von Christoph Bieber, 21.1.13
Ist aber die Wahl in Niedersachsen nur ein regionaler Stimmungstest, oder mehr als das – der Einstieg in eine Folge aus First- und Second-Order-Elections, die miteinander verkoppelt sind und eine kohärente Strategie des handelnden Polit-Personals erfordern? Vor allem die hyperaktive Medienlandschaft inszeniert den Aufgalopp im pferdeaffinen Flächenstaat jedenfalls als zentrale Wegmarke des Jahres, nach der zumindest die zentralen Fragen geklärt sind: Bleibt Steinbrück Kandidat, Rösler Vorsitzender? Was wird aus Großburgwedel ohne Wulff? Und wie erholt sich Wolfsburg von der Ära Magath?
Mit Blick auf die Piraten deutet der anhaltende Verfall der Umfragewerte auf Bundes- wie Länderebene sowie die relative Unauffälligkeit im Wahlkampf für viele Beobachter darauf hin, dass die Erfolgsgeschichte vorbei ist – oder zumindest zu Ende erzählt. Nach dem Entern folgt die Ernüchterung.
Was dabei gerne vergessen wird, ist eine Trennung der öffentlich-medialen Entwicklung der Piraten (negativ, destruktiv) mit der organisationsinternen Entwicklung (konsolidierend, konstruktiv). Ähnlich wie in der Phase nach dem ersten Achtungserfolg bei der Bundestagswahl 2009 wachsen die Mitgliederzahlen seit dem Sommer 2012 nicht mehr, sie pendeln sich auf ein Niveau knapp unter 35.000 Mitgliedern ein. In der populären Lesart gilt dies als Stagnation, man könnte allerdings auch von einer Stabilisierung sprechen.
Gewachsen ist die formelle Unterstützung vor allem im unmittelbaren Umfeld von Wahlentscheiden, in den längeren Phasen ohne Urnengang beruhigte sich die Organisationsentwicklung stets. In dieser Verbindung von Mobilisierung und innerem Organisationsaufbau liegt auch ein Schlüssel zum Verständnis des Wahlergebnisses: Niedersachsen ist für die Piraten ein kompliziertes Bundesland, das durch seine große Ausdehnung in der Fläche deutlich schwieriger zu „campaignen“ ist, als etwa das überschaubare Saarland oder der nördliche Nachbar Schleswig-Holstein. Der Hauptstadterfolg in Berlin gehorchte ohnehin anderen Regelmäßigkeiten, als einzige Kontrastfolie gilt wohl das bevölkerungsreichste Bundesland Nordrhein-Westfalen.
Dort allerdings agierte ein hochaktiver, zahlenmäßig gut aufgestellter Landesverband, der zudem von der Welle der Wahl- und Umfrageerfolge im ersten Halbjahr 2012 getragen wurde. In NRW stellten die Piraten einen gerade außerhalb des Internets hochsichtbaren Straßenwahlkampf auf die Beine, außerdem konnte in jedem Wahlkreis ein Direktkandidat nominiert werden. Die Notwendigkeit, sowohl für die Listen- wie auch die Kandidatenanmeldung Unterschriften sammeln zu müssen, spielte der noch immer für viele kaum bekannten Partei in die Hände. Möglicherweise liegt in dieser flächendeckenden Durchdringung des Wahlgebiets ein Grund für das erstaunlich homogene Wahlergebnis der Piraten. Nicht etwa durch Hochburgenbildung in jungen, studentendominierten Bezirken, sondern durch eine sehr konstante Unterstützung in allen Wahlkreisen kam schließlich das respektable Wahlergebnis zustande.
In Niedersachsen sieht es dagegen anders aus: der Landesverband ist in den vergangenen Jahren zwar auch auf etwa 3.000 Mitglieder angewachsen, allerdings ist es nicht gelungen, Direktkandidaten in allen Wahlkreisen zu nominieren. Es wird sich zeigen, ob gerade hier nun Mobilisierungslücken auch an der Wahlurne resultieren, außerdem ist die generelle Stimmenverteilung im Flächenstaat eine interessante Variable. Solche Aspekte der organisationsinternen Entwicklung haben im Vorfeld der Wahlen kaum Beachtung gefunden, stattdessen dominierten Personal-Querelen und erste Flügelbildungen in der Bundespartei, die formalen Schwierigkeiten bei der Kandidatenaufstellung oder vielleicht noch das Konfliktpotenzial der urheberrechtlich ambivalenten Wahlplakate.
Dass es keiner überprominenten Kandidaten bedarf, um bei Landtagswahlen erfolgreich zu sein, haben die letzten Landtagswahlen gezeigt, eine breite Wahrnehmung und Aufmerksamkeit im Elektorat ist dennoch wichtig – trotz der respektablen Erfolge bei den letzten vier Wahlen blieb den Piraten der Zugang zu den niedersächsischen TV-Debatten verwehrt. Gerade für kleine Parteien kann sich dieser Nachteil im Kampagnen-Endspurt negativ auswirken, da in den Debatten ein letzter Test auf die Akzeptanz von Köpfen und Themen erfolgt. Vielleicht haben die Piraten sich hier sogar ein wenig zu zahm verhalten – zumal sie in der öffentlichen Debatte (und auch bei der parlamentarischen Konkurrenz) bereits wie ein vollwertiger Gegner behandelt werden.
Nicht vergessen werden darf jedoch das noch immer sehr junge Alter der Partei und die Tatsache, dass sich eine derart heterogene Organisation eben längst nicht so linear entwickelt, wie es die letzten Resultate bei den Landtagswahlen nahe legen. Die Wahl in Niedersachsen ist für die Piratenpartei keine „critical election“, also ein Wahlgang, nach dem alles anders sein kann als zuvor. Es ist eine regionale Wahl, die mehr über den Zustand und die Mobilisierungsfähigkeit des Landesverbandes aussagt, als über die Performance der Bundespartei als ganzes. Ein Wahlerfolg in Hannover würde den Piraten das Agieren in und mit der Öffentlichkeit in den nächsten Wochen zwar deutlich erleichtern und vielleicht auch ein gewisses „Momentum“ in den Umfragen erzeugen – weit wichtiger sind jedoch die Lehren, die die Partei (und auch deren Gegner) aus der Stimmverteilung in der Fläche ziehen können.
Update: Die Piraten erzielen am Ende 2,1% der Stimmen (75.539), verfehlen den Einzug in den Landtag deutlich und fallen auf ein Ergebnis aus der Zeit von 2009 bis 2011 zurück. Der Anteil der Erststimmen liegt bei nur 1,5%, in absoluten Zahlen sind es 52.944. Eine präzise Darstellung der Ergebnisse in den Wahlkreisen ist bislang (0.13 Uhr) nicht verfügbar, eine ausführlichere Diskussion folgt.
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