von , 10.2.11

Wenn es stimmt, was Journalisten, Menschenrechtler und der Anwalt David Coombs verbreiten, dann verbringt Bradley Manning zur Zeit 23 Stunden am Tag allein in einer Zelle, in der er alle fünf Minuten von einem Wächter kontrolliert wird, wegen angeblicher Suizidgefahr – auch im Schlaf. Seit mehr als einem halben Jahr sitzt Manning bereits in Haft. Er soll es gewesen sein, der WikiLeaks das Video zugespielt hat, auf dem zu sehen ist, wie amerikanische Soldaten von einem Hubschrauber aus irakische Zivilisten erschießen. Auch die Dokumente über die Kriege im Irak und in Afghanistan sowie die Botschafts-Depeschen soll er WikiLeaks zugeschickt haben.

52 Jahre Haft drohen Manning, so ist zu lesen, sollte er in allen Punkten schuldig gesprochen werden. Würde er in diesem Jahr verurteilt, so wäre er bei seiner Entlassung 75 Jahre alt, wir schrieben das Jahr 2063.

Immerhin, die Todesstrafe scheint vom Tisch. Dabei hatten republikanische Politiker genau das für denjenigen gefordert, der die Dokumente an WikiLeaks weitergeleitet hat. Das sei Hochverrat, schäumte Mike Huckabee, und alles andere als die Todesstrafe sei dem nicht angemessen. Der Verräter habe das Leben von Amerikanern gefährdet und Beziehungen zu anderen Staaten aufs Spiel gesetzt. Ähnlich argumentierte der Kongressabgeordnete Mike Rogers.

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Die Logik des Militärs: Unbedingte Loyalität

Weltweit engagieren sich viele tausend Menschen für Manning. Weil sie der Meinung sind, dass er im Recht war. Dass er so habe handeln müssen im Angesicht der Kriegsverbrechen im Irak. Weil sie finden, dass es ungerecht wäre, Mannings Leben zu zerstören, nur weil er Dokumente veröffentlichen wollte.

Dabei ist diese Haltung aus Sicht des Militärs logisch. Ein Soldat hat zu gehorchen, er hat nicht auf eigene Faust zu handeln. Er hat seinen Kameraden gegenüber loyal zu sein, weil nur so ihre Sicherheit auch in Situationen höchster Gefahr gewahrt werden kann. Wer illoyal ist, gefährdet alle anderen; es gibt kaum ein schlimmeres Vergehen.
Und ein Soldat hat natürlich auch seinem Staat gegenüber loyal zu sein, dessen Diener er ist.

Der Staat ist in diesem Denken die wichtigste Größe, weil nur der Staat die Sicherheit der Nation in der unsicheren internationalen Welt garantieren kann. Nationale Interessen gehen im Zweifel über die Interessen des Einzelnen. Manning ist in diesem Bild der Illoyale, der Verräter, der den eigenen Staat hintergeht und seine Kameraden gefährdet. Er ist der Andere, derjenige, der gegen die allgemeinen Interessen handelt. Kurz: der das Schlechte tut. Es ist dies ein altes Narrativ und ein wirkmächtiges.

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Die Logik des Absolutismus: Staatliche Interessen sind unantastbar

Dieses Narrativ atmet den Geist des Absolutismus. Auch die Idee der nationalen Interessen atmet diesen Geist. Als der Herrscher noch qua göttlicher Weisung ins Amt zu kommen behauptete, war das nationale Interesse unantastbar, weil es gleichbedeutend war mit dem Interesse des Herrschers und damit dem Willen Gottes. Diese Interessen zu verletzten, kam der größtmöglichen Sünde gleich.

Heute mutet diese Erzählung unzeitgemäß an. Doch auch hinter der heutigen Erzählung vom Hochverräter Manning steht die Idee, dass das nationale Interesse, das Wünschenswerte, das dem Gemeinwohl Günstige a priori gegeben ist. Denn nur wer das nationale Interesse als einfach da-seiend, als nicht selbst erklärungsbedürftig annimmt, der kann ein gegen diese Interessen gerichtetes Handeln als Hochverratsverbrechen brandmarken, auf das Strafen stehen, die sonst allenfalls für Mord verhängt werden.

Dieses höchste Interesse ist in den Argumentationen der Ankläger von Manning die Sicherheit und die Stabilität: die Sicherheit des Staates, der Nation, der Soldaten, die Stabilität der Beziehungen zu anderen Staaten. Wer diese Sicherheitsinteressen verletzt, dem gebührt eine drakonische Strafe.

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Die Logik der Demokratie: Gemeinwohl durch Aushandlungsprozess

Diese Logik widerspricht jedoch der demokratischen Idee. Es ist das Wesen eines demokratischen Systems, sich zum Pluralismus der Ideen, Wünsche und Interessen zu bekennen. Weil es das absolut Richtige und Gute nicht gibt. Sobald man das Metaphysische als Quelle zurückweist, kann das temporär Gute und Richtige nur über gesellschaftliche Aushandlung gefunden werden, in einem Prozess, der nie abgeschlossen ist. So einigt man sich auf kollektive Handlungsweisen in dem Wissen, dass es auch andere Möglichkeiten gegeben hätte. Entscheidungen sind immer rechenschaftspflichtig: wenn sie getroffen werden und hinterher. Jeder Weg kann retrospektiv als gut oder schlecht bewertet werden, jede Entscheidung revidiert, jeder Weg kann als Irrweg gesehen werden – und nach einiger Zeit kann es wieder anders aussehen. Anders gesagt: Den richtigen Output der Politik, das richtige Ergebnis, gibt es nicht. Die Möglichkeiten, andere Interessen, Werte und Ideen einzubringen, müssen gewahrt bleiben.

In einer Demokratie nach diesem Verständnis kann es so etwas wie ein übergeordnetes nationales Interesse gar nicht geben, und jeder Beitrag zum geistigen Meinungskampf, um diesen schönen Ausdruck aus dem deutschen Recht zu gebrauchen, ist ein legitimer Beitrag, der geeignet ist, das Interesse der Gesellschaft neu zu definieren.

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Die Logik der Gesetzgebung?

Genau das hat Manning getan. Er selbst sagte – so steht es in den teilweise veröffentlichten Chatprotokollen zwischen ihm und Adrian Lamo – er hoffe inständig, es werde eine weltweite Diskussion geben, sobald die Öffentlichkeit diese Informationen über Afghanistan und den Irak zu sehen bekäme. Sollte die Debatte ausbleiben, würde er den Glauben an die Gesellschaft verlieren.

Ja, er hat ein Gesetz gebrochen. Er hat verbotenerweise Daten kopiert, gestohlen und vermutlich weitergegeben. Er hat Befehlen nicht gehorcht. Dafür muss er sich, wie es jeder andere auch müsste, vor Gericht verantworten.

2063 wird Bradley Manning 75 Jahre alt sein. Sofern er überhaupt so lange durchhält. Er wird, falls er zu 52 Jahren verurteilt werden sollte, dann zwei Drittel seines Lebens im Gefängnis verbracht haben. Er wird alt sein, wenn er es verlässt, vielleicht gebrechlich, er wird wohl sein Leben lang allein geblieben sein. All das, weil er vorgebliche nationale Interessen verletzt hat.

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Crosspost. Die Redaktion Carta möchte den obigen Beitrag ausdrücklich zur Diskussion stellen, um von den Nebenkriegsschauplätzen (Assange vs. Domscheit-Berg) wieder zur Hauptsache zurückzukommen.

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