von Rudolf Walther, 6.1.17
Wer Bücher schreibt, muss damit rechnen, dass er missverstanden oder gar für Zwecke eingespannt wird, die dem Autor fernliegen. Das ist der Sinn des Sprichworts, dass „Bücher ihre Schicksale haben“. Das Wort des aus Nordafrika stammenden Grammatikers Terentius Maurus (2. Jahrhundert) wird jedoch notorisch nur zur Hälfte zitiert, denn in Gänze lautet es: „Pro captu lectoris habent sua fata libelli“, also etwa: „Bücher haben ihre Schicksale je nach dem intellektuellen Format des Lesers“.
Für die deutsche Rezeption des Bestsellers des französischen Sozialwissenschaftlers Didier Eribon ist diese Präzisierung entscheidend. Das deutsche Feuilleton- und Talk-Show-Wesen hat es hingekriegt, das Buch vollkommen zu verfälschen und für politische Nebenzwecke zu instrumentalisieren.
Zum Inhalt des Buches: Eribon stammt aus einer Arbeiterfamilie, in der „man“ – also vor allem der Vater – traditionell kommunistisch wählte und sich irgendwo links einordnete. Der junge Eribon ist ein ausgezeichneter Schüler und schafft, was das Schulsystem eigentlich verhindern will: den Erfolg von Arbeiterkindern in der Schule und den sozialen Aufstieg mit einer akademischen Ausbildung. Dazu muss man wissen, dass sich die französische Gesellschaft und insbesondere das Schulsystem noch stärker als das deutsche an den Eliten orientiert und entsprechend gnadenlos aussiebt. Keiner hat das genauer beschrieben als der aus der Provinz Südfrankreichs stammende Bauernsohn Pierre Bourdieu, der sich als ehemaliger Rugbyspieler buchstäblich in die intellektuelle Elite hochkämpfte; „Die feinen Unterschiede“ (1979/82) und „Ein soziologischer Selbstversuch“ (2002) sind zwei seiner lesenswerten Bücher.
Eribon war nicht ganz so erfolgreich, schaffte einen Studienabschluss an der Sorbonne, scheiterte dann aber an der Promotion und damit zunächst an einer universitären Karriere. Er arbeitete journalistisch – dank der Hilfe aus der „schwulen Subkultur“ –, kam aber weder mit den Leuten von „Libération“ noch mit jenen beim „Nouvel Observateur“ zurecht („meine bloße Gegenwart war ihnen zuwider“) und ging dann in die USA, wo er Lehraufträge und Gastprofessuren auf dem Gebiet des Genderismus bekam, der an amerikanischen Universitäten gerade Hochkonjunktur hatte. Sein „Interesse für die Geschichte des schwulen Lebens und für die schwule Subjektivität“ waren gefragt. In Yale erhielt er einen Preis für seine Arbeiten auf diesem Feld. Nach dieser Qualifizierungstour wurde er schließlich in Frankreich Professor.
Eribon beschreibt diesen Bildungsweg aus zwei Perspektiven: aus derjenigen seiner sozialen Herkunft beziehungsweise „Reproduktionsmechanik“ und „Klassenidentität“, wie Eribon lieber sagt, und aus derjenigen der Entdeckung und Entfaltung seiner sexuellen Orientierung und Entwicklung zu einem Intellektuellen, der sein schwules Leben lebt. Mit beidem – seinem Bildungsgang und seiner Homosexualität – entfremdete er sich zwangsläufig von seinem Herkunftsmilieu, insbesondere von seinem Vater und seinen Brüdern. Er wollte sich selbst von „sozialer und sexueller Scham“, die sein Leben prägten, befreien. Zur Mutter hielt er lockeren Kontakt, den Rest der Familie traf er zwanzig Jahre nicht mehr. Zur Beerdigung des Vaters fuhr er nicht, sondern besuchte seine Mutter einen Tag danach.
Das Buch ist als Autobiografie angelegt so wie frühere, aber dann vernichtete Ansätze, mit denen er sich als Romancier versuchte. Da ihm die literarische Darstellung seines Lebens nicht gelang, garniert Eribon im vorliegenden Buch den Bericht über Bildungsgang und Leben sozialwissenschaftlich. Aus der Autobiografie wird so der Bericht über „die Arbeit an meinem Selbst, für meine Neuerfindung und Neuformulierung“. Das geht freilich nicht ab ohne akademisch verbrämte Trivialitäten in jeder Preislage: „Transformationsprozesse des Selbst waren für mich schon immer mit Prozessen sozialer Zugehörigkeit verbunden.“ Die banale Einsicht, dass jeder Akt der Befreiung, eine Negation des Alten und zugleich eine Affirmation von Neuem bedeutet, kommt kunstgewerblich aufgemotzt so daher: „Man könnte sagen, dass ich in dem Bereich zu dem wurde, der ich bin, im anderen jedoch denjenigen zurückwies, der ich hätte sein sollen.“
Das allein genügte dem ehrgeizigen Autor freilich nicht. Er dekoriert derlei Erkenntnisse gern mit Hinweisen auf alle französischen Intellektuellen von Sartre und Genet bis Foucault und Bourdieu, differenziert aber bei seinen sozialwissenschaftlich imprägnierten Betrachtungen nicht einmal zwischen den Begriffen “Aggression“, „Norm“, „Macht“, „Herrschaft“ und „Gewalt“, sondern rührt die fünf Wörter zu einem Brei zusammen und verwendet sie synonym – so als ob verbale Attacken und manifeste körperlich Angriffe in etwa dasselbe wären. Solche begriffliche Unsensibilitäten gehen mit einem grobschlächtigen sozialen Determinismus einher, den sich Eribon als junger Trotzkist aneignete. So kommt er zur These, Bourdieu sei Soziologe geworden, weil er heterosexuell und bäuerlicher Herkunft gewesen sei, während Foucault wegen seiner Homosexualität und städtisch-bürgerlichen Abstammung bei der Philosophie gelandet sei. Das ist die intellektuelle Schwundstufe von geschlechter- beziehungsweise sexualtheoretisch ambitioniertem Schwachsinn.
Man kann Eribons Buch als lesenswerten autobiografischen Bericht verstehen. Aber sein Ehrgeiz geht noch weiter. Als Sozialwissenschaftler möchte er auch seine soziale Herkunft analysieren und zum Beispiel erklären, warum in seiner kommunistischen Familie seit 2002 der rechtsextreme Front National (FN) gewählt werde. Er geht von der Vermutung aus, Intellektuelle, soziale Bewegungen und linke Parteien hätten es nicht nur verpasst, „negative Leidenschaften“ in den populären Klassen zu „neutralisieren“, sondern regelrecht „Klassenverrat“ begangen, als sie sich vom „Klassenkampf“ von unten verabschiedet und den „Klassenkrieg“ von oben ignoriert hätten und sich hinter den Parolen „Reformen“, „Eigenverantwortung“ und „Rückbau des Sozialstaats“ im linken juste Milieu versammelten. Für einen Sozialwissenschaftler stützt sich Eribon bei solchen ausgreifenden Thesen und Erklärungen auf eine lächerlich dünne empirische Basis: nämlich ganze fünf Personen, die Eltern und seine drei Brüder. Er räumt ein, „kaum beurteilen“ zu können, wie sich die sozialen Verhältnisse und Probleme in den Arbeitervierteln wegen der Einwanderung verändert und das Wahlverhalten der Menschen beeinflusst haben, aber er „spürte förmlich, wie sich in ehemals kommunistisch dominierten Räumen der Geselligkeit und des Politischen eine rassistische Stimmung breitmachte“. Eribon hat den Wohnort der Eltern über 20 Jahre hinweg nicht mehr besucht, spielt also Wissen nur vor.
Solide, empirisch gestützte Analysen wie die von Sebastian Chwala („Der Front National“, PapyRossa Verlag 2015) belegen, dass es mit der vor allem im deutschen Feuilleton beliebten These, wonach ein großer Teil der FN-Wähler abgesprungene Kommunisten wären, nicht weit her ist. Schon nach den EU-Wahlen von 2014, als der FN einen Wähleranteil von 25 Prozent erreichte, kamen Feuilletonsoziologen und Leitartikler ins Hyperventilieren und sprachen vom Vormarsch einer „faschistischen Partei“, die bald zum Durchmarsch antrete. Aber was war tatsächlich geschehen?
Wegen der geringen Wahlbeteiligung bei den Europawahlen von 2014 erhöhte sich der prozentuale Anteil des FN und löste den Alarm aus. Dasselbe passierte bei den französischen Regionalwahlen danach: Nach dem ersten Wahlgang lag der FN bei fast 30 Prozent, fast alle Medien sahen die Partei in mindestens drei Regionen schon als Sieger. Jedoch: Die Wahlbeteiligung hatte im ersten Wahlgang bei nur 50 Prozent gelegen, die Zahl der Nichtwähler übertraf also diejenigen der FN-Wähler fast um das Vierfache. Im zweiten Wahlgang stieg die Wahlbeteiligung auf 59 Prozent. Dadurch und wegen des taktischen Rückzugs sozialistischer Kandidaten in drei Regionen erreichte der FN in keiner einzigen der 13 Regionen eine Mehrheit.
Es ist eben ganz anders als Journalismus und Feuilleton spekulieren: Die Wählerbasis des FN besteht mehrheitlich nicht aus Arbeitern, Arbeitslosen und sozial Abgehängten, sondern zu 71 Prozent aus Menschen, die sich zur Mittelschicht zählen. Arbeiter, sozial Abgehängte und Arbeitslose bilden dagegen das wachsende Reservoir der Nichtwähler – besonders in den entindustrialisierten Zentren im Norden und Nordosten des Landes. Die Masse der FN-Wähler wohnt nicht in Städten, sondern in Kleinstädten in den Vierteln der kleinen und mittleren Einfamilienhausbesitzer – Gegenden, die in Frankreich „Banlieue pavillonaire“ (in etwa „Reihenhaus-Banlieue“) heißen. In einer solchen Siedlung wohnten Eribons Eltern. Dass dennoch Arbeiter zum FN abwanderten, ist unbestreitbar und hat vor allem mit dem Niedergang der KPF zu tun. Solche Befunde müssen den Autobiografen Eribon nicht interessieren. Aber in seiner Rolle als Sozialwissenschaftler sollte er gelernt haben – vor allem in Anbetracht dieser gegenteiligen Befunde –, nicht einfach von seiner Familie auf die französische „Arbeiterklasse“ und die „populären Klassen“ kurzzuschließen.
Die These, Kommunisten und KPF-Wähler seien für den Aufstieg des FN verantwortlich, stellt Eribon explizit gar nicht auf. Aber das deutsche Feuilleton und einige Feuilletonsoziologen lasen und lesen diese These gerne aus seinem Buch heraus, passt sie doch gar zu gut zur politischen Großwetterlage und zum Aufstieg der AfD. Mit solchen Spekulationen und allerlei Leitartikel- und Welterklärungsweisheiten konfrontiert, wehrte Eribon seine Verantwortung und Zuständigkeit entschieden ab: „Hören Sie, ich weiß nicht, was ihr wollt. Ich habe ein Buch über meine Mutter geschrieben und jetzt soll ich Brexit, Trump und die Welt erklären“ und spottete über jene, die sein Buch „zum Geburtsmoment einer neuen Denkergattung“, ihn selbst zu einem der „klügsten Köpfe Europas“ hochschrieben oder gar „eine neue Lesart von Linkssein“ erkannten. Ob Süddeutsche Zeitung, Freitag, Taz, oder Spiegel-online – alle waren und sind beteiligt beim Phantasieren und Spekulieren.
Man sollte Eribons Porträt seiner tapferen Mutter anerkennen, seine Autobiographie sensibel nennen und den Rest des Buches ganz schnell vergessen.
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Didier Eribon, Rückkehr nach Reims. Aus dem Französischen von Tobias Haberkorn, Suhrkamp Verlag, Berlin 2016, 238 S., € 18.-
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Wir danken den Kollegen vom oxiblog für diesen Beitrag.
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