Re-Politisierung des Politischen: Den Tanker SPD wieder flott machen

von , 12.10.09

Die SPD hat eine der bittersten Niederlage ihrer Geschichte erlebt. Sie ist schwer getroffen, die volle Breitseite Leck gegangen. Nachdem der erste Schreck vorübergezogen ist, spüren die Genossinnen und Genossen, dass der Tanker sich Schritt für Schritt senkrecht stellt und zu Sinken droht.

Vor dem Hintergrund dieser Katastrophe muss dieser Tage und Wochen das Fundament für neues Vertrauen und innerparteiliche Solidarität sowie Demokratie gelegt werden. Es geht um den Aufbau einer Vertrauenskultur in der neuen sozialdemokratischen Führungscrew, zwischen Führung, Mittelbau und Basis, mit der sich eine gemeinsame Arbeit von mindestens vier Jahre in der Opposition gestalten lässt.

Langsam kommt eine breite Auseinandersetzung in der SPD um den künftigen Weg in Gang. Es wäre gut, wenn diese Debatte offen geführt wird. Sozialdemokraten müssen den schwierigen Versuch unternehmen, Verletzungen hinten anzustellen und wieder in den fruchtbaren programmatischen Streit einzutreten.

Um es am Beginn klar zu stellen: Aus meiner Sicht reicht es nicht aus, jetzt nur über neue Machtoptionen im Bund zu diskutieren. Koalitionen, auch mit der Linkspartei, sind das Mittel zum Zweck zur Durchsetzung sozialdemokratischer politischer Inhalte. Sie sind nicht das Ziel sozialdemokratischer Politik, nicht der Markenkern der SPD.

Denn die Aufgaben sind gewaltiger und größer als derzeit diskutiert wird: Die SPD muss gegen Schwarz-Gelb im Verbund mit Grünen und Linkspartei opponieren. Sie muss sich programmatisch erneuern und wieder zuspitzen sowie ihre Organisationsstrukturen auf die Höhe der Zeit und Mitgliederzahl bringen. Sie muss ausstrahlungsfähiger, kulturell offener und vielfältiger werden.

In den kommenden Monaten wird die SPD das Wahlergebnis in einem breiten und offenen Diskussionsprozess grundlegend auswerten. Es gibt keine leichten Antworten, keine leichte Analyse. Die Probleme sind vielschichtig:

  • Wieso sind sozialdemokratische Positionen (gute Arbeit, moderne Familienpolitik, gebührenfreie Bildung) in der Bevölkerung breit mehrheitsfähig, ohne dass die SPD davon profitiert?
  • Wieso hat die SPD keine Antwort auf den Zweifrontenkrieg zwischen Linkspopulismus und mitfühlendem Konservativismus gefunden?
  • Wie konnte es passieren, dass die SPD mit ihrer Politik so sehr an der Lebenswirklichkeit und den Erfahrungen der Menschen vorbei gelegen hat? Die Verkürzung der Bezugsdauer des ALG I sowie die Rente mit 67 sind dafür nur die prominentesten Beispiele.
  • Wo ist das intellektuelle Umfeld der SPD, und in welchen Arenen werden künftig die Diskurse sozialdemokratischer Programmatik geführt?
  • Wieso ging die Verankerung in gesellschaftlicher Bewegung und Diskurs, in Gewerkschaften und Vereinen so rasant verloren?

Um diese Fragen zu beantworten sind keine Schnellschüsse, sondern ergebnisoffene Diskussionen der gesamten Parteibasis erforderlich. Dabei müssen Führung und Basis in einen Dialog kommen, der neues Vertrauen aufbaut.

Zwei falsche Kurse sind derzeit leider schon ausgerufen: Auf der Steuerbordseite die Gralshüter der Regierungszeit, die bis auf Punkt und Komma darauf bedacht sind, das Erbe von elf Jahren Regierungspolitik zu bewahren. Und auf der Backbordseite diejenigen, die die Regierungszeit so schnell als möglich vergessen machen wollen, um die SPD wieder mit ihren Wählerinnen und Wählern vermeintlich zu versöhnen.

Beide Kursstellungen würden den Tanker SPD in die Sackgasse lotsen. Denn sie ignorieren, dass weder ein „Weiter so“ noch ein „Zurück auf Los“ den neuen Standort der Sozialdemokratie zwischen Linkspopulismus und „mitfühlendem“ Konservativismus markieren kann.

In einer Zeit, wo niemand mehr weiß, wofür die SPD eigentlich steht, kann nur in einem beherzten „Vorwärts“ die Suche nach einem neuen sozialdemokratischen Fortschritt gefunden werden. Die SPD muss als linke Volkspartei ihren Führungsanspruch in der Linken programmatisch, emotional und ästhetisch untermauern sowie neu begründen.

Dieser neue sozialdemokratische Fortschritt muss ein Projekt der „Re-Politisierung des Politischen“ sein. Nur wo engagierte Demokraten, verwegene Intellektuelle, Robin Hoods und unbequeme Kreative um einen richtigen Kurs streiten, wird soziale Demokratie wieder zum Leben erweckt. Ideologiefreie, diskursfreie, ideenfreie Zeiten sind keine guten Zeiten für die Sozialdemokratie. „Pure Vernunft darf niemals siegen“, textete einmal die Band Tocotronic. So ist es auch mit der SPD: Sie braucht die Kraft der politischen Erzählung statt der Langeweile der Spiegelstriche und Fußnoten.

So muss die SPD zur Kraft der sozialen, positiven Globalisierung werden. War ihre historische Aufgabe den Kapitalismus auf nationalstaatlicher Ebene durch moderne Sicherungssysteme, Lohnverhandlungen und Mitbestimmung zu bändigen, ist es ihre heutige Aufgabe, der globalen Wirtschaftsordnung ein menschliches Antlitz zu geben. Von der Regulierung der Finanzmärkte über die Entwicklungszusammenarbeit bis hin zu einer neuen globalen Wirtschaftsregierung reichen die Ideen für eine andere Ordnung, die die Welt nicht in Gewinner und Verlierer aufteilt.

Die SPD ist und bleibt die Partei der produktiven Wertschöpfung. Wo Werte geschaffen werden, wo Menschen Arbeit finden, schafft die SPD den politischen und sozialen Rahmen guter Arbeit. Denn Wirtschaft ist nicht gleich Wirtschaft. Die SPD muss als die Kraft wahrgenommen werden, die einen umfassenden wirtschaftspolitischen Ansatz verfolgt, der gute Arbeit schafft, Wohlstand gerecht verteilt und Nachhaltigkeit sowie ökologisch-soziale Verantwortung ins Zentrum stellt. Ihr Ziel ist und bleibt die Zähmung des Kapitalismus.

Das neue sozialdemokratische Projekt ist zudem ein Projekt der Demokratisierung aller Lebensbereiche. Es muss der SPD beispielsweise gelingen, das Internet als demokratisches und freies Medium zu erhalten und zu nutzen. Sie muss offener, dialogischer und anschlussfähiger im Netz sein – ihre Ideen sollten im Netz präsent sein, diskutiert und auch verändert werden. Nur so wird die SPD wieder in einer Bewegung „von unten“ Fuß fassen. Zudem muss die SPD die soziale Lage von „Internetarbeitern und –arbeiterinnen“ im Blick haben, ihre kreative Entfaltung stützen. Die soziale Sicherung prekärer, aber durchaus selbst gewählter Erwerbsformen muss allein schon im Hinblick auf die Stabilität der Sozialversicherung neu diskutiert werden. Es ist Zeit für neue eine sozialdemokratische Netzpolitik.

Eine ausführliche Wahlauswertung ist nötig und richtig. Es geht aber auch darum sozialdemokratischen Fortschritt mit neuen Ideen zu füllen, über den richtigen Weg zu streiten, den Tanker wieder flott zu machen. Das ist allemal attraktiver als ausschließlich über Wohl und Wehe der Jahre 1998-2009 zu philosophieren.

Björn Böhning ist Mitglied des SPD-Parteivorstandes.

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