#Alexis Tsipras

Reclaiming Art

von , 30.4.15

Die Ära der Alternativlosigkeit neigt sich dem Ende zu. Eine neues Wassermannzeitalter klopft mit Macht an die Pforten und fordert ein Bits-und-Bytes-klecksendes Säkulum in die Schranken, das alles in allem ziemlich verstolpert begonnen hat: Erst Ulf Poschardts 911-Buch, dann Wirtschafts-, Finanz- und Eurokrise, zuletzt der Schulterschluss von ISIS und Boko Haram. Jetzt aber kommt die Wende. Die heraufziehende Ära, erst in Umrissen erkennbar, wird eine des aufgeklärten utopischen Denkens sein, des trainierten Möglichkeitssinns, gleichzeitig der romantischen Wiederverzauberung der Welt. Der Vergleich mit der Renaissance ist keineswegs zu hoch gegriffen. Der mysteriöse Satz aus der Jack-Wolfskin-Werbung, „The future is a muscle we don’t have“, hat ausgedient und kann das Gebäude verlassen.

Blicken wir kurz zurück: Der utopische Aufbruch der 1970er, als die Zukunft noch einen silbernen Rand hatte, Häuser und Städte fürderhin aus Plastik gebaut sein würden, Günter Netzers Flanken in den freien Raum eine Ahnung von einer befreiten Gesellschaft selbstbestimmter Individuen gaben, die sich in freier Liebe zugetan sein würden, fand ein jähes Ende mit der Machtergreifung der Neolibs, mit dem angelsächsischen Doppelschlag aus Ronald Reagan und Maggie Thatcher. Thatchers denkwürdiger Satz „There is no such thing as society“ korrespondierte mit dem TINA-Prinzip („There is no alternative“), das mit Hilfe der Chicago Boys als Weltbetriebssystem installiert wurde, zunächst in Lateinamerika, später global. In Deutschland klammert sich Angela-Merkel als Clutch-Margaret-Thatcher bang an ihre „Alternativlosigkeit“. In Brüssel regieren die Mächte von Mordor, sie alle zu knechten, sie alle zu finden, ins Dunkel zu treiben und ewig zu binden. Und die grauen Herren Schäuble und Dijsselbloem stehlen uns die “gekaufte Zeit” (Wolgang Streeck). Eurogruppenchef Dijsselbloem – ein Name, der schon das dystopische Element semiotisch in sich trägt.

Lange schien kein Kraut gewachsen gegen das manifeste Sosein des diesigen Daseins, das bei den Rechten „Weltordnung“ heißt, bei den Linken „Materialismus“. Nachdem sich der Marxismus auf breiter Front blamiert hatte, fügten wir uns brav ins Schicksal des Max-Stirner’schen anarchischen Spießers („Der Einzige und sein Eigentum“), harkten den Vorgarten oder betrieben „Urban gardening“-Projekte und akzeptierten, dass die Reichen sich wegsprengen, dass die Macht zentrifugal ungleich verteilt sich in den Bankentürmen und Lobby-Hinterzimmern aggregiert, kurz: dass der Teufel immer auf den dicksten Haufen scheißt. Es gab ja scheinbar keine Alternative.

Die bevorstehende Wende erfolgt nicht über die Wiederentdeckung des Proletariats oder irgendeines anderen bislang übersehenen, da bis zur Unsichtbarkeit marginalisierten historischen Kollektivsubjektes, das wie der Springteufel aus der Kiste ploppt, die Machtfrage stellt und zu seinen Gunsten beantwortet. Derlei „Revolutionen“ haben immer nur neue Bonzen und Tyrannen hervorgebracht. Die kommende Wende entsteht durch ein neues Mindset, katalysiert durch eine neuartige Mikrofundierung in der Quantenphysik. Die Lehren aus Heisenbergs Quantentheorie (die besagt, dass sich diskrete Teilchen-Zustände und Dualismen unentscheidbar überlagern können) wird übertragen auf Gesellschaft und eröffnet Windows of opportunity für überraschende Bifurkationen. Oder, wie der alte Brecht schon wusste: It ain‘t necessarily so. Es könnte alles mit einem Wimpernschlag auch ganz anders sein.

Zur theoretischen Fundierung kann Malcom Gladwells Buch „David und Goliath“ herangezogen werden, in dem der Autor argumentiert, dass aus vermeintlicher Unterlegenheit nicht bloß Schwäche und Duldsamkeit resultieren muss, sondern dass darin auch emanzipatorische Potentiale der Selbstermächtigung schlummern. Nichts zu verlieren zu haben etwa, kann sich zu überlegener Stärke auswachsen. In seinem fantastischen Buch „The Swerve. How the World became modern“ über die Anfänge der Renaissance (unpassend ins Deutsche übersetzt als „Die Wende. Wie die Renaissance“ begann) hat Stephan Greenblatt jüngst aufgezeigt, wie in der Kulturgeschichte der Flügelschlag eines Schmetterling ein tektonisches Beben und einen Epochenbruch auslösen kann, im konkreten Fall war es die Wiederentdeckung eines verschollenen Lukrez-Gedichtes, das die Renaissance ins Rollen brachte. Ein „Swerve“ ist eben keine Wende im Sinne einer bombastischen Revolution. Es ist ein unwahrscheinliches Ausbüchsen und aus der Art schlagen, der Hakenschlag eines Hasen, der auf der Flucht ist vor dem Engel der Geschichte. Wie wenn im Danziger Goldwasser ein Blattgoldfetzen auf einmal – vom Laplaceschen Dämon geritten – Dinge vollführt, die eher mit dem Tanzstil von Michael Jackson etwas zu tun haben, als mit den stochastischen Vorhersagen der Brownschen Teilchenbewegung. Mit Emanuel Derman: „Models behaving badly“, Modelle, die sich danebenbenehmen. Bei Buckminster Fuller gibt es das Bild des „trim tabs“, ein kleines Ruder am Ruder großer Tankschiffe, das sich einzeln ansteuern lässt, um das schwere Ruder und darüber das gesamte Schiff mühelos in eine andere Richtung zu lenken. So in etwa muss man sich einen Swerve vorstellen: wie den fehlende Nagel am Hufeisen des Pferdes, durch den im englischen Sprichwort der Krieg verloren geht.

Greenblatt schreibt über das Lukrez-Gedicht: „So ist hier zu erzählen, wie die Welt plötzlich um ein Geringes aus der Bahn gestoßen wurde, ein zufälliger Ruck, der einen folgenreichen Richtungswechsel auslöste. Das Agens dieses Richtungswechsels war keine Revolution, keine unversöhnliche Armee vor den Toren der Stadt, keine Landung auf einem unbekannten Kontinent. Für Ereignisse dieser Größenordnung haben Historiker und Künstler der volkstümlichen Einbildungskraft erinnerbare, einprägsame Bilder präsentiert, den Sturm auf die Bastille, die Plünderung Roms, den Augenblick, in dem die zerlumpten Seeleute auf den spanischen Schiffen in der Neuen Welt ihre Fahne aufpflanzten. Diese Embleme weltgeschichtlichen Wandels können trügerisch sein – in der Bastille saßen so gut wie keine Gefangenen; Alarichs Heerscharen zogen rasch wieder aus der Hauptstadt des Imperiums; und das eigentlich schicksalhafte Ereignis für den amerikanischen Kontinent war nicht das Entrollen der Fahne, sondern dass ein kranker, bazillenverseuchter von staunenden Eingeborenen umringter Seeman nieste.“

In der europäischen und internationalen Politik war dieses virale Niesen, dieser fehlende Hufeisennagel, dieser Mini-Black Swan der Wahlsieg von Syriza in Griechenland. Indem Tsipras und Varoufakis aus der Underdog-Rolle die Machtfrage stellten und dabei das gesamte Repertoire der Spieltheorie von Brinkmanship bis Madman-Theory virtuos bedienten, haben die beiden Hobbit-Gefährten die von Thatcher bis Merkel, von Reagan bis Schäuble alternativlos erscheinende Alternativlosigkeit wirksam angeschossen und abgeräumt. It ain’t necessarily so. Und Gollum Schäuble fällt nichts besseres ein, als noch zerknirschter, leidgeprüfter als sonst dreinzublicken und Lügenmärchen aufzutischen. Auch wenn das Pulver fürs erste verschossen scheint: Einen Keil in die Troika des Bösen zu treiben und den IWF – die coole Christine Lagarde! – dazu zu bewegen, sich von der Europäischen Austeritätspolitik zu distanzieren, muss als verdienstvoller und so nicht erwartbarer Triumph dieser tapferen griechischen Regierung gefeiert werden.

 

Jonas Burgert

Jonas Burgert

 

Auf der Ebene der deutschen und internationalen bildenden Kunst könnten der „Swerve“ das sein, was sich seit Wochen auf dem Gelände einer ehemaligen Kondensatorenfabrik in Berlin-Weißensee – gut getarnt in ein unscheinbares Wohnviertel eingebettet – zusammenbraut und ab heute ins Licht der Öffentlichkeit drängt: ein Handstreich, eine Überrumpelung, eine Klatsche für die gesamte borniert-arrivierte Kunstwelt, in der mächtige Sammler- und Galleristencliquen das Sagen haben und mit dem prallgefüllten Portemonnaie Politik gemacht wird. Das Racket-System der verwalteten und in Claims aufgeteilten Kunstwelt wird sich von diesem Schlag auf den Musikknochen nicht so ohne weiteres erholen, und die Kunstwelt wird ab heute eine andere sein.

 

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Gemeinsames Mittagessen während der Aufbauarbeiten

 

Angefangen hat alles damit, dass die kommerziell sehr erfolgreichen Künstler Christian Achenbach, Jonas Burgert, Zhivago Duncan, Andreas Golder, John Isaacs und David Nicholson das 6000 Quadratmeter messende Immobilienensemble in der Lehderstrasse 34, wo sich auch ihre Ateliers befinden, zum Stützpunkt für ein neues Lebens- und Kunstmodell aufrüsteten. Dazu gehört etwa der 18-Meter-Pool, den sich Andreas Golder von einem Architekten in den Innenhof betonieren ließ, „weil es geht“, und der jetzt, frisch befüllt, auf Partygäste wartet. Dazu gehört auch die in dem Areal entstandene Künstlerkommune, die arbeitsteilig hochprofessionell Rituale wie das gemeinschaftliche Mittagessen pflegt. Die Folie des Heldenepos, das heute zum Showdown gelangt, bildet, dass die mächtigsten knapp 50 Berliner Galerien seit einigen Jahren jährlich im Mai zum Gallery Weekend blasen und Sammler, Museumsankäufer, Mäzene und Pfeffersäcke aus aller Welt anreisen, um die heißeste Flachware und Installationskunst einzuholen. Die umstehenden Zuschauer, die nicht mitspielen durften, versuchten, sich leidlich zu amüsieren.

 

Andreas Golder, "24h Kopfschmerzen" am Pool

Andreas Golder, “24h Kopfschmerzen” am Pool

 

Ist das Kunst? Das können wir auch und das können wir besser, dachten sich unsere Gefährten und aktivierten die Power, die im Netzwerk steckt: in der globalen Solidargemeinschaft sehr erfolgreicher und minder erfolgreicher Künstlerinnen, denen die wachsende Definitionsmacht von Galeristen und Kuratoren darüber, was denn bitteschön als Kunst zu gelten habe, zunehmend auf den Zeiger geht. Cut out the middlemen! Das Artist Weekend war geboren, zumindest im Kopf.

Dann nahmen die Dinge ihren Lauf – und hier muss man sich ein buntes Wuseln im Zeitraffer vorstellen, unterlegt mit munter polternder Kusturica-Filmmusik. Die logistische Komplexität des Großprojektes erinnert an die beim Bau des Flughafens BER, nur dass hier die Dinge auf wundersame Weise funktionieren, ineinandergreifen und alles nach einer Punktlandung aussieht. Mit leichter Hand werden die Logistikketten koordiniert, die Sattelschlepper dirigiert, die die Container aus aller Welt anliefern und das Ballett der Hubwagen und Gabelstapler während der hektischen Aufbauarbeiten koordiniert.

 

Martin Eder

Martin Eder

 

Was die Kunst angeht, bekam das Ding über Mechanismen sozialer Ansteckung schnell eine Schneeballdynamik. Der Künstler John Bock, der nach seiner Verausgabung beim „FischGrätenMelkStand“ 2010 in der temporären Kunsthalle lange nicht mehr  in Berlin in Erscheinung getreten war, wollte eigentlich nur ein paar Fotoarbeiten vorbeibringen, sah, was los war, besorgte sich eine Vintage-DDR-Schrankwand und zog mit ihr in ein Alkoven-artiges Loch ein, das hoch über einer der Fabrikhallen in die Mauer geschlagen war. Dort wird er drei Tage lang Kröten kneten. Und das ist nicht einmal das Spektakulärste, was es zu sehen geben wird. Der Lord of Darkness Gregor Schneider wird seine langjährige Begleiterin, die sogenannte „alte Hausschlampe“ im Innenhof beerdigen; die Grabstatt ist schon ausgehoben. Undundund…

 

Gregor Schneiders Grab

Gregor Schneiders Grab

 

Herausgekommen ist keine Berlin-Biennale, sondern eine Show der Superlative, die in einer Liga mit der Venedig-Biennale spielt, zumindest mit dem Arsenale dort. Unter den 125 Namen sind internationale Größen wie Tjorg Douglas Beer, Tim Noble & Sue Webster, Martin Eder, Andreas Slominski und Thomas Zipp, alle vertreten mit hochkarätigen Werken und teilweise aufwendigsten Installationen, wie man sie nur bei internationalen Kunstspektakeln antrifft – alles finanziert aus der eigenen Tasche, ohne Mäzene und Staatsknete. Noch ist nicht alles fertig, wie sollte es auch, aber schon jetzt steht fest, dass das Artist Weekend, sollte es in Serie gehen, die kommerziell angeschnödete Galerienkunst vor sich her treiben und an die Wand drücken wird.

 

Aufbau in der Neuen Halle mit Skulptur von Katja Strunz

Aufbau in der Neuen Halle mit Skulptur von Katja Strunz

 

Die diesjährige Auftaktausstellung, trägt den Titel „NgoroNgoro“. Ngorongoro ist ein Vulkankrater in Tansania, der Jahrtausende lang abgeschnitten war von der Außenwelt, wodurch die Evolution dort einen Sonderweg genommen hat und eine große Vielfalt seltener Spezies konserviert und eigenwillige Subspezies hervorgebracht hat, die es nirgendwo sonst auf der Welt gibt.

Ab heute ist der Krater geöffnet, kann staunend besichtigt; die Entdeckung der neuen, lang vermissten Spezies des Künstlers – das evolutionäre missing link des Künstlers als Großprojektemachers, wie es ihn in der Renaissance schon einmal so ähnlich gab – kann praktischerweise direkt vor Ort frenetisch gefeiert werden. Und die Welt wird in neuen Farben erstrahlen.

 

Eröffnung des „NGORONGORO Artist Weekend Berlin“: 30. April (ab 14 Uhr). Laufzeit der Ausstellung: 1.-3. Mai, jeweils 10-24 Uhr.

 


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