#AfD

Ein langweiliger Wahlkampf?

von , 1.9.17

Kreuzen sich die Wege zweier elektromagnetischer Wellen im Niemandsland. Fragt die eine die andere: Wie geht´s, was schleppst du heute?

Sagt die andere: Alles gut. In meinem Wellen-Päckchen steht: Der Bundestagswahlkampf ist langweilig.

Sagt die erste Welle: Hab ich auch geladen.

Antwortet die zweite: Immer dasselbe. Wer hat dir deins auf den Weg gegeben?

Welle 1: Focus. Und von wem hast du dein Päckchen bekommen?

Welle 2: Vom ZDF, ist doch irgendwie furchtbar langweilig oder?

 

Wenn´s gar den elektromagnetischen Wellen zu langweilig würde, einen als langweilig verschrienen Wahlkampf zu transportieren, ja dann wäre „etwas faul im Staate Dänemark“, wie Marcellus im Hamlet meinte, ein Offizier der Wache, wir würden heute sagen: ein Personenschützer des Prinzen.

Aber stimmt das? Ist der Wahlkampf langweilig? Ich habe meine Zweifel.

Ich will das zunächst an wenigen Ereignissen festmachen. Da war am 28. August auf Spiegel Online ohne jegliches sprachliches Zögern zu lesen, Gerechtigkeit sei ein „Kampfbegriff“.

Das wirkte auf mich, als sei der Satz aus Artikel 20 des Grundgesetzes: „Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat“, klammheimlich in Teilen gestrichen worden: Sozial raus, entsorgt, demokratischer Bundesstaat reicht.

Gerechtigkeit – ein Kampfbegriff? Blödsinn. Allmählich glaube ich, dass einigen Spiegel-Leuten Gras in der Hosentasche wächst. Gerechtigkeit wird nicht zum Kampfbegriff, weil die einen fordern, es sei an der Zeit eine gerechtere Politik zu betreiben und die anderen entgegnen, das sei nicht oder noch nicht notwendig.

Gerechtigkeit ist in diesem Wahlkampf sowieso nicht der leitende Begriff. Das ist wie in Wahlkämpfen zuvor die Verantwortung beziehungsweise die Abwesenheit von oder der Verzicht auf Verantwortung. Verantwortung verstehe ich hier als Ergebnis von Einsicht, Pflicht und Können. Das ist Verantwortung wie sie der jüdische Philosoph Hans Jonas einforderte. Verantwortung sei im Zeitalter ungeheuer rascher technologischer Veränderungen anders zu sehen als bisher, nämlich in einen größeren zeitlichen (über die Generationen hinweg) und räumlichen Zusammenhang (über die Landesgrenzen hinweg) zu stellen. Wer Veränderung wolle, die auf Mensch und Natur einwirke, sei strikt begründungs- sowie erklärungspflichtig und nicht derjenige, der einer Veränderung mit Skepsis begegne. Denn uns fehle einfach die Möglichkeit, das Ergebnis von Veränderung im Voraus sicher zu erkennen. (Hans Jonas: Das Prinzip Verantwortung: Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation)

Es ist kein Wunder, dass Marktgläubige hier und Fortschrittsbesessene dort Jonas rasch wieder aus der Hand gelegt haben, nachdem 1979 sein erwähntes Hauptwerk erschienen war. Das passte nicht. Störte nur. Hans Jonas erhielt dennoch im Oktober 1987 den Friedenspreis des deutschen Buchhandels. Laudator damals: Der Philosoph Robert Spaemann. Es lohnt, deren Reden, also Spaemanns und die Entgegnung von Jonas nachzulesen.

Erstaunlich ist, dass „Sünden“ wider die Verantwortung eine so geringe Rolle spielen. Alexander Grau hatte im Cicero völlig Recht, weil er der FDP und ihrem Vorsitzenden Christian Lindner die Ohren lang zog. Die werben mit dem Slogan: „Digital first. Bedenken second.“ Grau: „demonstrativ zur Schau gestellter Anti-Intellektualismus“.

Die parteipolitische, gespielte „Gewissheit“ dass digital an erster Stelle steht, und dass es Zeit hat, Fragen der Sicherheit, der Konsequenzen, Fragen nach Risiken später zu beantworten, das ist eine Gaukelei. Mehr nicht. Hat mit Verantwortung nichts zu tun.

Am selben Tag war zu lesen, dass Herr Gauland, der nicht als netter Opa für die Apotheken Umschau in Frage käme, gefordert hat, die stellvertretende SPD-Vorsitzende Aydan Özuguz in Anatolien zu „entsorgen“. Entsorgen bedeutet, sich der Sorge um etwas zu entledigen. Auch das ist verantwortungslos. Denn Gauland spielt einen Gedanken aus, der nur ungesetzlich und gewaltgesättigt verwirklicht werden könnte. Natürlich streitet er diese Absicht ab. Es ist aber nun mal so: Man kann mit der Fackel der Erkenntnis Licht spenden oder auch einen Scheiterhaufen anzünden.

Herr Gauland hat sich nicht entschuldigt. Er kitzelt weiterhin den Schweinehund in seiner Anhänger- und Gefolgschaft. Denn er zeigt Verständnis für die AfD, weil die mit einem Plakat für sich wirbt, auf dem die blutigen Anschläge der Dschihadisten in Europa auf perfide Weise der Bundeskanzlerin zugerechnet werden. Der Zweck soll dieses Mittel heiligen. Verantwortungslos.

Nein, langweilig ist dieser Wahlkampf nicht. In Sachsen-Anhalt hat ein Teil der dortigen CDU-Landtagsfraktion der AfD im Parlament zugestimmt. Die AfD wollte per Antrag durchsetzen, dass der Linksextremismus im Land grundlegend untersucht werde. Ein Teil der CDU-Fraktion besorgte die nötige Mehrheit hierfür: Für welche Art der Verantwortung soll das stehen? Kann einer der Abgeordneten begründen, warum er gemeinsame Sache mit Leuten macht, die mindestens im Verdacht stehen, die repräsentative Demokratie „entsorgen“ zu wollen. Nein, das ergibt keinen Sinn. Eher: Gleiche Brüder, gleiche Kappen.

Der gegenwärtige Wahlkampf setzt auf einigen Dingen auf, über die wir im Sinne von Hans Jonas nachdenken sollten. Während der vergangenen Jahre sind Gesellschaft, Land und auch der Staat unglaublich verändert worden.

Die auf die Kennzeichnung als langweilig abonnierten Kommentatoren und Berichterstatter verstehen offenkundig nicht, was da geschieht: Sie kennen zwar möglicherweise aus dem Fernsehen, aus den Naturserien der BBC die Bilder der gewaltigen „Dünung“ des pazifischen Ozeans oder des Atlantik mit seinen gewaltigen, sich wälzenden Massen. Während wir diese Dünung betrachten, stellen wir fest, dass sich die Oberfläche der See noch verhältnismäßig ruhig darbietet. Einzelne Wogen-Kämme, einige Schaumspritzer, Möwengekreische. So oder ähnlich kommt mir der Wahlkampf vor.

Binnen kurzer Zeit – gemessen am Alter unserer Republik – hat sich unser Leben kolossal geändert – von der Wiege bis zur Bahre. Geboren wird heute mehr und mehr daheim statt im Krankenhaus, gestorben wird immer öfter im Krankenhaus statt daheim. Dem Zuhause wächst durch die Geburten Kompetenz und Bedeutung zu, das Zuhause verliert beim Sterben seinen zentralen Ort, um ihn ans Krankenhaus oder ans Hospiz abzugeben. Der Weg nach dem Tod führt nicht mehr auf den Kirch-beziehungsweise Friedhof sondern in eine Urne, deren Inhalt rasenbedecktem Boden anvertraut wird. Der Mensch braucht offenbar keine steinernen Anstöße mehr, um die Lieben nachhaltig zu betrauern. Braucht er noch Trauer? Resultat jedenfalls: Vor wenigen Monaten erklärte ein Direktor der Stadt Bonn namens Fuchs (nomen est omen), die Stadt habe zu viele Schwimmbäder, Spielplätze – und Friedhöfe.

Ändern solche Entwicklungen unsere Vorstellungen von Glück oder Unglück, über unseren eigenen Wert und auch über Beziehungen zu anderen? Wir wissen es nicht, weil das Experiment mit Geburt und Tod noch nicht so lange läuft.

Was finden wir zwischen Kindergeschrei und Urne? Der Mensch trottet nicht mehr ins Büro oder in die Fabrik, sondern er muss, um als Existenz bestehen zu können, bereits vor Arbeitsbeginn Kinder versorgt, den Tag durchdacht, PKW oder ÖPNV organisiert, zeitliche Risiken bedacht haben. Abends dasselbe noch mal – nur in eine andere Richtung. Aus dem Arbeiter, der früher aus der privaten in die Betriebs-Sphäre wechselte, im Blaumann, die Butterbrotdose unter den Arm geklemmt, wurde der Co-Manager seiner Angelegenheiten.

Mir fiel auf, dass immer weniger „Klemmbretter“ zu sehen sind. Das sind die Holzbretter – oder Hartplastik-Teile auf welche Papierblätter geklemmt wurden. Auf diesen Blättern wurde notiert, welche Anzahl von welchen Produkten noch vorrätig ist, welche und wie viele Teile zu bestellen sind, wer anwesend ist, wer fehlt, Temperaturen und Geschwindigkeiten, Weiten und Höhen.

Das Klemmbrett war Millionen Arbeitsgerät und sogar Statussymbol: Du fährst den Stapler, ich sage dir wie viel du wohin fährst.

Es ist längst ersetzt durch digital funktionierende Apparate. Kein umständliches Notieren und Übertragen. mehr. Code eingeben und die Sache läuft auf Wellen, wie sie eingangs miteinander quasselnd vorgeführt wurden.

In einigen Jahren werden auch die Frauen – und mittlerweile auch Männer verschwunden sein, die heute an den Kassen der Supermärkte sitzen. Wohin werden sie gehen?

Wohin sind die Straßenkehrer verschwunden, die früher jeder aus seinem Kiez oder Ortsteil kannte? Die Nebenerwerbs-Betriebe für feine Reparaturen an Kleidung? Die Schuster, in deren Läden es stets nach Klebstoff roch und die nach und nach aufgegeben haben, weil Schuhe wegschmeißen billiger kam als billige Schuhe teuer zu reparieren. Wer nutzt heute die Räume, in denen von zwanzig Jahren noch Polizeireviere zu finden waren? Private „Security“?

So ist in diesem Wahlkampf alles da: Disput über Werte; erkennbare Neugier Interessierter auf Personen und Argumente. In den Familien wird, soweit ich meine vereinzelten Eindrücke richtig sortiere, über Personen und Themen geredet. Mehr als 40 Prozent der Wahlberechtigten sind sich wenige Tage vor der Wahl keineswegs sicher, ob und wen oder was sie wählen.

Die einen vorab voller Hass. Die anderen durch das geplagt, was Marcel Reich-Ranicki in einem anderen Zusammenhang einmal „aggressive Resignation“ nannte. Wieder andere geben sich naiv. Die vierte Gruppe ist stolz auf die eigene kleine Welt, in der Mann sein Holzfällerhemd anziehen und den Opa Klaus aus Mechernich mit Lässigkeit in der Stimme auffordern kann: „I Take Your Order just in Englisch.“

Und das alles soll langweilig sein, weil eine Kandidatin darauf verzichtet, einem Konkurrenten – sprachlich gesehen – in die Kniekehlen zu treten und der so Verschonte nicht daran denkt, argumentativ zu flegeln.

Das alles im Blick zu haben, das ist – natürlich – schwierig für die Professionals, die Schaustens und Augsteins und die vielen anderen. Ein Blick in die Vergangenheit mag Orientierung geben. Aber wen fragen? … Rufen wir als Zeugen jemanden auf, den die meisten der heute in Deutschland Lebenden kaum kennen. Trotzdem singen viele eine Strophe eines Liedes, zu dem er den Text hinzugesteuert hat. Fragen wir also den Hoffmann von Fallersleben, wie der die Dinge sieht. Der meinte damals:

„Was sind doch die Zeitungen interessant

Für unser liebes Vaterland!

Was ist uns nicht alles berichtet worden!

Ein Portepeefähnrich ist Leutnant geworden,

Ein Oberhofprediger bekam einen Orden,

Die Lakaien erhielten silberne Borden.

Die höchsten Herrschaften gehen

Nach Norden,

Und zeitig ist es Frühling geworden –

Wie interessant, wie interessant…..“

 

Noch Fragen?

 

 

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