihr Beispiel hat rasend Schule gemacht als sauberste und reinste Form des zivilen Widerstands gegen Diktaturen in der arabischen Welt.“ Von Tunis bis Sanaa stellen die Menschen überrascht fest: „Wir sind das Volk.“ Und das Volk hat die Nase voll – von Arbeitslosigkeit, Korruption, Zensur, Misswirtschaft und Herrschern auf Lebenszeit.

Der nächste Diktator ist angezählt: Ägyptens Langzeit-Präsident Hosni Mubarak, seit 1981 im Amt und seit diesem Wochenende Präsident auf Abruf. Unter Nah-Ost-Journalisten laufen bereits Wetten, welcher Domino als nächster kippt.

Und der Westen? Freut sich. Freut sich der Westen?

„Denen, die sich mit Korruption, Betrug und der Unterdrückung abweichender Meinungen an die Macht klammern, sage ich, wisst, dass ihr auf der falschen Seite der Geschichte steht, aber dass wir eine Hand reichen, wenn ihr bereit seid, eure Faust zu öffnen.“

Barack Obama in seiner Antrittsrede am 20. Januar 2009

Die Zeitungen jubeln über die Jasmin-Revolution und drucken lange Berichte über das korrupte und brutale Regime von Ben Ali. Die politischen Gefangenen, die Folter, die Zensur, alles kommt ans Tageslicht.

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"Das neu erwachte Selbstbewusstsein der arabischen Welt wird unbequem. Für Europa, für Amerika, für Israel."

Doch warum lag die Wahrheit so lange im Dunkeln? Wer wollte, konnte auch vor dem Sturz Ben Alis wissen, wie das echte Tunesien aussah. Wir sind aber lieber an die Strände von Djerba gefahren oder auf Kamelen durch die Wüste geritten.

Eine Archiv-Suche mit den Stichworten „Tunesien“ und „Diktatur“ ergibt für die Jahre 2006 bis Ende November 2010 ganze 27 Treffer. Die Kombination „Tunesien“ und „Reise“ für den gleichen Zeitraum wirft 381 Artikel aus.

Die Bilanzen von Amnesty International und Human Rights Watch waren den meisten Medien allenfalls einen Einspalter auf den hinteren Nachrichtenseiten wert; Berichte wie  der von Thomas Schmid in der Frankfurter Rundschau über den „mentalen Gulag Tunesien“ im Oktober 2009 hatten Seltenheitswert.

Den Tunesiern blieb gar keine andere Wahl, als sich selbst ihres Diktators zu entledigen. Europa und die USA hatten sich, allen Lippenbekenntnissen zu Demokratie und Menschenrechten zum Trotz, mit dem Polizeistaat politisch und wirtschaftlich arrangiert.

Dass sie dabei bestens Bescheid wussten über die wahre Natur der Herrschaft des Ben Ali, zeigen die von Wikileaks veröffentlichten Depeschen der US-Botschaft in Tunesien, die schon im Juni 2008 das Bild einer habgierigen und skrupellosen Diebesbande an der Staatsspitze zeichneten: „Ob Bargeld, Dienstleistungen, Grundstücke, Immobilien oder ja, sogar deine Yacht – was Präsident Ben Alis Familie begehrt, bekommt sie dem Vernehmen nach auch.“

Noch am 11. Januar 2011, drei Tage bevor Ben Ali sich nach Saudi-Arabien absetzte, hatte US-Außenministerin Hillary Clinton erklärt, die US-Regierung ergreife in dem Konflikt keinerlei Partei und auf „viele positive Aspekte der [US-]Beziehungen mit Tunesien“ verwiesen.

Mit einem vertrauten Diktator, der nur das eigene Volk unterdrückt, lässt sich eben leichter verhandeln als mit einer noch ungewissen vom Volk zu wählenden Regierung, die womöglich Militärkooperation, Überflugrechte, einseitige Wirtschafts- und Liberalisierungsabkommen in Frage stellt. Von der stets heraufbeschworenen Gefahr eines Islamistencoups mal abgesehen.

Präsident Sarkozy, der den fliehenden Ben Ali nicht in Paris landen ließ und den Tunesiern „entschlossene Unterstützung“ verspricht, besuchte im April 2008 gleich für drei Tage und mit Gattin Carla Bruni den nun verfemten Regierungschef und bescheinigte ihm, „was politische Öffnung und Toleranz angeht, in vielerlei Hinsicht Fortschritte”.

Und nun also Ägypten, #Jan25. Kein kleines Mittelmeerland von begrenzter strategischer Bedeutung, sondern mit 87 Millionen Einwohnern das bevölkerungsreichste arabische Land und Amerikas wichtigster Verbündeter in der Region. Seit 1979 erhält Ägypten jährlich 1, 3 Milliarden Dollar Militär- und im Durchschnitt 815 Millionen Dollar Finanzhilfe aus den USA.

Sicher, Mubarak regiert seit 30 Jahren mit Ausnahmerecht, duldet keine Opposition, lässt foltern und zensieren und ohne Haftbefehle und Gerichtsverfahren einsperren. Seine Polizisten prügeln schon mal Blogger in aller Öffentlichkeit tot. Aber er unterhält eben auch diplomatische Beziehungen mit dem angrenzenden Israel und bekämpft die von den USA als Radikal-Islamisten gefürchtete Muslim-Bruderschaft.

Oder, in den Worten von Vize-Präsident Joe Biden: „Mubarak ist für uns ein Verbündeter in vielerlei Hinsicht. Und er hat sich sehr verantwortungsvoll verhalten hinsichtlich geopolitischer Interessen in der Region, dem Nah-Ost-Friedensprozess und hinsichtlich der Anstrengungen Ägyptens, die Beziehungen zu Israel zu normalisieren…Ich würde ihn nicht als Diktator bezeichnen.“

Entsprechend verhalten ist die Reaktion von US-Außenministerin Hillary Clinton am ersten Tag der Proteste: Sie mahnt zur Besonnenheit und verkündet, nach Einschätzung der US-Regierung sei die ägyptische Regierung „stabil“ und suche nach Wegen, auf die „legitimen Forderungen und Interessen des Volkes“ zu antworten.

Die Antwort kam in Gestalt eines Blackouts durch die landesweite Abschaltung des Internets und aller Mobiltelefon- und SMS-Dienste. So weit, das Internet komplett abzuschalten, war nicht einmal die iranische Führung während der Unruhen nach den letzten Präsidentschaftswahlen gegangen.

Die Antwort kam auch in Form brutaler Polizeigewalt mit Schlagstöcken, Wasserwerfern und Tränengaspatronen. Deren Herstellerhinweis „Made in Jamestown, Pennsylvania“ hielten Demonstranten wütend in die Fernsehkameras.

Erst drei Tage und mehr als hundert Tote später kann sich Clinton zu deutlicheren Worten, wenn auch noch nicht zu einer Distanzierung von Mubarak durchringen: Sie verlangt „freie und faire Wahlen“ und einen „geordneten Übergang“ in Ägypten, betont aber zugleich, die US wolle „nicht irgendeine Übernahme, die nicht zu Demokratie führt“ – vermutlich eine Anspielung auf die Muslimbrüder. Dass diese an die Macht kommen und den Friedensvertrag mit Israel von 1979 in Frage stellen könnten, gehört zu den größten Sorgen der USA im Hinblick auf die Nach-Mubarak-Zeit.

Selten lag die Widersprüchlichkeit amerikanischer Nah-Ost-Politik – Kampf gegen den Terror und uneingeschränkte Solidarität mit Israel einerseits, Bekenntnis zu Demokratie, Menschenrechten und Meinungsfreiheit andererseits – für alle Welt so offen da, live übertragen via Satellit von Al-Jazeera und im Sekundentakt getwittert.

Im World Wide Web machen sich die Menschen unter den Hashtags „#hypocrisy“, „#doublestandards“, „#firstworldfail“ und natürlich „#Jan25“ ihrer Wut über die Doppelmoral westlicher und vor allem amerikanischer Nahost-Politik Luft. Obama wird in „Mu-Barack“ umgetauft, dessen Internet-affine Regierung bereit sei, alle Social Media-Kanäle zu nutzen, um zu Ägypten zu schweigen“, wie ein Twitterer spottet.

Stell Dir vor, es ist Revolution und alle gehen hin! In Tunis, in Kairo, in Sanaa unterzieht die arabische Straße das Demokratieversprechen des Westens dem ultimativen Lackmus-Test. Was ist größer: unsere Verpflichtung auf Demokratie, Freiheit und Menschenrechte oder unsere Angst vor Islamisten?

Nächster Prüfstein: Jemen, von wo die Berichte über Proteste ebenfalls täglich zunehmen: Präsident Ali Abdullah Saleh regiert seit mehr als 30 Jahren, ist also weit über das Verfallsdatum demokratisch gewählter Staatschefs hinaus. Das Land gilt als wichtige Al-Qaeda-Basis; im “Kampf gegen den Terror”, der auch unter Obama weitergeht, betrachten die USA Saleh als wichtigen Verbündeten. Überflugrechte für unbemannte Drohnen, die Erlaubnis zu gezielten Raketenangriffen, amerikanische Flugzeugträger im Golf von Aden – kann man es da wirklich so genau nehmen mit der Einhaltung der Menschenrechte, der Gleichberechtigung der Frauen?

Die Verzweiflungstat eines armen Obsthändlers aus dem tunesischen Hinterland wirbelt das gesamte amerikanische Sicherheitskonzept durcheinander. Wie aus einem langen Schlaf aufgerüttelt, sind die Menschen in Tunis, in Kairo, in Sanaa nicht länger bereit, mit ihrem Leben, ihrer Freiheit dafür zu bezahlen, dass Europäer und Amerikaner ruhig schlafen können.

Das neu erwachte Selbstbewusstsein der arabischen Welt wird unbequem. Für Europa, für Amerika, für Israel. Wir haben es uns lange bequem gemacht im Schatten autokratischer arabischer Regime. Damit ist es jetzt vorbei. Selbst wenn die Dominosteine nicht alle sofort fallen: Das Echo Tunesiens wird so schnell nicht verhallen.

Auf Twitter steht der Fahrplan für den Fortgang der arabischen Revolution schon fest.  Die nächsten Dominosteine: Yemen #Feb3, Syria #Feb5, Algeria #Feb12 und Bahrain #Feb14.

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Crosspost von Magda – Das Magazin der Autoren

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