von Matthias Schwenk, 29.7.09
Wenn über Musik im Internet gesprochen wird, ist meist die Rede von Bands wie Radiohead oder Nine Inch Nails, von klassischer Musik dagegen so gut wie nie. Dabei vollzieht sich hier gerade ein stiller Wandel, ja fast schon so etwas wie eine Revolution: Namhafte Vertreter der klassischen Musik haben angefangen, den großen Musiklabels untreu zu werden.
Institutionen wie die New Yorker Philharmoniker, das Royal Concertgebouw Orkest oder das London Symphony Orchestra bieten jetzt immer mehr Aufnahmen ihrer Musik als Eigeneditionen an. Als Vertriebsplattform fungiert dabei die eigene Website, oft kooperiert man auch mit Handelspartnern wie Amazon. Ein prominentes Label der Musikindustrie scheint also nicht mehr unbedingt nötig, um Aufnahmen zu verkaufen: Der gute Name des Orchesters ist Zugpferd genug.
Allerdings steht dieser sich neu formierende Markt rund um die Eigeneditionen noch ganz am Anfang. Ablesen lässt sich dies an der Vielzahl der Erscheinungsformen, mit denen experimentiert wird. Bei den Orchestern, die bereits mit einem eigenen Label arbeiten, setzen einige noch ganz auf die CD als Tonträger, während andere neben CDs auch Downloadversionen anbieten. Schließlich gibt es noch eine dritte Gruppe, die ihre eigenen Aufnahmen nur per Download verkauft. Weitere Fallgruppen lassen sich bilden, wenn man danach unterscheidet, ob der Vertrieb ausschließlich über die eigene Website oder parallel auch über Drittanbieter läuft.
Ein interessantes Beispiel ist das London Symphony Orchestra, weil es ein sehr breites Spektrum an Möglichkeiten abdeckt: Das Repertoire unter dem eigenen Label “LSO” umfasst schon annähernd 100 Aufnahmen, die alle als CD oder auch als Download (Amazon, eMusic, iTunes) erhältlich sind. Das Orchester versucht sich sogar an Klingeltönen, die allerdings etwas teuer erscheinen. Die normalen Aufnahmen hingegen sind fair kalkuliert, inbesondere wenn man den derzeit günstigen Umrechnungskurs von Pfund in Euro berücksichtigt.
Das derzeit wohl weltbeste Orchester, das Royal Concertgebouw Orkest (Amsterdam), fährt eine ähnliche Linie, zu etwas höheren Preisen. Die bis vor kurzem noch erhältlichen Downloads (zu gleichen Preisen wie die CDs) hat man aktuell aber wieder aus dem Programm genommen. Die Website des Orchesters verweist jetzt nur noch auf eine Reihe kostenloser Downloads.
Ganz anders dagegen das Boston Symphony Orchestra: Dessen Digital Music Store umfasst zwar nur rund 25 Titel unter eigenem Label zum Download, dafür aber kann man diese Musik vorab anhören und anschließend in vier verschiedenen Dateiformaten erwerben. Damit ist man in Boston Vorreiter, was die heikle Frage der Datenqualität betrifft. Das gängige MP3-Format nämlich komprimiert nicht nur, sondern reduziert auch das Datenvolumen gegenüber einer CD, was zu klanglichen Einbußen führen kann.
Gerade an dieser Stelle steckt der Markt für klassische Musik noch in der Selbstfindung, da sich ein Teil der Kunden nichts dabei denkt, diese Musik etwa über iTunes zu erwerben, während andere Käufer allein wegen der Klangqualität vorläufig noch nicht auf die CD verzichten mögen. Einen bemerkenswerten Sonderweg fährt in diesem Zusammenhang das Los Angeles Orchestra, das zwar noch kein eigenes Label aufgesetzt hat, dafür aber eine Reihe von Aufnahmen (in Kooperation mit Universal als “DG Concerts”) exklusiv über iTunes vertreibt.
Einen ähnlichen Kurs fährt die Staatskapelle Dresden, die in ihrer Diskografie die in iTunes erhältlichen Ausgaben kennzeichnet und verlinkt. Mehr Mut zeigt im deutschsprachigen Raum noch niemand, abgesehen vielleicht von der Digital Concert Hall der Berliner Philharmoniker.
Insgesamt haben damit sieben Spitzenorchester begonnen, ihre Musik unter eigenem Markennamen zu vertreiben und diese teilweise auch als Downloads anzubieten (dazu zählen auch das Chicago Symphony Orchestra, das Phiharmonia Orchestra und das London Philharmonic Orchestra). Dass diesem Markt noch feste Strukturen fehlen, bemerkt man am ehesten bei den Preisen. Sollten Downloads nicht preislich günstiger sein als die CD? Aber selbst Amazon hat da noch so seine Mühe, wenn etwa Klassik-Downloads ganz knapp unter der Preisschwelle von 10 Euro positioniert sind und damit immer noch 2 oder sogar 3 Euro mehr kosten als die CD identischen Inhalts (Beispiel: Bruckners Achte mit Karajan und den Wiener Philharmonikern).
Für die traditionellen Musiklabels ist das natürlich kein Trost. Ihnen bleibt vorläufig noch ihr großes Repertoire sowie die zahlreichen Exklusivverträge mit Stardirigenten, die den Haus-Editionen zwangsläufig Grenzen setzen. Dazu haben sie noch das weite Feld der Musikkritik in Zeitungen, Zeitschriften und Online-Foren auf ihrer Seite: Dort nämlich hat man die neuen Eigenmarken der Orchester vielfach noch gar nicht wahrgenommen.
Ihre ursprüngliche Kernkompetenz aber, die Tontechnik, haben die Musiklabels inzwischen verloren. Und wo sie bei der Pop-Musik auf Lizenzgeschäfte und 360-Grad-Verträge mit den Musikern setzen, dürften sie bei der E-Musik nicht viel ausrichten können: Marketing und Merchandising haben Orchester, Festspielhäuser und Opernbühnen seit jeher selbst in der Hand.
Die Richtung für den Markt mit klassischer Musik im Internet ist damit vorgezeichnet und die alten Labels verfügen über nichts, was auf diesem Feld attraktiv wäre. Insbesondere fehlt es ihnen an der wichtigen Reichweite, da sie es auch versäumt haben, attraktive Plattformen im Internet selbst aufzubauen.
Die Orchester haben das erkannt und füllen diese Lücke jetzt gerne selbst aus, angetrieben vom Ziel, den Teil der Marge, der bisher auf die Labels entfiel, für sich zu vereinnahmen bzw. mit ihren Kunden zu teilen. Zudem haben sie damit praktisch die gesamte Wertschöpfungskette in der eigenen Hand und können so ihr Marketing besser steuern. Am Ende können vielleicht sogar Radiohead und die Nine Inch Nails dabei noch etwas lernen!