Europawahlen: “Praktizierte Europaverachtung”

von , 4.6.09

Vorneweg die CDU. Der Kanzlerinnenwahlverein wirbt mit einer präsidialen Angela Merkel und dem Halbsatz „Wir in Europa“. Man soll wohl CDU wählen, um zu erfahren, wie er vollständig lautet. Aus Überzeugung SPD wählen, tun heutzutage ja die wenigsten. Folglich inszeniert sich die einst stolze Volkspartei schlicht als das kleinere Übel. Mit all den anderen Heiße Luft-, Finanzhai- und Dumpinglohnparteien würde es ja schließlich noch schlimmer kommen. Das Programm der FDP heißt Silvana Koch-Mehrin und die beschränkt sich darauf, mit lasziv geöffnetem Mund mal eben ein Jahrhundert Emanzipationsgeschichte wegzulächeln.

Vor ihren großgeschriebenen Vornamen hat sie sicherheitshalber noch einen Doktortitel setzen lassen, schließlich besagen die Mythen der Parteienforschung, dass ein paar Ärzte und Rechtsanwälte mal FDP gewählt haben. Und weil Botschaft und Produkt in der Werbung immer zueinander passen müssen und man auch von Heidi Klum keine Aussagen über Europas Finalität oder die Regulierung der Finanzmärkte erwarten würde, wirbt Silvana schlicht mit „Für Deutschland in Europa“. Wer dafür ist – also Deutschland nicht wie die anderen Parteien in der südlichen Hemisphäre verortet – ist hier richtig. Die Diskussion des GRÜNEN-Slogans – „WUMS“ – muss an dieser Stelle leider entfallen, weil der Autor ihn nicht verstanden hat. Schade eigentlich, denn die GRÜNEN haben mit ihrem Green New Deal nicht nur programmatisch vorgelegt, sondern versuchen seit der Gründung der Europäischen Grünen Partei vor fünf Jahren in Rom auch wie keine andere Partei, den Integrationsprozess in ihren Strukturen nachzuvollziehen.

All das ist nicht nur banal und inhaltsleer – das ist praktizierte Europaverachtung. Eine ernsthafte Debatte darüber, dass die EU und damit auch das Europaparlament der nationalen Politik in vielen Bereichen, etwa der Währungs-, Wettbewerbs- oder Verbraucherschutzpolitik, längst den Rang abgelaufen haben, findet nicht statt. Tabuisiert wird, dass viele weitere Herausforderungen – die Wirtschaftskrise, die Frage sozialer Mindeststandards oder die Einwanderungsproblematik – ebenfalls nur gemeinsam gelöst werden können. Themen, über die sich trefflich streiten lässt, gebe es also genug. Doch bleibt es im Wahlkampf bei pro-europäischen Lippenbekenntnissen, populistischer EU-Kritik oder nationalen Themen.
Damit verfestigen die Parteien just jene Apathie auf Seiten der Bürger, über die sie im nächsten Moment Krokodilstränen vergießen. Seit Jahren steht die Bedeutung der EU in einem krassen Missverhältnis zu ihrem Image. Zwar bildet sich dank Schengen, des Euros und diverser Studentenaustauschprogramme zusehends ein Bewusstsein für Europa als kulturellem Raum ohne Grenzen. Doch wird die EU, also das politische Europa, von den Bürgern bestenfalls hingenommen.

Noch immer steht Brüssel für wenig mehr als den Einfall des globalen Turbokapitalismus, Arbeitsplatzverlust und die Erosion nationaler Wohlfahrtskulturen. Das ist nicht zuletzt darauf zurückzuführen, dass von einem den Wirtschafts- und Währungsraum ergänzenden europäischen Sozialmodell keine Rede sein kann. Antworten auf Fragen, zu denen Europäer Umfragen zufolge Antworten erwarten, die Sorge vor Wirtschaftskrise und Jobverlust, blieb die EU schuldig, denn auf ein gemeinsames Krisenmanagement beziehungsweise eine Abstimmung der nationalen Konjunkturprogramme konnten sich die Mitgliedsstaaten nicht einigen.

Wenn just jene Politiker, die sich gerne auf ein vermeintlich „höheres Gut“ oder den Mehrwert der EU beziehen, die EU untereinander vor allem als Fortschreibung nationaler Politik verstehen, verwundert es kaum, wenn die Wähler ihrerseits Brüssel zur Projektionsfläche für Fehlentwicklungen aller Art machen und europapolitische Abstimmungen dafür nutzen, Denkzettel für die nationale Politik zu verteilen. Doch wer ein anderes Europa will, muss wählen gehen statt durch Abstinenz den Status Quo zu stärken.

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