von Lukas Fuhr, 17.10.16
Die Leute mitnehmen ist zum Megatrend von Politik und Medien geworden. Dass jetzt auch noch die Justiz auf eine allzu simple Augenhöhe gebracht werden soll, ist gefährlich. Genau das versucht die ARD heute Abend, wenn aus Ferdinand von Schirachs Theatererfolg „Terror“ „Ihr Urteil“ wird. Schon der Titel klingt ein bisschen so, als ob Johannes B. Kerner am Ende eine Liste der zehn beliebtesten Strafmaße der Deutschen verlesen würde.
Warum dieser Text schon vor der Ausstrahlung geschrieben werden konnte, ist einfach: Es kommt nicht auf die Entscheidung des Publikums an. Egal ob es Mitleid mit einem deutschen Lieblingsschauspieler zeigt oder den dargestellten Luftwaffenpiloten hart aburteilt – allein die Teilnahme der Zuschauer ist problematisch.
Sie ist falsch, obwohl sicher viele ihr Voting zum Anlass ernster ethischer Abwägungen nehmen. Der Luftwaffenmajor Koch hat einen von Terroristen entführten Airbus abgeschossen, bevor das Flugzeug in ein volles Fußballstadion gelenkt werden konnte. Alle 164 Menschen an Bord sterben, Koch steht unter Mordanklage. Ist er schuldig? Das sollen die Zuschauer entscheiden.
In den Theatersälen der Republik, die von Schirachs Stück gerne spielten, haben etwa 60 Prozent für einen Freispruch gestimmt. Dafür gibt es gute Argumente, andere gute Argumente sprechen dagegen. Diese wurden in Theaterrezensionen und Besprechungen des zugehörigen Buches rauf und runter diskutiert.
Dass die Entscheidung keine leichte ist, dass Major Koch sie sich nicht leicht macht, zeigt von Schirachs Stück – eine fast schon rührend klassische tragische Konstellation, in der ein Mensch nur schuldig werden kann. Das zu sehen, kann kathartisch sein. Und deshalb ist es auch nicht falsch, den Film als Film zu sehen. Falsch ist es, ihn als Demokratisierung des Rechts zu interpretieren oder gar die Abstimmung zu einer Art Referendum über oberste Verfassungsprinzipien zu erklären. Ohnehin hat das Bundesverfassungsgericht bereits 2006 einen entsprechenden Paragraphen des Luftsicherheitsgesetzes gekippt. Es gilt: Menschenleben dürfen nicht gegen Menschenleben aufgewogen werden. Die Staatsanwältin in der Verfilmung weiß das und warnt deshalb vermeintlich kühl davor, Recht und Moral zu vermengen.
Gegen das Luftsicherheitsgesetz hatten die beiden Liberalen Burkhard Hirsch und Gerhart Baum damals Verfassungsbeschwerde eingelegt. Gegen das aktuelle ARD-„TV-Event“ haben sie nur noch in der Zeitung protestiert. In der FAS warnten Hirsch und Baum vor „Effekthascherei“, obwohl es um die „Substanz der Bundesrepublik“ gehe. „Effekthascherei“ ist aber nicht das, was man der ARD vorwerfen sollte – auch wenn sich über Stil immer streiten lässt. Öffentlich-rechtliches Fernsehen soll einen Effekt haben.
Der Fehler liegt in der (notwendig) begrenzten Möglichkeit der Beteiligung. Die Zuschauer können schuldig oder unschuldig stimmen. Sie sind der Mob der Arena, dessen Daumen für den Gladiator Leben und Tod bedeuten. Katharsis heißt aber nicht Voting-kompatibles Ja oder Nein, sondern Einsicht in die grundmenschliche Schwierigkeit, nicht immer richtig und rechtmäßig handeln zu können. Daraus soll eine Läuterung der Seele folgen, dachte Aristoteles. Auf „Terror“ bezogen hieße das: Der Zuschauer sollte sein Mitleid mit Luftwaffenmajor Koch suspendieren, den Affekt des Urteilens überwinden, um im moralischen Urteil zu wachsen. Die ARD hingegen setzt auf den schnellen Affekt, auf Anti-Katharsis. ARD-Programmdirektor Volker Herres hat „Terror – Ihr Urteil“ trotzdem – oder vielleicht deshalb – ein „mutiges Fernsehexperiment“ genannt. Es ist gut, wenn die ARD mutig ist. Man wünschte sich das häufiger. Echter Mut wäre es, auf allzu viel Vereinfachung zu verzichten.
Im Anschluss wird Frank Plasberg hart, aber sicher fair das Ergebnis in seiner Talkshow diskutieren. Dabei wird es gewiss um die Argumente gehen, die zuvor im fiktiven Gerichtssaal und in vielen deutschen Wohnzimmern diskutiert wurden. Das ist gut. Mehrheiten sind aber nicht immer im Recht. Mehrheiten können einer fragwürdigen oder gar keiner Moral folgen. Kein Argument ist deshalb gut, weil zum Beispiel 60 Prozent auch so denken. Nur warum müssen dann die Zuschauer eigentlich abstimmen?
Was Sie tun können, um CARTA zu unterstützen? Folgen, liken und teilen Sie uns auf Facebook und Twitter! Wenn Sie regelmäßig über neue Texte und Debatten auf Carta informiert werden wollen, abonnieren Sie bitte unseren Newsletter.