#17. Juni 1953

“Ein Gefühl der Ohnmacht und der Ungerechtigkeit” – Rede von Gesine Schwan

von , 17.6.10

“Frau Schwan hat sich im Ton vergriffen”, urteilt Welt-Herausgeber Thomas Schmid. Ihre Rede zum 17. Juni sei gefährlich gewesen – “Denn hier schürt Gesine Schwan den Verdruss, den sie doch bekämpfen will. Denn im Grunde sagt sie, dass die Institutionen dieses Staates zu schwach sind, die großen anstehenden Probleme zu lösen. So erscheint das Gefüge der Demokratie als ein hilfloses Mängelwesen.”

Carta dokumentiert die Rede (Hervorhebungen durch uns)  und stellt sie zur Diskussion:

Rede von Gesine Schwan bei der Gedenkstunde des Deutschen Bundestages
anlässlich des 57. Jahrestages des Volksaufstandes vom 17. Juni 1953:

Herr Bundestagspräsident! Meine Damen und Herren!

Der 17. Juni 1953 war ein heißer Sommertag. Ich ging damals am Berliner Wedding zur Schule. Um 10 Uhr kam der Hausmeister in unsere Klasse und forderte uns alle im Namen des Rektors auf, sofort nach Hause zu fahren.

Es gebe Unruhen in der Stadt; es sei gefährlich. Wir Schüler kamen aus allen Teilen Berlins. Die Straßenbahn, mit der ich zurück wollte nach Heiligensee, war überfüllt. Ich quetschte mich als Zehnjährige hinein. Um mich herum standen vor allem Frauen. Sie hatten Angst um ihre Männer, die in der Stadt demonstrierten.

Einige weinten. Sie kamen aus dem Werk Hennigsdorf, nicht weit von Heiligensee, und hatten nichts gemein mit „Halbfaschisten“, wie man die Aufständischen in der SED-offiziellen Lesart später nannte.

Daheim hörte ich aus dem Radio das Lied „Ich hatt‘ einen Kameraden, einen bessern findst Du nit …“. Das weckte in mir das Bild einer militärischen Abschiedszeremonie. Es hatte in der Stadt Tote gegeben.

Warum, zu welchem Zweck, wollen wir heute des 17. Juni gedenken?

Ich meine, der Blick zurück in die Vergangenheit, gerade an Gedenktagen, kann uns helfen, aus der Vergangenheit zu lernen, um eine gute Zukunft zu gewinnen. Aus der Vergangenheit lernen heißt, sich auf die Suche nach historischen Erfahrungen zu begeben, die einer guten Zukunft entgegenstehen, ebenso wie nach solchen Potenzialen, die sie begünstigen.

Aus der Vergangenheit lernen heißt verstehen, wie wir selbst und die anderen geworden sind, um uns besser mit ihnen über eine gelungene Zukunft zu verständigen. Aus der Vergangenheit lernen heißt Verlässlichkeit stiften für ein gegenseitiges Vertrauen, das wir für gedeihliches Handeln brauchen, heißt Gemeinsamkeit schaffen für eine Welt, die wir auch unseren Kindeskindern noch guten Gewissens überantworten können. Dabei können
uns Gedenktage helfen.

Richard Schröder hat hier vor einem Jahr in einer beeindruckenden persönlichen Rede seine Interpretation der Ursachen des Aufstandes vom 17. Juni vorgetragen. Die anfängliche Empörung über die Normerhöhungen weitete sich in kürzester Zeit zu einer Welle der allgemeinen politischen Ablehnung des kommunistischen Systems aus. Das war die Folge einer schon länger angestauten Unzufriedenheit der ostdeutschen Bevölkerung.

Neben der Frage der Normen und einer zunehmenden Militarisierung der DDR im Zuge des Aufbaus der Kasernierten Volkspolizei war es vor allem die im Jahr zuvor ausgegebene Losung vom beschleunigten „Aufbau des Sozialismus“, die großen Unmut auslöste, weil sie Reste demokratischer und rechtsstaatlicher Verfassungsversprechen abschaffte.

Das Machtmonopol der SED setzte sich nun ohne verbale Bemäntelung durch; Willkür und
Unrecht wurden zur alltäglichen, immer brutaleren Erfahrung, so brutal, dass selbst die über allem herrschende Sowjetunion die Rücknahme besonders schikanöser Maßnahmen anordnete, um die Stabilität ihres deutschen Vorpostens nicht zu gefährden. Sie erkannte offenbar besser die Gefahr der Rebellion, als die SED-Führung dies tat.

Den Ostdeutschen ging es zu dieser Zeit materiell viel schlechter als den Westdeutschen, die im beginnenden Wirtschaftswunder auf bessere Zeiten hofften und denen die westlichen Alliierten die Chance zu einem demokratischen Aufbau boten.

So verwandelte sich am 17. Juni auch mit Blick auf die Entwicklung in Westdeutschland die Forderung nach Abschaffung der plötzlichen Normerhöhung zum Ruf nach den zentralen Eckpfeilern westlicher Demokratien: Freiheit und Recht, Rechtsstaat und Gewaltenteilung statt Willkür und Schikane.

Hinzu kamen ganz konkrete Forderungen nach Freilassung der politischen Gefangenen, freien Wahlen, einer unabhängigen Presse, Wiedervereinigung. Mit dem sogenannten Aufbau des Sozialismus wurde in Ostdeutschland seit den frühen 50er-Jahren endgültig eine politische
Herrschaft etabliert, deren Kern das Machtmonopol der SED war und die Unrecht ebenso ausübte wie begünstigte.

Im Alltag hatte das Willkür, Schikane und zum Teil tödliche Quälerei zur Folge. Diese
machtmonopolistische Herrschaft war nicht demokratisch legitimiert, also undemokratisch. Sie behauptete gleichwohl, im Namen des Volkes zuhandeln.

Sie war also keine einfache Wiederholung früherer monarchischer oder absolutistischer Willkür. Ihre pseudodemokratische Legitimation reklamierte sie aus der marxistisch-leninistischen Ideologie, die angeblich die Einsicht der Avantgardepartei SED in den Lauf der Geschichte bot, der auf die endgültige Befreiung des Volkes in der klassenlosen Gesellschaft zielte.

Das Volk aber wollte am 17. Juni diese ideologische Legitimation, die den Machtmissbrauch nur verschleierte, nicht akzeptieren. Es wollte selbst frei wählen, weil die humanistischen Versprechen der Marxisten-Leninisten sich nicht erfüllten. Stattdessen wurden durch eine gesteuerte Presse immer erneut Lügen verbreitet, die das Vertrauen in die Politik zerstörten.

Karl Marx meinte erkannt zu haben, dass die Geschichte – notwendig – in eine klassenlose Gesellschaft münden würde, in der der Kapitalismus überwunden und eine an den Bedürfnissen der Menschen orientierte Produktionsweise die selbstzerstörerische Dynamik entfesselter Konkurrenz ablösen würde.

Danach könnte ohne weitere Notwendigkeit staatlicher Unterdrückung „die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller“ werden, wie es am Ende des Kommunistischen Manifests heißt.

Ganz in der Tradition der deutschen Klassik war die Entfaltung der individuellen und allgemein menschlichen „Wesenskräfte“ – so der Marx’sche Terminus – sein Ziel. Aber anders als später Hegel und Marx teilten die Klassiker Goethe und Schiller nicht deren Hybris, den angeblich notwendigen Lauf der Geschichte und ihr Ende durchschauen zu können.

Hier lag ein entscheidender Unterschied. Die Freiheit für alle zur Entfaltung der eigenen
Fähigkeiten ist das eine. Wir lehnen sie auch heute nicht ab, sondern wünschen sie durchaus. Aber die Hybris, den notwendigen Weg dahin zu kennen und deshalb mit unkontrollierter Macht durchzusetzen, das führt ins Verderben, wie jede Hybris, vor der uns schon die griechische Antike warnt und die heute in anderer Form wieder aufersteht.

Über die banale Willkür geballter Macht hinaus verbarrikadierte sich die kommunistische Herrschaft also in einem geschlossenen ideologischen System. Sie machte sich immun gegen Einwände und die Freiheit kritischen Denkens. Demokratische Freiheit, die auf freie Wahlen und freie Presse setzt, fordert dagegen solche kritische Infragestellung gerade mächtiger
Institutionen, Gruppen oder Personen. Dies ist ein zentrales Element rechtsstaatlicher Gewaltenteilung, die von der lebendigen und kompetenten Kritik der Bürger lebt.

Die Ausweitung der Ziele am 17. Juni war deshalb eine ganz logische Folge: von der Rücknahme der Normerhöhung zur Forderung nach Recht und Freiheit durch freie Wahlen und Aufhebung des Machtmonopols der SED. Das erschien damals im Ostblock ganz revolutionär und illusionär.

Und doch hörte der Widerstand gegen die Unfreiheit nicht auf: Ungarn und Polen 1956, Prag 1968, Danzig 1970 und 1980. In der DDR brachte das Trauma der blutigen Niederschlagung des Aufstands allerdings nach 1953 erneute derartige Forderungen zum Schweigen. Der Blutzoll war zu hoch gewesen.

Dennoch nötigt es uns, in den Worten Richard Schröders, für den 17. Juni 1953 „Bewunderung ab, dass der Wunsch nach Einigkeit und Recht und Freiheit damals so unerwartet mächtig wurde“.

Mir persönlich sind im damaligen West-Berlin auch ohne erneute Rebellion in der DDR nach dem 17. Juni 1953 in den Jahrzehnten bis 1989 nie Zweifel an der Überwindung der deutschen Teilung gekommen, weil ich damals wie heute an den unbändigen Freiheitswillen aller Menschen glaubte und glaube, von wem auch immer ihre Unterdrückung ausgeht.

Heute leben wir im vereinigten Deutschland in einem demokratischen freiheitlichen Rechtsstaat. Freuen wir uns an unserer Demokratie? Und über die freien Wahlen? Und über die am 17. Juni ebenfalls unter Lebensrisiken geforderte freie Presse?

Würden die Deutschen heute in Scharen auf die Straße gehen, wenn diese Freiheiten, sagen wir einmal, vorübergehend ausgesetzt würden, um mit starker Hand, unbehelligt von streitenden Parteien, Wahlkämpfen und verwirrenden Medien, erst einmal die Krise zu
überwinden und die Wirtschaft und die öffentlichen Haushalte wieder in Ordnung zu bringen?

Immerhin entstehen heftige Proteste, wenn im Internet die Freiheit
eingeschränkt werden soll. Das Internet ist für viele insbesondere junge
Menschen ein neuer Lebensraum.

Sollen hier nur der individuelle Bereich, das private Interesse geschützt werden? Freiheit also als individuelle Willkür, die das Ganze aus dem Blick verloren hat? Oder birgt der Reflex, sie zu schützen, auch ein umfassenderes politisches Potenzial? Macht Freiheit im
Internet die traditionell demokratische Wahl- und Pressefreiheit überflüssig?
Oder handelt es sich immer um dieselbe Freiheit nur in unterschiedlichen
Facetten?

Zurück in eine Diktatur will heute kaum einer. Aber viele plagen heftige Zweifel an der Fähigkeit der politischen Demokratie, die drängenden Probleme zu lösen, etwa Regeln für die globale Wirtschaft zu etablieren, die die grundlegenden Bedürfnisse der Bürger nach Freiheit und Sicherheit zu schützen vermögen.

Beunruhigen muss überzeugte Demokraten die Gleichgültigkeit vieler gegenüber Wahlfreiheit und Wahlen, weil die Parteien sich im Handeln nach der Wahl angeblich doch nicht voneinander unterschieden und ihre Versprechen nicht einlösten.

Ein Gefühl der Ohnmacht und der Ungerechtigkeit hat sich in unserer Demokratie ausgebreitet. Umfragen zeigen, dass die Einstellung zur
Demokratie stark von solchen Benachteiligungs- und Gerechtigkeitsgefühlen
abhängt.

Und ist es denn noch als gerecht zu bezeichnen, wenn Milliardenbürgschaften, die wahrscheinlich notwendig waren, für die Rettung des Bankensystems ausgegeben werden und kurz danach Banken Milliardengewinne einstreichen, die von eben dieser Rettung ihrerseits
profitiert und von denen viele sich zuvor an der Gefährdung des Systems
beteiligt haben, zum Beispiel durch unverantwortliche Verbriefungen oder
Wetten?

Muss die Distanz zu unserer Demokratie nicht wachsen, wenn sie angesichts von noch mehr Millionären nach, ja infolge der Krise nicht zur Kasse gebeten werden und umgekehrt trotz einer drastischen und beschämenden Kinderarmut – über zwei Millionen Kinder wachsen in unserem reichen wiedervereinigten Deutschland armutsgefährdet auf und haben kaum eine reelle Chance auf angemessene Bildung und auf die Freiheit, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen -, wenn angesichts dessen bei Familien und Hartz-IV-Empfängern, viele von ihnen alleinerziehende Mütter, gespart würde?

Wenn die kommunalen Haushalte, die auch durch die Bankenrettung ausgeblutet sind, ihren Aufgaben gerade gegenüber den Schwächeren in unserer Gesellschaft nicht mehr nachkommen können? Das wäre eine Normerhöhung besonderer Art, um an den 17. Juni 1953 zu erinnern.
Steht uns im vereinigten Deutschland ein neuer 17. Juni bevor? Sicher nicht. Doch dass es unter der Oberfläche gärt, kann man nicht abstreiten. Vor allem die Gefahr ohnmächtiger Wut nimmt zu, die sich als politisch ungezielte Gewalt äußert, zum Beispiel gegen Schwächere, um sich irgendwo doch stark zu fühlen.

Wir registrieren einen Respektverlust gegenüber anderen Menschen. Die sich häufenden Angriffe auf Polizisten, die gerade an diesem Wochenende einen neuen und bestürzenden
Höhepunkt erreicht haben, sind nur ein Zeichen dafür.

Oder die Menschen richten ihre Wut gegen sich selbst, werden angstvoll-depressiv. Depression ist heute vor Krebs- und Herzerkrankungen die am meisten verbreitete
Volkskrankheit; daran sollten wir denken.

Normerhöhungen gab es nicht nur im Kommunismus. Sie sind auch Alltag im Kapitalismus und haben in großen Unternehmen wie France Télécom, Renault-Nissan und den chinesischen Zulieferern von Apple und Dell in der letzten Zeit zu erschütternden
Selbstmorden geführt.

Das von manchen mit klammheimlicher Bewunderung als Alternative zu unserer freiheitlichen Demokratie betrachtete China, in dem der Gegensatz zwischen Arm und Reich ebenfalls drastisch angewachsen ist, hat offenbar zunehmend mit sozialen Unruhen zu rechnen.

Wie Gewalt weltweit um sich greift, sehen wir jeden Abend im Fernsehen. Bei uns in Deutschland sind diese Entwicklungen bisher nicht sensationell plakativ, sondern finden unter der Oberfläche statt. Das macht sie umso gefährlicher; denn sie bergen individuelle Tragödien und unterminieren in der Summe unsere Demokratie, ohne dass uns dies sofort bewusst würde.

Offenbar ist also auch die Demokratie kein Allheilmittel gegen soziale Verwerfungen. Doch bedeutet dies, dass sich die Aufständischen vom 17. Juni geirrt haben? Waren ihre Forderungen naiv, zeigten sie in die falsche Richtung? Helfen freie Wahlen und eine freie Presse für die Lösung unserer Probleme gar nicht weiter?

Sind unsere demokratischen Regierungen und Parlamente am Ende genauso hilflos wie das Politbüro der SED? Nein, definitiv nicht, weil Rechtsstaat, freie Wahlen und freie Medien
die unabdingbare und auch aussichtsreiche Voraussetzung dafür bieten, unter den gegenwärtig für viele verwirrenden Bedingungen Abhilfe zu schaffen.

Unsere Regierungen und Parlamente sind nicht hilflos wie die damalige Ostberliner Regierung, wenn sie uns als verantwortliche freie Bürger mehr als bisher einbeziehen und wenn wir umgekehrt als verantwortliche Bürger uns mehr als bisher für gemeinwohlverträgliche Lösungen engagieren.

Die Repression, mit der die SED am 17. Juni reagierte, war eine Kapitulationserklärung. Seit 1953 wurde die DDR mehr und mehr abgeschottet, und sie blieb es bis 1989. Angesichts der Übermacht der ökonomischen Probleme in der DDR blieb der Führung nur die Aussetzung
der letzten bürgerlichen Freiheiten, die es bis dato noch gegeben hatte.

Nur so ließ sich das Zwangssystem der Planwirtschaft verteidigen. Heute stehen wir vor einer ähnlich schwierigen Situation. Die Finanz- und Wirtschaftskrise spannt unser System bis zur äußersten Grenze an. Doch der autoritäre Weg, die Folgen der Krise durch weniger Demokratie gleichsam beiseitezudrücken und zu überspielen, ist uns verwehrt. Das lehrt uns das Beispiel des 17. Juni.

Wir dürfen auf die das ganze System herausfordernde Krise nicht mit weniger, sondern wir müssen mit mehr Demokratie darauf antworten. Nur so können wir unsere Probleme nachhaltig, weil gemeinwohlorientiert lösen.

Unsere Verfassung bietet uns die politische Freiheit, unser Gemeinwesen mitzugestalten, nicht als Ware an, die wir einfach individuell für unsere privaten Zwecke konsumieren können, sondern als eine verantwortliche Aufgabe, die uns auch in die Pflicht nimmt, an der Stelle, an der wir jeweils stehen, für gute Lösungen zu sorgen.

Das gilt für jeden Einzelnen in unserem Land. Je mehr soziale, politische, ökonomische Macht wir haben, desto mehr. Wer ungeniert nur sein Einzelinteresse verfolgt und sich leichtsinnig auf Inseln der Macht und des Reichtums abschottet, gefährdet die Demokratie und seine eigene freiheitliche Zukunft.

Die am 17. Juni geforderte Freiheit ist ein hohes, unverzichtbares Gut und zugleich eine – manchmal anstrengende, unbequeme – Verpflichtung für uns alle, nicht nur für die Politik. Je verantwortlicher wir dieses Gut bei Wahlen oder im öffentlichen Engagement handhaben, desto besser sind auch demokratische Politikerinnen und Politiker in der Lage oder sogar
gezwungen, sich genauso verantwortlich zu verhalten.

Am besten ist es, wenn wir diese Verantwortung nicht so sehr als bedrohliche Pflicht, sondern als stimulierende Chance begreifen, die Ressource zu mobilisieren, die uns
immer bleibt: unsere Fantasie, unsere Tatkraft und unsere Freude am eigenen Vermögen, etwas zum Guten zu ändern.

Eine allgemeine Klage über den moralischen Verfall der Politik oder anderer Verantwortungsträger oder darüber, dass man eine Freiheit nicht mehr schätzt, die man selbstverständlich besitzt, hilft nicht weiter. Solche Anklagen verweisen immer auf andere.

Wir müssen aber alle selbst ran. Bundespräsident Heinemann hatte recht, als er daran erinnerte, dass immer drei Finger auf uns zurückweisen, wenn wir unseren Zeigefinger auf andere richten.

Was folgt daraus? Was heißt heute „mehr Demokratie“? Unsere Politik steht vor neuen, größeren Herausforderungen als in den 50er-Jahren, weil Nationalstaaten angesichts der ökonomischen Globalisierung erheblich an Einfluss auf die sozialen Folgen des Wirtschaftens, zum Beispiel in Sachen Arbeitslosigkeit, soziale Absicherungen, Steuerpolitik etc., verloren
haben und weil zentrale Aufgaben, zum Beispiel in Bezug auf Klima, Energiesicherung, Gesundheit, praktisch nur noch global angegangen werden können.

Wir erleben dies gegenwärtig hautnah mit dem Ringen um internationale Finanzmarktregeln. In allen Nationalstaaten versuchen aber mächtige gesellschaftliche Gruppen und Institutionen, Regeln zu verhindern, die ihren Partikularinteressen widersprechen. Der Vorteil der freiheitlichen Demokratien liegt darin, dass man ihnen öffentlich auf die Spur kommen und ihnen deshalb begegnen kann.

Denn demokratisch gewählte Parlamente und Regierungen gehen eben aus Gesellschaften mit durchaus unterschiedlichen Interessen hervor, die bei uns über die Parteien auf die Entscheidungen Einfluss nehmen. Das ist legitim. Interessensvertretung gehört zum System.

Gefährlich für demokratische Politik, die ein verträgliches Maß an Gerechtigkeit als gleicher
Freiheit wahren oder herstellen muss, sind ihre unterschiedlichen und auch grenzüberschreitenden Machtpotenziale und ihre Undurchsichtigkeit.

Wenn sie die nationalen Politiken ebendiesen grenzüberschreitenden Partikularinteressen unterwerfen – dies ist gegenwärtig das zentrale gravierende Problem -, müssen aus der Zivilgesellschaft heraus ebenso grenzüberschreitende Lobbys diese Interessen transparent machen, die Öffentlichkeit mobilisieren und Lösungsvorschläge so propagieren, dass Regierungen und Parlamente ebenso wie die Parteien ihre Gemeinwohlaufgaben wieder wahrnehmen können.

Das ist mühsam, hat aber global schon zu erheblichen Bewusstseinsveränderungen geführt, die demokratischer Politik, zum Beispiel in Sachen Umwelt, in einer Art „antagonistischer Kooperation“ Hilfe leisten können.

So vermag sich demokratisch gewählte Politik durch eine konfliktreiche Zusammenarbeit mit der organisierten Zivilgesellschaft zu stärken. In ihr spielen die „antagonistisch kooperierenden“ Gewerkschaften – Sie erinnern sich, dass dies ein wesentlicher Terminus der sozialen Marktwirtschaft war – eine zentrale, ganz unverzichtbare Rolle.

Konflikt und Kooperation gehören in der Demokratie überall untrennbar zusammen. Dabei muss sich die demokratisch gewählte Politik allerdings zugleich mehr als in letzter Zeit erkennbar auf ihre Aufgabe besinnen, ihrerseits umfassendere und positive politische Ziele zu markieren und dafür auch, gegebenenfalls mit Risiko, zu kämpfen.

Gerade in einer akut unübersichtlichen, schwierigen Lage braucht es einen erkennbaren
langfristigen Kompass – zum Beispiel über Europa und dessen globale Rolle -, um Unterstützung und Vertrauen in der Gesellschaft zu gewinnen.

Schließlich brauchen wir auch die Kooperation des Privatsektors, der Firmen und Unternehmen, um gegen mächtige Partikularinteressen gemeinwohlfördernde Regeln grenzüberschreitend durchzusetzen. Es gibt immer mehr Unternehmen, die dies erkennen und sich unter anderem um ihres guten öffentlichen Rufes willen freiwillig daran beteiligen.

Aber das sind noch viel zu wenige, und die Versuchung, nur Public Relations zu machen,
ist groß. Immerhin gibt es globale Initiativen, an denen alle drei Akteure, die für eine Good Global Governance wichtig sind, nämlich Privatsektor, organisierte Zivilgesellschaft und Politik, beteiligt sind, die zu beachtlichen Ergebnissen führen.

Dazu gehört etwa die Extractive Industries Transparency Initiative, die ebenfalls aus der organisierten Zivilgesellschaft hervorgegangen ist und inzwischen von der Weltbank, dem
Weltwährungsfonds, der G 8 und informell auch der G 20 mitgetragen wird, um weltweit Transparenz im schicksalsträchtigen Rohstoffsektor herzustellen.
Karl Marx hat an die produktive Mithilfe des kapitalistischen Privatsektors für demokratische Lösungen nicht geglaubt. Aber wir können die kapitalistische Marktwirtschaft nicht abschaffen. Wir brauchen ihre Produktivität, die ebenfalls aus der Freiheit rührt, und wir kennen auch keine anti- oder nicht-kapitalistische Marktwirtschaft. Wir müssen sie also doch
politisch bändigen.

Die neuen Erfahrungen zwingen uns deshalb, von machtvollen Interessenvertretern zu verlangen, dass sie sich vor öffentlicher Kritik nicht hinter einer geschlossenen Marktideologie verschanzen wie ehedem Marxisten-Leninisten hinter ihrer ebenso geschlossenen Herrschaftsideologie.

Der globale Wettbewerb darf nicht mehr als immunisierende Abwehrstrategie gegen Gerechtigkeitsforderungen oder zähmende Regeln dienen.

Hier ist eine erneute Hybris aufgekommen, die wir überwinden müssen. Auch die sachlich richtige Forderung, Regeln international bzw. global durchzusetzen, um Schlupflöcher zu stopfen, sollte nicht als fadenscheiniges Argument gegen mögliche regionale oder auch
nationale Lösungen eingesetzt werden.

Damit demokratische Politik eben besser als kommunistische Politik Freiheit und Recht sichert, müssen wir an einem neuen Grundkonsens in der Gesellschaft über Grenzen der Unfreiheit, der Ungerechtigkeit und der Uneinigkeit arbeiten.

Anders als der Kommunismus setzt demokratische Politik keine neuen Menschen voraus, maßt sich auch nicht an, sie zu schaffen. Aber ohne Bürgertugenden, ohne ein Grundmaß an Wahrhaftigkeit, Gerechtigkeitssinn und Gemeinwohlorientierung bei uns allen kann das für
Freiheit und Demokratie notwendige Vertrauen nicht entstehen.

Das gilt besonders für diejenigen, die Macht haben: in der Wirtschaft, in der Wissenschaft, in den Medien, unter Ärzten und Rechtsanwälten. Demokratie gelingt nicht in einer Welt von „Teufeln“ oder von notorischen Tricksern.

„Einigkeit und Recht und Freiheit“ werden uns nicht vom Grundgesetz in den Schoß gelegt, sondern entstehen allererst durch gemeinsames politisches Handeln der Bürger. Nicht zufällig sind Menschen, die sich in der Demokratie engagieren, mit ihr auch zufriedener. Verständigung ist die Voraussetzung gemeinsamen politischen Handelns.

In unserer immer vielfältigeren Gesellschaft – diese ist eine unvermeidliche Folge der Globalisierung – kann gemeinsames Handeln allerdings nur gedeihen, wenn die Bürger sich um Verständigungsbereitschaft bemühen – zwischen Ostdeutschen und Westdeutschen, die unter sich auch wieder sehr verschieden sind, zwischen Alten und Jungen, zwischen hier Geborenen und neuen Einwanderern.

In diesem Bemühen führt der Begriff der Mehrheitsgesellschaft in die Irre, weil er Unterordnung von Minderheiten suggeriert, wo erst partnerschaftliche Verständigung gemeinsames Handeln ermöglicht. Jeder von uns ist selbst in unserem Land in irgendeiner Hinsicht in der Minderheit. Wir alle aber sind durch unser vorzügliches Grundgesetz gebunden.

Verständigung steht auch der Rechthaberei entgegen, die den Balken im eigenen Auge übersieht. Sie braucht die menschliche Reife, Ambivalenzen in schwierigen Lebensentscheidungen auszuhalten.

Opportunistisches Verhalten, das der Demokratie mit Sicherheit schadet, hat es in beiden deutschen Nachkriegssystemen gegeben, im Kommunismus aufgrund des politischen Regimes oft mit weiter reichenden bösen Folgen. Aber hier war auch der Druck auf die Menschen viel höher. In Wahrheitskommissionen können Wunden geheilt und notwenige moralische Werte wiederhergestellt werden. In Tribunalen gelingt das sicher nicht.

Was können wir aus dem 17. Juni 1953 lernen? Die Forderungen der
Aufständischen nach Freiheit und Recht sind ganz und gar aktuell. Aber sie
dürfen nicht zu leeren Floskeln verkommen.

Wir müssen aus Ihnen lebendige Antworten auf unsere neuen globalen Herausforderungen entwickeln, wenn wir Recht und Freiheit nicht unter der Hand verlieren wollen. Wenn wir es
aber schaffen, uns darüber zu verständigen und gemeinsam politisch zu handeln, dann können uns Einigkeit und Recht und Freiheit gelingen, dann sind sie des Glückes Unterpfand, dann erweisen wir uns der Aufständischen des 17. Juni als würdig.

Wir verneigen uns vor den Toten und bezeugen ihrem Mut unseren Respekt und unseren andauernden Dank.

Quelle.

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