von Frank Stauss, 22.10.15
Es ist Zeit, wieder gerade zu rücken, was aus dem Gleichgewicht geraten ist.
Es ist Zeit, den verlogenen angeblichen Ängsten vor „Jungen Männern mit Bedürfnissen“ klar entgegen zu treten. Junge Männer, in vielen Fällen Teenager, die von ihren Familien losgeschickt wurden, um für ihre Geschwister das Überleben zu sichern, haben ganz andere Sorgen, als zu pimpern. Auf ihnen liegt die Last, ihre Liebsten in der Heimat zu retten. Die wollen arbeiten und nicht vögeln. Und überhaupt – was habt ihr eigentlich für ein krankes Hirn, dass ihr in jedem jungen Mann einen Vergewaltiger sehen wollt? Wahn – Wunschvorstellung oder was?
Es ist Zeit, den durch und durch abstoßenden Rechtsauslegern klar zu sagen: Dass ausgerechnet ihr euch aufspielt, die Homosexuellen vor den potentiellen Übergriffen der Muslime in Schutz nehmen zu wollen, ist ja wohl der Treppenwitz der Weltgeschichte. Wenn ich die Wahl habe zwischen KZ mit rosa Wimpel oder Rübe ab, dann komme ich als Schwuler aber ganz schön ins Grübeln. Klar gibt es unter Flüchtlingen Intoleranz, Ausgrenzung und auch Hass. Aber als Schwuler wehre ich mich ausdrücklich dagegen, ausgerechnet von „Christlichen-Abendland-Verteidigern“ in Schutz genommen zu werden, nachdem sie mir mit ihrem bigotten Schuldgeschwätz meine halbe Jugend versaut haben, mein Umfeld gegen mich aufwiegeln wollten, nicht wenige Teenager in den Suizid getrieben haben und bis zum heutigen Tag Ausgrenzung predigen. Pfui Teufel!
Es ist Zeit, den Konservativen, die gestern noch die Herdprämie für eine super Idee hielten, die gegen die Frauenquote agitierten und denen man seit Jahrzehnten die Gleichberechtigung der Frau in ihr dumpfes Hirn stopfen muss, zu sagen: Dass ihr euch plötzlich für die Rechte der Frauen interessiert, die ihr über Jahrzehnte hier im Land blockiert habt, das müsste euch eigentlich jeden Morgen den Spiegel im Bad zerspringen lassen. Ja, Menschen, die in einem anderen Kulturkreis aufgewachsen sind, müssen eine andere Gesellschaftsordnung lernen und anerkennen. Aber tun wir doch bitte nicht so, als seien wir hier schon seit Jahrzehnten die tolerante, weltoffene Gesellschaft schlechthin. Auch für uns war das ein langer Prozess und wie wir wissen, haben nicht alle von uns die nächste Entwicklungsstufe schon erklommen.
Es ist Zeit, denen, die jetzt von „Prügeleien in Flüchtlingsunterkünften“ gar nicht genug bekommen können, zu sagen: In diesem Land brennen mehr Flüchtlingsunterkünfte als es Rangeleien gibt, werden Menschenleben aufs Spiel gesetzt und traumatisierte Flüchtlinge weiter traumatisiert. Das ist die Schande. Das ist das Problem. Zu viele aggressive junge Männer in Zelten nannte man früher Oktoberfest. Aber denen hat man nicht zu Hause die Hütte zerbombt und denen fackelt man auch nicht die Halle ab. Also auch hier einen Gang runter schalten in der Erregungsschlaufe.
Menschen flüchten tausende von Kilometern auf der Suche nach Frieden und Arbeit, um dann von Dorfdeppen angespuckt zu werden, die ihren lahmen Arsch noch nie aus dem eigenen Kaff rausgewuchtet haben. Schon gar nicht für einen Arbeitsplatz.
Es ist Zeit, den jungen Menschen, die in Sachsens Dörfern pöbeln und spucken zu sagen: Was machst Du Depp denn noch hier, wenn Du keine Zukunft hast? Du bespuckst Flüchtlinge, die tausende von Kilometern zu Fuß hinter sich gebracht haben? Aber selbst schaffst Du es nicht einmal von Heidenau nach Ingolstadt oder nach München oder nach Stuttgart oder andere Städte, in denen sie händeringend nach Leuten suchen? Was bist Du denn für ein antriebsloser Vollpfosten! Wie? Bei Mama ist schöner? Aber dann noch auf andere herabsehen wollen. Wie erbärmlich.
Es ist Zeit, denjenigen, die auch 25 Jahre nach dem Mauerfall noch erschrecken, wenn sie einen Ausländer sehen, zu sagen: Wie lange denn noch? Wie lange braucht ihr denn noch, um im 21. Jahrhundert anzukommen? Wenn man eine Tür öffnet, dann ist sie offen. Dann kann man rausgehen, aber es können auch andere reinkommen. Was ist daran so schwer zu kapieren? Ich weigere mich anzuerkennen, dass erwachsene Menschen noch Angst vorm schwarzen Mann haben. Oder vorm Nachtkrabb. Oder vor Shrek unterm Bett? Du lieber Himmel. 25 Jahre – das ist eine ganze Generation. Get the fuck over it.
Es ist Zeit, unseren Politikerinnen und Politikern zu sagen: Fangt jetzt bloß nicht an zu wackeln. Organisiert, investiert, professionalisiert. Entlastet die vielen tausend Helferinnen und Helfer. Vermittelt im Ausland, nehmt Europa in die Pflicht, unterstützt Flüchtlingslager näher an den Herkunftsländern und macht all das, was man euren Job nennt. Improvisiert und schießt von mir aus euren Fetisch, der sich „Schwarze Null“ nennt, auf den Mond. Andere Zeiten erfordern andere Maßnahmen. Aber fangt jetzt bloß nicht an zu wackeln. Ein heulender Seehofer ist schon peinlich genug, mehr Memmen brauchen wir nicht.
Es ist Zeit für eine glasklare Haltung. Kein Wackeln. Kein Zaudern. Kein Zögern. Die Menschen in Deutschland wollen in ihrer überwältigenden Mehrheit, dass die Menschlichkeit gewinnt. Sie empfinden durchaus, dass das eine große Aufgabe ist. Aber sie wollen, dass sie gelingt. Sie wollen stolz sein, auf das andere Deutschland.
Daher, liebe Politiker: Bitte mal wieder einen Gang zurück schrauben mit den persönlichen Panikattacken. Uns hier draußen im Land geht es im Oktober 2015 nicht anders als im Oktober 2014. Wir leben unser Leben, mit dem Unterschied, dass wir jetzt endlich die zu kleinen Kinderklamotten und die alten Winterjacken losgeworden sind und uns auch noch gut dabei fühlen konnten. Ansonsten reden wir hier über Fußball, Fifa, den Tatort und erörtern die Frage, warum jetzt plötzlich wieder alle jungen Leute in Röhrenjeans mit Hochwasser rumlaufen. Das sah doch schon 1980 Scheiße aus. Aber woher sollen sie es wissen, da waren sie ja noch nicht auf der Welt. Business as usual, eben.
Also: Macht bitte weiter eure Jobs und vermittelt uns nicht ständig mit Floskeln wie „größte Herausforderung seit …“ oder „Bis an die Grenze der Belastbarkeit …“ oder sonstigem „Ich – hab’-den-Größten-und-auch-die-größte-Krise“ Machogeschwätz eure eigene Überforderung. Keiner von uns in der Nachkriegsgeneration hat jemals eine wirklich große Herausforderung bestanden und keiner von uns ist je an die Grenzen seiner Belastbarkeit gegangen. Außer vielleicht beim Bungee-Jumping. Wir kommen schon klar, macht euch keine Sorgen.
Nicht wir sind es, die größte Herausforderungen zu meistern haben, sondern diejenigen, die zu uns kommen.
Nicht wir haben ein Problem, weil wir in der Turnhalle kein Zirkeltraining machen können, sondern die, die in der Halle leben müssen.
Nicht wir haben irgendeinen Grund zu jammern, sondern alle, die ihre Heimat, ihre Familie, ihre Freunde verloren haben.
Das bitte, liebe Politiker, ist die Antwort, die ihr an euren Stammtischen allen geben solltet, die euch blöd kommen. Und ja, ein fröhliches „Wir schaffen das“ könntet ihr den Stänkerern noch hinterher werfen.
Das würde man dann Rückgrat nennen.
Es ist Zeit.
Der Text ist auch erschienen auf frank-stauss.de
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