#Geh nicht hin

Der Nichtwähler: Eine unbekannte Spezies

von , 29.9.09

Die zumeist größte Wählergruppe ist den Politikern immer noch ein großes Mysterium: Die Partei der Nichtwähler, die bei Bundestagswahlen zuletzt an die 30, bei Landtags- und Europawahlen auch mal über 50 Prozent erreicht – und damit Wahlen entscheidet. Dennoch spielen sie im Wahlkampf keine Rolle. Denn: Nichts Genaues weiß man nicht.

Tatsache ist: Nichtwähler sind nicht einfach nur Nicht-Wähler. Oft sind sie frustrierte, manchmal politisch besonders interessierte Wähler. Wir analysieren rationale, antiautoritäre und Protestwähler. Zumeist sind sie besonders desinteressiert, mitunter wählen sie nicht, weil sie mit ihrer Stimme doch nichts bewegen können. Und dann gibt es noch die „unechten“, weil nicht erfassbaren Nichtwähler. Die sind krank oder verzogen, ausgewandert, im Langzeiturlaub oder einfach nicht gemeldet.

Nichtwähler verweigern im Geheimen oder posaunen ihre Haltung in die Öffentlichkeit. Sie sind sehr politisch interessiert – oder wissen noch nicht einmal, dass gewählt wird. Sie passen in keine Schablone! Wer sie gewinnen will, muss zielgruppenorientiert viele Wege gehen.

Der Nichtwähler ist das unbekannteste Wesen der politischen Forschung – und entscheidet häufig Wahlen, wenn den Parteien wieder mal die Mobilisierung ihrer Anhänger misslingt. Nichtwähler symbolisieren das Toyota-Syndrom: Alle Beweggründe sind möglich! Frust – aber auch Lust: Die Pole hier dokumentieren die gesamte Bandbreite in der Volkspartei der Nichtwähler.

Einer Volkspartei, die immer breiteren Zuspruch erhält: 1972 betrug die Wahlbeteiligung 90,8 Prozent, 2005 war sie auf 77,7 Prozent, aktuell auf knapp über 70 gesunken. An der Europawahl beteiligten sich magere 43 Prozent, und der Landtag in Sachsen-Anhalt wird gerade noch von 44 Prozent Wählern legitimiert. Kaum etwas gelingt schwerer, als die Gründe zu strukturieren und analysieren. Und nirgendwo sind Parteien erfolgloser, als beim Versuch, politisches Interesse bei Desinteressierten zu wecken.

Doch so anders sind die Nichtwähler gar nicht.

Hilfestellung bei der Analyse des „Ichs“ verlustiger Wähler kann die simple Frage liefern: Was würde passieren, wenn alle Nicht-Wähler am 27. September wählen gegangen wären? Dann würden – in Maßen –  SPD, FDP und Grüne profitieren: 47 Prozent der Wahlabstinenzler könnten sich vorstellen, sozialdemokratisch zu wählen, nur 36 Prozent die Union. Zumindest aktuell; denn auch Nichtwähler sind volatil und entscheiden spontan: Von den 27 Prozent der Deutschen, die Ende August nicht wählen wollten, sind etwa 60 Prozent auch 2005 nicht zur Bundestagswahl gegangen. Mehr als jeder Dritte stimmt dagegen ab: Jeweils neun Prozent der damaligen Verweigerer würden heute Union und SPD wählen, sechs die Grünen, jeweils fünf Prozent FDP und Linke. Eine hohe Wahlbeteiligung schadet also CDU/CSU und nützt Rot-Grün.

Auch die Soziodemografie zeigt Auffälligkeiten: Frauen verweigern eher als Männer, Bürger mit niedriger formaler Bildung deutlich mehr als Abiturienten 32 zu 19 Prozent). 28 Prozent der Geringverdienenden boykottieren, aber nur 22 Prozent der gut Verdienenden. Im Westen würden sich aktuell 28, im Osten nur 24 Prozent ihrer Stimme enthalten. Vor allem aber: Unter den Erstwählern werden gleich 33, bei den Rentnern nur 18 Prozent am Wahltag nicht gesichtet. Politisch bedeutsam ist nicht nur, dass der Anteil alter Menschen immer größer wird. In Kombination mit der höheren Wahlbeteiligung wird das Übergewicht der Senioren noch eklatanter.

Sie sind also überall vertreten: Unter den Schlauen, Alten und Reichen ebenso wie unter den Dummen, Jungen und Armen.

Allerdings sind die systematischen Nichtwähler klar in der Minderheit. Also diejenigen, die ihre Partei abstrafen, es aber auch nicht mit einer Stimme für den Gegner auf die Spitze treiben wollen. Diejenigen, die sich keiner Autorität unterordnen wollen oder sich für so schlau halten, dass sie sich weigern „politische Inkompetenz“ zu wählen. Etwa 20 Prozent umfasst die Gruppe der „intelligenten“ Verweigerer.

Der typische Nichtwähler dagegen ist werte- und damit orientierungslos. Wie keiner anderen Wählergruppe mangelt es ihr am Werteprofil. Schlimmer noch: Gerade wahlunterstützende Einstellungen wie Pflichtbewusstsein, Traditionsverbundenheit, Religiösität, werteorientiertes Handeln, Rationalität und kulturelles Interesse sind kaum vorhanden. Nichtwählen ist also Folge von Orientierungslosigkeit. Also müssen Wahlaufrufe scheitern. Daher haben einzelne Faktoren allein auch nur einen vagen Einfluss: 32 Prozent der Nichtwähler, aber auch 24 Prozent der Wähler bezeichnen sich als desinteressiert, übrigens besonders wenige Anhänger der FDP und der Grünen.

Auch Politfrust allein erklärt nur teilweise das Zuhausebleiben am Wahltag: „Wo geht es bei uns gerecht zu?“ fragte TNS Emnid: Nirgendwo gab es gravierende Unterschiede: Wähler empfinden die politischen Verhältnisse in Deutschland ähnlich ungerecht wie Nichtwähler. Die Gesundheitsversorgung halten 36 Prozent der Urnengänger und 31 Prozent der Verweigerer für gerecht. Bei der Rente beträgt das Verhältnis 39 zu 33 Prozent, bei Bildung 47 zu 42. Linkswähler urteilen deutlich kritischer. Auf der Links-Rechts-Skala positionieren sich Nichtwähler zwar links der Mitte, aber bei weitem nicht so entrückt wie die der Linken.

Ähnlich häufig wird in beiden Gruppen bürgerferne Politik kritisiert. Dass Wählen gehen keinen Einfluss auf die Politik hat, vertreten 46 Prozent der Wähler und 56 Prozent der Verweigerer. Und dass viel zu wenig auf die Belange der „Kleinen“ eingegangen wird, empfinden 72 Prozent der Nicht- aber auch 66 Prozent der Wähler. Politik wird von den Deutschen universell kritisiert. Wahlabstinenz ist daraus nicht direkt ableitbar.

Frust und Desinteresse sind zwar Treiber, allerdings weit geringer, als landläufig vermutet. Ein Faktor allein reicht nicht, aber Frust und Desinteresse zusammen bedingen erst Wahlabstinenz. Die nur Frustrierten demonstrieren durch die Wahl an den politischen Rändern, die nur Ahnungslosen wählen nach Haar- und Augenfarbe.

Wenn sie nicht zusätzlich noch durch abgehobene Politiker geärgert werden! Denn kaum etwas trennt schärfer: Das Kabinett Merkel/Steinmeier wurde zuletzt von 47 Prozent der Wähler, aber nur noch 29 Prozent der Nichtwähler positiv beurteilt. Und geht es um das Einzelurteil der Ministerriege, schneiden die Ressortverantwortlichen bei den Verweigerern nur annähernd halb so gut ab. Ulla Schmidts Dienstwageneskapade ist demnach ein eindeutiger Verweigerungsgrund. Die nach Bürgermeinung völlig misslungene Gesundheitsreform noch lange nicht. Finanzielle Probleme sind der letzte wichtige Grund für Wahlabstinenz: Für 69 Prozent der Nichtwähler hat sich die eigene finanzielle Lage im letzten Jahr deutlich verschlechtert, unter den Wählern ist es noch nicht mal jeder Zweite.

Frust und Desinteresse, Politikerwut und Not machen Nichtwähler. Die dann bei jeder Wahl nach aktueller Wasserstandsmeldung neu über ihre Teilnahme entscheiden. Besonders die, die wegen geringer Parteienbindung ohnehin so häufig wechseln wie die SPD ihre Parteichefs. Erst die Addition der Wutfaktoren macht aus latenten ständige Nichtwähler.

Was also können die Parteien tun? Bürgernäher politisieren und informieren; vor allem aber, sich endlich wieder einen Markenkern geben, der die Partei prägnant und unaustauschbar macht. Über 70 Prozent der Deutschen erwarten für sich persönlich keinerlei Veränderungen, egal ob Merkel oder Steinmeier die deutsche Politik bestimmt. Fehlt der Markenkern, dann fehlen Schutzpanzer und Wahlmotivation zugleich.Wenn Parteien aber beliebig werden und zudem bei den anschließenden Koalitionsverhandlungen ebenfalls alles möglich ist, macht Wählen für viele keinen Sinn. Zumal auch die Wahlfestlegung immer später erfolgt: Zwei Monate vor der Bundestagswahl waren erst 34 Prozent festgelegt. Gut ein Viertel wollte sich in der heißen Wahlkampfphase, 19 Prozent in der Woche davor und 12 Prozent erst am Wahltag entscheiden. Wer nicht weiß was, der kann Wählen leicht als überflüssige Zeitverschwendung empfinden.

Wer Wahlverweigerer wirklich zu Wählern wandeln will, muss sie „zielgruppenadäquat“ überzeugen. Mysteriöse Gehnichthin-Aufrufe taugen ebenso wenig wie die Wahlschlepper-Initiative. Nichtwähler nämlich sind gerade deshalb Nichtwähler, weil nicht zu wählen die natürliche Reaktion auf Unzufriedenheit ist. Daher ist auch die häufig geäußerte Idee zum Rückholen der Wähler, Wahlkampferstattungen nicht vom Anteil, sondern von der absoluten Wählerzahl abhängig zu machen, nicht zielführend. Nie hätten wir einen besseren Grund, unseren Frust an den Politiker auszulassen.

Klaus-Peter Schoeppner hat diesen Text für Cicero geschrieben. Wir übernehmen ihn hier mit freundlicher Genehmigung des Autors.

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