Medienschau zum Wahlkampf VI – Nerds, Yeahs, Verhältniswahlrecht

von , 25.9.09

Den wohl überraschendsten Beitrag in dieser Woche lieferte Frank SchirrmachersDie Revolution der Piraten“. Der Mitherausgeber der FAZ entdeckt die von ihm bisher übersehenen Nerds als gesellschaftliche Kraft: “Sie, die die Systeme kennen, müssen, wie seinerzeit die Renegaten der Atomspaltung, in politische Sprache übersetzen, was technisch möglich ist.” Schirrmacher mache die Piraten salonfähig, schreibt Thomas Knüwer bei Indiskretion Ehrensache. Und Michael Maier lobt im Perlentaucher Schirrmachers selbstkritische und lernbereite Haltung als vernünftigen Anfang. Seine Forderung, der digitalen Intelligenz zuzuhören, werde aber kein Kaffeeplausch, gebe es doch einen “radikalen Bruch mit den bisher vertrauten Spielregeln in gesellschaftlichen Debatten: Alle Beteiligten müssen sich ihre Autorität erst verdienen.” Auch Robert Misik meint: Wohltuend und klug.

Ob Flashmobs wie jene anlässlich der Wahlauftritte Angela Merkels als “Blitzauflauf” (Tagesthemen) oder “Blitzmeute” (FAZ) zu übersetzen sind, bleibt offen. In der SZ ist wie üblich von der “Internetgemeindedie Rede, die FAZ hingegen bietet einen lesenswerten historischen Exkurs zur Geschichte der Blitzmeuten. Nerdcore kommentiert den SpiegelArtikel zum Thema: “Expect us.

Christoph Schwennicke meint bei SpOn, die SPD habe bei der Wahlrechtsreform “alles falsch gemacht, was man nur falsch machen kann.” Sie offenbare damit in der aktuellen Diskussion um Überhangmandate, ihre Wahlniederlage bereits anzuerkennen (dazu auch Wolfgang Michal hier). Tom Strohschneider kommentiert im Freitag, die Zweitstimme, die ja den Wählerwillen zum Ausdruck bringen solle, werde nicht nur durch Überhangmandate entwertet: “Sondern durch Parteiapparate, die den Auftrag, an der politischen Willensbildung mitzuwirken, als Erlaubnis ansehen, gleich alles selbst zu entscheiden – etwa durch den Ausschluss von Koalitionen.” Auch Hans-Jürgen Jakobs beschäftigt sich in der Süddeutschen mit den Ausschluss-Aussagen der Woche: “Die Folge der großen ‘Ich-schließe-aus-Politik’ ist eindeutig. Egal, wie gewählt wird, es kommt immer Angela Merkel heraus.

Zu den lesenswerten unter den ungezählten Merkel-Porträts in dieser Woche (allein drei davon in der FAZ) gehört u.a. das von Jörg Lau in der Zeit, der sich auf ihre Außenpolitik konzentriert: “Die Götter meinen es gut mit Angela Merkel und stellen sie auch in dieser Woche wieder im bunten Blazer zwischen lauter pinguinfarbene Männer. Und so entsteht ein Muster.” Für Jakob Augstein im Freitag ist Merkel nur noch mit den Begriffen eines Spinoza zu beschreiben: “Sie ist die reine Substanz der Macht. Ohne Attribute, ohne Prädikate. Das ens realissimum der deutschen Politik.” Ihre Wahlkampftour beschreibt Benjamin von Stuckrad-Barre in der Welt: “‘Aber ich sage auch’, sagt sie oft. Und am Ende hat sie dann, statt selbst einen Standpunkt zu beziehen, alle denkbaren Positionen umrissen, und wir wir stehen vor ihr und nicken.

Einblicke in den Online-Wahlkampf der SPD bietet die vierseitige (!) Reportage eines Anonymus im Freitag, in der unter anderem der Konflikt zwischen einer Parteihierarchie und der Spontaneität der Kommunikation im Web abgehandelt wird: “Ein bisschen Web 2.0 gibt es aber genauso wenig wie ein bisschen schwanger. Wenn man sich für das Leben entscheidet, muss man Kontrollverluste in Kauf nehmen.” Stefan Reinecke beschäftigt sich in der taz mit Wahlumfragen und kritisiert, die Institute hätten aus den unzuverlässiger werdenden Zahlen keine Konsequenzen gezogen. Die allmächtigen Umfragen hätten zudem den politischen Diskurs auf den Kopf gestellt: “Die Wahl erscheint als zufällige, flüchtige Stimmung – die Umfrage als wahrer Ausdruck des Volkswillens.

Robin Alexander porträtiert in der Welt die Generation Tigerente und berichtet von seinem Zivildienst in den Neunzigern: “Abends sägten wir in der Holzwerkstatt Tigerenten-Körper aus Sperrholz, an die wir anschließend Tigerentenräder leimten. Keiner der Erwachsenen lachte, niemand protestierte, nur einer bemalte seine Ente mit dem Trotz eines Dissidenten in den blau-weißen Farben eines Fußballclubs.” Doch man fragt sich: Ist eine Generation ohne Spiegel-Titelstory eigentlich eine?

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