Medienschau zum Wahlkampf III – Twitter, neue Unübersichtlichkeit, Fernsehgemeinschaft

von , 4.9.09

Mit den Worten “Wer rechnen kann, ist heute Abend klar im Vorteil”  leitete Jörg Schönenborn am Sonntag um 18 Uhr im ARD-Wahlstudio die Wahlkampfwoche ein. Freunde des “Plauderforums” Twitter (FAZ) mussten nicht einmal bis 18 Uhr warten; sie wurden bereits früher mit mutmaßlichen Prognosen zu den Landtagswahlen versorgt, was dann die Debatte über Exit Polls und mögliche Wahlverfälschungen auslöste.

In den nächsten Tagen war dann allerdings klar im Vorteil, wer die offen zutage liegenden Zahlen als deutungsbedürftiges Orakel für den 27. September zu behandeln vermochte, um daraus sogleich allerlei bundespolitische Signale und Zeichen herauszulesen. So blieb die Woche nicht ohne Leitartikel. “Je kühner jetzt die Interpretation der Ergebnisse  ist, desto näher liegt sie beim Kaffeesatz“, kommentiert Bettina Gaus in der taz.

Die Financial Times resümiert: “Die einzige Erkenntnis dieser Wahl liegt darin, dass es nach der Wahl anstelle von Schwarz-Gelb mangels Alternativen eine Große Koalition geben kann. Aber auch das war schon vorher bekannt.” Im Zeit-Wahlblog Wahlen nach Zahlen fragt Andreas Wüst: Haben Landtagswahlen Effekte auf die Bundestagswahl? – und kommt zum Schluss, die Wahlen würden am 27. September vermutlich kaum noch eine Rolle spielen.

Weitgehend einig war man sich darin, dass die Zeit der Volksparteien nun aber tatsächlich zuende sei. Eine neue Unübersichtlichkeit wurde vielfach konstatiert. Die stelle den Wähler vor neue Herausforderungen. Ein komplexer Dreischritt Hop – Step – Jump sei nun gefragt, wie Thorsten Faas bei Wahlen nach Zahlen ausführt: Nach der Entscheidung für eine gewünschte Koalition (Hop) gelte es die Koalitionsbereitschaft der Parteien abzuschätzen (Step), um schließlich die faktischen Koalitionsmöglichkeiten eines möglichen Wahlausgangs mit einzubeziehen (Jump). Nur in der Print-Zeit gibt es zur Orientierung in der neuen Unübersichtlichkeit ein halbseitiges verzweigtes Wahrscheinlichkeitsdiagramm, den Koalomaten, als Entscheidungshilfe.

Auch inhaltlich seien Verschiebungen zu beobachten, so Stephan-Andreas Casdorffs Einschätzung im Tagesspiegel: Die FDP werde zur CDU, die Merkel-CDU rücke an die Stelle der SPD, während diese sich sozialliberalisiere und den Platz der FDP einnehme. Nur die Linke bleibe die Linke. Die wird in Jörg Laus Wechselwähler-Kolumne begutachtet, kann den Autor aber nicht an allen Tagen ansprechen: “Ich wache an manchen Tagen voll konservativ-liberalem Tatgeist auf und denke, dass sich Leistung wieder lohnen müsse und das deutsche Gymnasium zum Kulturerbe der Menschheit gehört.

Ein rhetorischer Vergleich zwischen Frank-Walter Steinmeier und Angela Merkel findet sich in einem Artikel Thomas Vitzthums in der Welt: Intensivierende Adjekte wie “toll”, “spannend” und “wunderschön”, eigentlich ein Kennzeichen der 68er, fänden sich in Merkel-Sätzen zuhauf, bei Steinmeier hingegen so gut wie gar nicht. Auch neige Merkel zu Äußerungen wie “so etwas wie” und “relativ”, mit denen in der 68er-Debattenkultur die Subjektivität von Aussagen hervorgehoben worden sei – mache sich damit aber unnahbar.

Franz Walter zieht in einem Artikel für Cicero Parallelen zwischen dem Zeitalter der Volksparteien und dem des öffentlich-rechtlichen Fernsehens. Erst die nationale Zuschauergemeinschaft bei ARD und ZDF habe die – noch Anfang der fünfziger Jahre getrennten – Schichten und Traditionen der Bundesrepublik homogenisiert: “Das – und nicht die Industriegesellschaft – war Humus und Voraussetzung der volksparteilichen Integration. Vorbei war es damit, als private Fernsehanbieter die national kollektivierte Telezuschauerschaft wieder neu tribalisierten.

Und sonst? Tobias Schlegl von extra3 musste anlässlich des SPD-Wahlkampfs in Kiel feststellen, dass nicht alle Koalitionsoptionen unverschleiert vorzeigbar sind. Und die CDU, so wird berichtet, muss das größte Wahlplakat Deutschlands am Charlottenburger Tor in Berlin womöglich wieder abbauen. Die knapp 1700 qm große Kraft-Demonstration verstoße gegen den Vertrag zwischen dem Land Berlin und der Stiftung Denkmalschutz, wird der Charlottenburger Baustadtrat Klaus-Dieter Gröhler (CDU) zitiert.

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