von Thomas Elbel, 7.2.13
„Mein Kopf gehört mir“ war eine Kampagne des Handelsblatts aus dem April 2012 betitelt. 100 Kreative beklagten darin die Forderung nach einer „freien“ Nutzbarkeit geistiger Schöpfungen. Sie wandten sich damit unter anderem gegen die von der Piratenpartei sowie von Teilen der Grünen und Linken geforderte Legalisierung der unerlaubten Verbreitung urheberrechtlich geschützter Werke (oft in verfälschender Verknappung als „Filesharing“ bezeichnet).
Die Kampagne hat heftige Kritik auf sich gezogen. Zum einen, weil viele darin den Versuch einer vermeintlich etablierten Schicht von Kreativ-Promis sahen, ihre Pfründen zu wahren. Noch viel mehr aber, weil sich der Slogan der Kampagne bewusst oder unbewusst an den zu diesem Zeitpunkt fast genau 20 Jahre älteren Kampfruf der GegnerInnen des Abtreibungsparagraphen 218 StGB „Mein Bauch gehört mir“ anlehnte. Anfang der 1990er-Jahre markierten diese Worte den Wunsch der Frauen nach Autonomie im Umgang mit einer ungewollten Schwangerschaft. Der Slogan wies treffsicher auf den Grundkonflikt der damaligen Debatte. Diejenigen, die den Frauen das Recht auf Abtreibung verwehren oder sie wesentlichen Beschränkungen unterwerfen wollten, maßten sich damit zugleich die Herrschaft über den Körper der schwangeren Frau an.
Die Kritiker der Kampagne des Handelsblatts erblickten in der Ähnlichkeit der Slogans eine „Unverschämtheit“. Der Kampf der Frauen für körperliche Selbstbestimmung würde damit für den Kampf gegen das Internet missbraucht. Ich kann diesem Argument und der Kritik an der Handelsblattkampagne bis heute nicht folgen. Im Gegenteil: Die Anlehnung des neuen Slogans an den alten erscheint mir durchaus sachgerecht. Denn tatsächlich geht es in beiden Fällen im Kern um nichts anderes als Selbstbestimmung.
Um möglicher Kritik vorzugreifen: Ich will das Leid, die Bedrängnis und Gewissensnot einer ungewollt Schwangeren, die sich in ihrer misslichen Lage auch noch staatlichen Repressionen ausgesetzt sieht, weder quantitativ noch qualitativ mit dem milden Missbehagen des Künstlers vergleichen, der eine illegale Kopie seines Werks im Internet findet. Ein solcher Vergleich wäre in der Tat vermessen und unpassend. Aber ich möchte darauf aufmerksam machen, dass in beiden Fällen derselbe totalitäre Begründungsmechanismus am Werk ist. In beiden Fällen wird eine freie, selbstbestimmte Entscheidung des Individuums über eine überaus persönliche Angelegenheit den vermeintlich höherwertigen Interessen des Kollektivs untergeordnet und in Konsequenz dessen durch hoheitliche Machtentfaltung für unbeachtlich erklärt.
Um diese Behauptung nachvollziehbarer zu machen, ist es nötig, sich das philosophische Fundament anzuschauen, auf dem die Forderung nach einer Legalisierung der bedingungslosen Aneignung geistiger Schöpfungen anderer beruht.
Hier stechen neben allen oberflächlichen Scheinargumenten – wie z.B. der Angst vor einer Totalüberwachung des Cyberspace oder vor einer klandestinen Weltverschwörung der Verwertungsindustrie mit quasikriminellen Absichten („Content-Mafia“) – zuvörderst zwei Theorien heraus, die der sogenannten Wissensallmende und das eng damit verknüpfte Gleichnis der Zwerge auf den Schultern von Riesen.
Ich möchte mit Letzterem beginnen. Es war der mittelalterliche Gelehrte, Theologe und Philosoph Bernhard von Chartres, dem diese Äußerung als erstem zugeschrieben wird. Er wollte damit auf den Umstand aufmerksam machen, dass jede menschliche Generation ihren eigenen Fortschritt dem gleichsam gigantischen Ozean kreativer Leistungen ihrer Vorgenerationen verdankt. Damals bescheidene Selbsterkenntnis eines Neuplatonikers, heutzutage kaum mehr als eine Binsenweisheit. Eine aktuelle philosophische Strömung aber will aus dieser Erkenntnis ableiten, dass dem Einzelnen kein moralisch begründbares Recht an seinen geistigen Schöpfungen zukomme. Eine der Kommentatorinnen zu meinen letzten Artikel „Schadenfreude eines Urhebers“ brachte das so zum Ausdruck: „… ich halte es tatsächlich weder für gottgegeben noch für nachvollziehbar, dass wir uns alles, worauf wir als Kreative aufbauen einfach “mitaneignen”.“
Diese Meinung ordnet also die Verwertung der geistigen Leistung des Urhebers als unzulässige „Aneignung“ des kulturellen Vorwissens ein. In einer paradoxen Verkehrung des realen Vorgangs wäre der illegale Download eines Computerspiels demzufolge ein legitimer Akt der Rückführung der darin verkörperten Kulturleistung ins Allgemeingut.
Und damit bin ich bei der Wissensallmende. Auch die Allmende ist ein aus dem Mittelalter stammender Begriff. Er bezeichnete jene Güter einer Gemeinde, deren Nutzung notwendigerweise der Allgemeinheit zustand, wie z.B. das Wasser des örtlichen Brunnens. Eine moderne Wissenschaftstheorie entwickelte unter dieser Bezeichnung Mechanismen einer gemeinnützigen Bewirtschaftung solcher natürlichen Ressourcen, von denen letztlich das Wohl der ganzen Menschheit abhängt, wie etwa Luft, Wasser, Grund und Boden etc. Es war neben anderen die preisgekrönte, amerikanische Politologin Elinor Ostrom, die in einer späten Phase ihres Schaffens diese Mechanismen auch auf das Menschheitswissen angewandt sehen wollte und damit eine theoretische Begründung für das Konzept der Wissensallmende lieferte.
Knapp ausgedrückt, fordern dessen Vertreter, dass jede wissenschaftliche Erkenntnis mit ihrer Veröffentlichung der Gemeinschaft bedingungslos zur Verfügung zu stehen habe. Eine „Kommodifizierung“, also die wirtschaftliche Verwertung geistiger Schöpfungen, hindere den menschlichen Fortschritt und sei daher im Interesse der Menschheit nicht hinnehmbar. Wiewohl das Konzept der Wissensallmende ursprünglich wissenschaftlichen Leistungen galt und damit primär eine Kritik des Patentwesens ist, wird es heute von der selbsternannten Netzgemeinde unterschiedslos auf alle kulturellen Leistungen vom Shakespeare-Drama bis hin zum Groschenroman, von der Beethovensonate bis zum DSDS-Schlager, von „Metropolis“ bis zu „Two and a Half Men“ angewandt.
Ich finde, dass sowohl das heutige Verständnis des Riesen-Gleichnisses als auch das Konzept der Wissensallmende, soweit es zur Rechtfertigung einer unfreiwilligen Verbreitung von kulturellen Erzeugnissen herangezogen wird, mit dem Grundwert einer freiheitlichen Gesellschaft selbstbestimmter Bürger kaum in Einklang zu bringen ist. Der Slogan „Mein Kopf gehört mir“ und seine Anlehnung an das Paradigma der Abtreibungsbefürworter bringt mein diesbezügliches Unbehagen auf den Punkt.
Wer aus der Spruchweisheit Bernhard von Chartres’ ableitet, jedes geistige Werk sei letztlich nur derivativ, vergisst – nicht ganz unabsichtlich, wie mir scheint – den Zwerg, der auf den Schultern des Riesen steht. Goethe hat seinen „Faust“ älteren literarischen Vorbildern entlehnt, die letztlich auf eine historische Gelehrtengestalt zurückgehen. War seine Leistung also weniger genial, nur weil er auf Bekanntes zurückgriff? Wer so argumentiert, dem sei Wittgensteins spätes Echo auf das Riesen-Gleichnis entgegengehalten: „Er [der denkende Geist] muss sozusagen die Leiter wegwerfen, nachdem er auf ihr hinaufgestiegen ist.“
Mag sein, dass dieses Argument etwas von seiner Durchschlagskraft einbüßt, wenn man es auf den neuesten „Jerry Cotton“ bezieht, aber wer der Medaille der geistigen Schöpfung ihre zweite Seite, also namentlich ihre Eigenheit abspricht, argumentiert töricht und sicherlich fernab der schlichten Weisheit von Bernhards christlich demütigem „Gnothi seauton“. Anderenfalls müsste man eigentlich zu dem erstaunlichen Ergebnis kommen, dass die Kulturentwicklung sich seit Anbeginn der Menschheit in einem Zustand permanenter Wiederholung und damit quasi im Dauerstillstand befindet. Ich denke, der Unsinn dieses Arguments sollte nun hinreichend deutlich geworden sein.
Nun würde eine derartige Torheit und die damit verbundene latente Verachtung und Geringschätzung kreativen Talents niemanden weiter stören, wenn sie nicht im Gewand des Konzepts der Wissensallmende den Charakter einer politischen Forderung bekäme. Der Kreative, der sich entscheidet, das Produkt seiner kreativen Arbeit nur gegen die von ihm bestimmte Vergütung abzugeben, trifft eine autonome Entscheidung. Sie mag aus Sicht der Gesellschaft eigensüchtig oder gar habgierig erscheinen, aber Tatsache ist, dass unsere Rechtsordnung der Entscheidungsfreiheit des Individuums größten Wert zumisst. Das verfassungsrechtliche Substrat dieser Wertzumessung ist unter anderem der erste Artikel unseres Grundgesetzes, der dem Schutz der Menschenwürde gilt.
Eine unter Rechtswissenschaftlern gängige Auslegung dieser Norm lautet, dass sie verbietet, „den Einzelnen zum bloßen Objekt staatlichen Handelns zu degradieren“. Sie wurzelt in den Erfahrungen des Dritten Reichs, nach dessen totalitärer Weltanschauung der Einzelne sich den Bedürfnissen des Kollektivs unterzuordnen hatte, als dessen alleiniger Vertreter sich der Hitlerstaat begriff. Auch das Urheberrecht sollte diesem vom Nationalsozialismus postulierten Primat des Kollektivs angepasst werden, interessanterweise mit einer recht bekannt klingenden Argumentation:
„[Die] nationalsozialistische Urheberrechtswissenschaft [drängte] darauf, die Rechtsstellung des Werkschöpfers zu Gunsten der Allgemeinheit zu beschneiden. Denn der Urheber sei zwar Schöpfer des Werkes, der Akt der Schöpfung sei ihm aber nur möglich, da er Teil der Gemeinschaft sei, aus deren kulturellen Fundus er schöpfe. Somit wurde das Werk selbst als Grund für das Urheberrecht angesehen, die Interessen des kreativen Individuums dagegen rückten in den Hintergrund. Ein Urheberschutz sollte nur noch zu dem Zwecke stattfinden, den Urheber im Interesse der „Volksgemeinschaft“ zur weiteren kreativen Tätigkeit anzuhalten. Wo immer aber die Interessen des Volkes mit denen des Urhebers kollidierten, sollten letztere zurücktreten. Zwar sollte der Urheber von der Verwertung seines Werkes weiterhin profitieren. Aber er hatte bei der materiellen Verwertung seiner schöpferischen Leistung stets die „natürlichen Grenzen“ zu beachten, die ihm durch seine „‚ideelle’ Verbindung mit der Volksgemeinschaft“ gezogen wurden. Bewerkstelligt werden sollte dies durch ein System von gesetzlichen Lizenzen. Hiernach hätte der Urheber die Verwendung seines Werkes zum Wohle der Allgemeinheit nicht mehr unterbinden können, wäre dafür aber finanziell kompensiert worden.“
(Zitat aus „Das Reichsgericht, das Urheberrecht und das Parteiprogramm der NSDAP“ von Dipl. Jur. Simon Apel in „Zeitschrift für das juristische Studium (ZJS), 2010, S. 141 f. mit weiteren Quellennachweisen)
Ganz ähnlich klingt das in der anderen großen totalitaristischen Ideologie des 20. Jahrhunderts:
„Entsprechend dem von liberalen Ideen grundsätzlich abweichenden Rechtsdenken in totalitären Staaten soll das künftige Urheberrecht in der DDR die Interessen der Gemeinschaft den Interessen des einzelnen, des Künstlers, überordnen. Der Ostberliner Urheberrechtler Anselm Glücksmann definiert die Funktion des neuen Gesetzes denn auch so: ‚Im Mittelpunkt steht die Entwicklung einer reichen und vielfältigen Nationalkultur und die aktive Beteiligung aller Werktätigen am kulturellen Leben. ‘ Mittelpunkt des Ost-Entwurfs ist eine Neuformulierung der sogenannten Persönlichkeitsrechte, die laut Glücksmann ohnehin im geltenden Recht ‚vom kapitalistisch-liberalistischen Rechtsdenken‘ geprägt seien.“
(Zitat aus „Gegen die Erben“, Artikel in „Der Spiegel“ vom 27.4.1960, Heft 18, S. 81 f. zum Entwurf eines DDR-Urheberrechtsgesetzes)
Nicht umsonst wird daher der Begriff der Wissensallmende als eng verwandt mit dem des Wissenskommunismus angesehen. Es mutet insofern auf den ersten Blick paradox und auf den zweiten Blick bestürzend an, dass gerade die dem bürgerlich-liberalen Spektrum zuzuordnenden Grünen und Piraten sich in ihren einschlägigen Argumentationen mit schlafwandlerischer Sicherheit in totalitäres Fahrwasser begeben. Auch bei der Linken und Teilen der SPD finden sich ähnliche Denkmuster.
Einig scheinen sich alle Vertreter dieser Strömung jedenfalls in der Eigenschaft des Kreativen als Melkkuh der Gemeinschaft zu sein: Der Kreative hat im Sinne dieser Ideologie die zwangsweise Requirierung seines „geistigen Kindes“ durch das Kollektiv zu dulden, genauso, wie die Frau im Nationalsozialismus „dem Führer ein [körperliches] Kind schuldete“. Wem diese Analogie vom geistigen und körperlichen Kind zu weit hergeholt erscheint, der bedenke, dass die metaphorische Umdeutung der geistigen Schöpfung in einen Geburtsvorgang schon in der Antike wurzelt, wo Pallas Athene, die Göttin der Weisheit, dem Kopf ihres Vaters Zeus entsprang, einem Mythos aus dem zum Beispiel die deutsche Wendung „Kopfgeburt“ entstand.
Der Schriftsteller Florian Beckerhoff brachte die Analogie zwischen geistigem und körperlichem Kind in seinem Kommentar zur „Mein Kopf gehört mir“-Kampagne wie folgt auf den Punkt:
„Ja, mein Kopf gehört mir! Deswegen bin ich absolut der Überzeugung, dass jeder Mensch das Recht hat, selbst zu entscheiden, welche Ideen, mit denen er schwanger geht, er abtreibt und welche er austragen möchte.“
In diesem Sinn haben beide Kampagnen durchaus einen gemeinsamen Kerngedanken, nämlich die Verteidigung der Selbstbestimmtheit gegenüber dem Machtanspruch des Kollektivs. Eine weitere Parallele ist, dass der Bezugspunkt dieser Autonomie in beiden Fällen einen als überaus persönlich empfundenen Bezugspunkt hat. Ich empfinde nach alledem die Anlehnung als durchaus gerechtfertigt.
Abschließend möchte ich noch bemerken, dass der Allmendegedanke, wenn er seinem Ursprung entsprechend auf natürliche Ressourcen angewandt wird, sicherlich ein sehr vernünftiger Ansatz ist. Aber er wird zur Perversion seiner selbst, wenn man ihn auf menschliche Köpfe (oder weibliche Bäuche) anwendet und hieraus das Recht zu staatlicher Kontrolle derselben ableiten will.
Als Kronzeugen der Gegenmeinung werden in Bezug auf geistige Schöpfungen häufig das Wikipedia- und das Linux-Projekt bemüht. Dies ist widersinnig. Sind doch gerade diese Projekte durch die Freiwilligkeit der Zurverfügungstellung von Inhalten gekennzeichnet. Und über die ganze Debatte ist fast in Vergessenheit geraten, dass Filesharing als Technologie ursprünglich entwickelt wurde, um solche freiwillig zur Verfügung gestellten Inhalte möglichst effizient verbreiten zu können. Erst die Nutzung dieser Technologie für Urheberrechtsverstöße hat die Technologie in Verruf gebracht und dem Begriff seinen unverdient negativen Beigeschmack verschafft.
Wenn aber der Staat heute die Verbreitung urheberrechtlich geschützter Inhalte legalisieren soll und damit deren Bezahlung in das alleinige Belieben der Konsumenten stellt, schafft er eine asymmetrische Situation, in der der Urheber die beliebige Nutzung seiner Werke ohnmächtig dulden muss. Das ist aber eben nichts anderes, als der staatliche Zwang zu einer im Übrigen höchst zweifelhaften Gemeinnützigkeit. Zweifelhaft ist diese vor allem deswegen, weil die westliche Gesellschaft zumindest nach meiner eigenen Einschätzung eher an einer Art Kulturüberflutung als dem Gegenteil leidet. Allein mit kostenlosen Angeboten könnte sich auch ein Mittelloser mehrere Leben auf anspruchsvollstem Niveau unterhalten. Warum also die Künstler zur kostenlosen Freigabe zwingen, vielleicht weil die selbsternannten Bürgerrechtler Freiheit mit Kostenfreiheit verwechseln?
Wie dem auch sei: Zwölf Jahre Nationalsozialismus und gut vierzig Jahre real existierender Sozialismus auf deutschem Boden sollten uns gelehrt haben, dass Gemeinsinn weder verordnet noch erzwungen werden sollte.
Bitte lesen Sie in Michael Seemanns “Die Null-Euro-Utopie” Argumente zur Gegenposition.