Journalismus als Prozess

von , 19.7.10

Michalis Pantelouris würde gern eine Geschichte erzählen, bei der er viele Fragen hat und noch nicht weiß, wie sie ausgeht. Er sieht ein Problem: Journalismus gehe es meist nur noch um die Antworten, nicht mehr um die Frage dahinter:

Warum, fragte ich mich, kann ich nicht die Geschichte vorschlagen: “Eine junge Frau kommt gewaltsam ums Leben, ob Mord oder Selbstmord weiß ich nicht, aber ich würde gerne darüber schreiben, ich würde gerne berichten, ohne dass Ende zu kennen”?

Es fällt für einen Freien wie mich schon schwer, mir eine Redaktion auszudenken, der man so etwas vorschlagen kann. Und das ist aus meiner Sicht ein Verlust für den Journalismus und den Beitrag, den Journalismus zu einer funktionierenden Gesellschaft beitragen kann. Es stellt die Reihenfolge auf den Kopf: Vor allem wir Freien müssten die echte Arbeit machen, bevor wir sie überhaupt für einen Auftrag vorschlagen können, die Recherche bis hin zur These vollendet haben, bevor wir Geld dafür verlangen können. Oder aber, und das ist es, was passiert: Wir müssen eine Geschichte vorschlagen, von der wir nicht sicher sein können, ob sie wahr ist – und stehen hinterher realistischerweise unter dem Druck, die recherchierten Fakten so zu beleuchten, dass wir für den Chefredakteur die Erwartung an die These befriedigen können – denn er hat mit der These seine Ausgabe geplant. Da läuft etwas falsch. Ich hatte also das Gefühl, da wäre eine Geschichte, die es sich zu erzählen lohnt, aber die Geschichte hatte eben kein Ende, keine These, keine echte Richtung. Diese Geschichte ist kompliziert, ausufernd, nicht klar zu greifen – genau so, wie das Leben eben ist. Aber der Journalismus nicht.

Daher wagt er das Experiment und hat mit Neon eine Zeitschrift gefunden, die ihn dabei unterstützt. Die Livereportage gibt es ab 21. Juli hier.

Das Projekt ist allerdings nicht gerade einfach, der Unglücksfall der jungen Frau könnte ein zu persönliches Schicksal sein um es für ein Live-Reportagen-Experiment zu nutzen und die Geschichte zu einem Live-Krimi werden, wie nicht nur Stefan Niggemeier befürchtet:

Ich nehme Michalis Pantelouris, den ich ein bisschen kenne, seine hehren Ziele ab. Er brennt für dieses Experiment und es macht Spaß, sich endlos von ihm vorschwärmen zu lassen, wie sich der Journalismus verändern könnte und müsste. Andererseits hat die Geschichte für mich auch etwas Frivoles. Mag ja sein, dass sich durch eine solche Arbeitsweise der Informationsanspruch des Publikums besser befriedigen lässt, ganz sicher aber bedient sie auch das Unterhaltungsbedürfnis des Publikums. Macht er aus einem tragischen Schicksal nicht einen aufregenden Live-Krimi? Wird das Geschehen durch eine solche Art der Aufbereitung als Fotsetzungsgeschichte nicht sogar fiktionalisiert — genau das Gegenteil dessen, was Pantelouris behauptet und erreichen will?

Ich finde es einen aufregenden Versuch, und ich drücke ihm die Daumen, dass er gelingt — schon weil es viel mehr Experimente mit den neuen journalistischen Formen, die das Internet bietet, und viel mehr Diskussionen über die Zukunft des Journalismus geben muss. Ich glaube auch, dass fehlende Transparenz, oder viel grundlegender noch: fehlende Wahrhaftigkeit ein Hauptproblem des Journalismus heute ist.

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