von Franz Sommerfeld, 19.10.16
Mit seiner halbstündigen Visite beim rot-rot-grünen Abgeordnetentreffen in der SPD-Zentrale hat Parteichef Sigmar Gabriel dem Koalitions-Poker für die Zeit nach der nächsten Bundestagswahl neues Tempo verliehen. Das nächste Blatt wird bei der schon im Februar stattfindenden Bundespräsidentenwahl ausgespielt. Bereits im Frühherbst hatte die CDU-Vorsitzende Angela Merkel versucht, mit der Bundesversammlung eine strategische Weichenstellung für Schwarz-Grün im Bund einzuleiten. Doch das durchkreuzte CSU-Chef Horst Seehofer, bevor Merkel richtig loslegen konnte.
Dabei sollte man Seehofers Verdikt gegen schwarz-grüne Gedankenspiele im Bund nicht vorschnell als bayrisches Rabaukentum abtun. Er sieht zurecht die strategische Herausforderung, zumindest in Bayern eine absolute Mehrheit für die Union zu erhalten und damit den Vormarsch der AfD wenigstens einzugrenzen. Er will die „Hoheit“ über seine Protestwähler bewahren und nicht das Schicksal der Linken im Osten erleiden, die ihre Protestwähler an die AfD verlieren. Das würde der CSU bei einer Beteiligung an einer schwarz-grünen Bundesregierung oder gar der schwarz-grünen Wahl eines Bundespräsidenten ohne Zweifel schwerer fallen. Ob Seehofer nach der Bundestagswahl wirklich so weit ginge, die eigene Union in die Opposition zu schicken, um Schwarz-Grün zu verhindern und damit Bayern zu „retten“, wird sich erst nach dem Wahltag entscheiden.
Aber bei der Präsidentenwahl sind die möglichen Kollateralschäden geringer, und so wird sich Seehofer nicht für ein schwarz-grünes Signal erweichen lassen. Damit hat sich die Ausgangssituation für die Bundesversammlung grundlegend verändert. Und Seehofer könnte zum Paten eines rot-rot-grünen Kandidaten werden. Laut SPIEGEL – und nicht dementiert – hält der SPD-Vorsitzende Gabriel den Schriftsteller Navid Kermani für einen geeigneten Mann.
Der Reiz dieses Kandidaten liegt nicht zuletzt darin, dass er sich für einfache parteipolitische Zuordnungen nicht eignet und bis in die CDU hinein viel Respekt erfährt, auch wenn die Christdemokraten ihn selbst nicht nominieren würden. Bedenken gibt es allerdings auch in den eigenen Reihen der SPD: So möchte die sich bekanntlich nicht durch all zu große politische Verwegenheit auszeichnende Ministerpräsidentin von NRW ungern mit einem rot-rot-grünen Signal in die Landtagswahlen ziehen. Schließlich stellt sie sich schon auf eine große Koalition in Düsseldorf ein. Vielleicht würde es der selbsternannten Landesmutter schon weiter helfen, wenn sie sich einmal die Zeit nähme, mit einem ihrer angesehensten Landeskinder ein Gespräch zu führen, das über Smalltalk hinausgeht.
Die stärkste Abwehr gegen Kermani kam bisher jedoch von den grünen Realos, die Kermani noch in die letzte Bundesversammlung delegiert hatten, sich aber endlich einen der ihren für das höchste Staatsamt wünschten. Nun müssen sie erkennen, dass Merkel ihre Hoffnungen auf einen „schwarz-grünen“ Präsidenten nicht mehr erfüllen kann. Dabei wäre zum Beispiel Winfried Kretschmann für beide Parteien ein Win-Win-Kandidat gewesen. Die CDU müsste nicht fürchten, dass der recht fit wirkende Ministerpräsident noch ein drittes Mal in ihrem einstigen Stammland antritt. Und die Grünen hätten den eigenwilligen und sie nicht selten nervenden Politiker auf das Amt des Überparteilichen entsorgt, das er sicher auch gut ausgefüllt hätte – eine elegante Lösung nicht zuletzt für den linken Flügel der Grünen.
Nun werden die Karten neu gemischt, und auch bei den Grünen sollte das durchaus berechtigte parteipolitische Kalkül weiter gehenden politischen Überlegungen weichen: Wäre Kermani das richtige Signal in Zeiten der Flüchtlingskrise? Würde ein Muslim nicht der AfD Wähler zutreiben? Ein Ja ohne Wenn und Aber zu Kermani wurde überraschenderweise in der FAZ formuliert: „Viele könnten sich nun daran stoßen, dass Kermani Muslim ist. Aber er muss nicht als Aushängeschild für ein verträumt multikulturelles Deutschland herhalten, dessen Klischeehaftigkeit er selbst kritisiert, sondern stünde im Gegenteil für die beste deutsche Tradition gesellschaftlichen Engagements – nicht obwohl, sondern eben weil er politisches und religiöses Denken vereint wie niemand sonst,“ schreibt Paul Ingendaay in einem eindringlichen Plädoyer als Aufmacher des Feuilletons.
Es wäre ein Signal der Chancengleichheit und politischen Teilhabe für die nach Deutschland Eingewanderten und ihre Kinder, ähnlich wie die Wahl Obamas, nur nicht so spät. Oder wie die Wahl von Sadiq Khan zum Londoner Bürgermeister. Aber Kermani wäre auch für Einwanderer eine Herausforderung – durch sein klares Bekenntnis zur deutschen Heimat. In der noch laufenden vierteiligen Reportage-Serie des SPIEGEL schreibt er darüber bei seinem Besuch in Auschwitz:
„Der Vorgang, der mich ohne Wenn und Aber zum Deutschen macht, dauert keine Sekunde. Aufgrund des Andrangs kann man Auschwitz nur in einer Gruppe besuchen, muss sich vorher anmelden, am besten online, und sich für eine Sprache entscheiden, Englisch, Polnisch, Deutsch et cetera. Und dann klebe ich den Aufkleber auf die Brust, auf dem schwarz auf weiß ein einziges Wort steht: deutsch. Das ist es, diese Handlung, dann wie ein Geständnis der Schriftzug auf meiner Brust: deutsch. Ja, ich gehöre dazu, nicht durch die Herkunft, durch blonde Haare, arisches Blut oder so einen Mist, sondern schlicht durch die Sprache, damit die Kultur. Ich gehe zu meiner Gruppe und warte ebenfalls stumm auf unsere Führerin. Im Tor, über dem ‚Arbeit macht frei’ steht, stellen sich nacheinander alle Gruppen zu einem bizarren Foto auf, außer unserer.“
Die Nominierung Kermanis würde die ihn unterstützenden Parteien zwingen, für ihre Ziele einzutreten und ihre eigenen Vorstellungen nicht ständig danach abzuklopfen, ob sie die AfD-Anhänger verärgern und noch mehr aufbringen könnten. Oder sich wie Sarah Wagenknecht den AfD-Vorstellungen anzunähern. Eine Entscheidung für Kermani würde den Bundestagswahlkampf in einem guten Sinne politisieren, wie es das so im erbitterten Streit um die Ostverträge in den 1970ern gegeben hat. Es ginge nun darum, ob Deutschland eine offene und liberale Gesellschaft bleibt und für Europa ein Zeichen der Stärke gegen Orban, Kaczyński, Hofer oder Puigdemont setzt. Auch die erste Kandidatur Willy Brandts als Bundeskanzler im Jahre 1961 war ein starkes gesellschaftliches Signal gegen den damals immer noch herrschenden Zeitgeist: Sozialdemokrat, ein uneheliches Kind, ein Emigrant, der seinen Decknamen aus der Nazizeit übernommen hatte. „Brandt alias Frahm“, pflegte Adenauer in seinen Wahlkampfreden süffisant zu formulieren. Vielen schien ein solcher Mann als Bundeskanzler undenkbar. Der Kampf um ihm wurde auch zu einem gegen das restaurative Klima im Land.
Gegen den ersten Anschein darf getrost vermutet werden, dass Kermani als Präsident nicht die Einwanderer zu seinem Thema machen würde, sondern eher die Leute, die sich in der Gesellschaft vernachlässigt und ausgegrenzt fühlen. Wer ihn einmal in seiner Kölner Stamm- und Eckkneipe erlebt hat, wo er seit 25 Jahren auch regelmäßig Thekendienst versieht, versteht, dass er ein genaues Gefühl für solche Stimmungen hat. In seinem neuen Roman „Sozusagen Paris“ zitiert er eine böse Passage aus einem Text von Stefan Laurin, der den „den Klassenkampf einer autoritär-ökologisch geprägten Mittel-und Oberschicht beschreibt. Alles, was es heute gesellschaftlich zu ächten gilt, werde dem Sub-Proletariat zugeschrieben: Sie rauchten und tränken zuviel, auf ihren Tellern liege zuviel Fleisch, sie seien zu dick und machten zu wenig Sport, himmelten Autos an, führen zuwenig Rad und arbeiteten auch noch in Industrien, die man am liebsten gar nicht mehr im Land hätte. Dazu bekämen sie noch viele Kinder, und die seien dann auch noch dumm. Und Urlaub machten sie an den falschen Orten, wo sie in zu großen Mengen aufträten und sich dann auch noch schlecht benähmen. Der Neoprotestantismus dulde keinen Widerspruch, seine schärfsten Waffen seien die brutale Abwertung aller anderen Lebensweisen und ein bislang nicht dagewesener Kulturkolonialismus.“
Der fanatische Fan des 1. FC Köln würde auch eine Sprache abseits des intellektuellen Diskurses finden. Im Kölner Stadt-Anzeiger bekannte er sich zu seiner Passion: „Ich bin seit meinem vierten Lebensjahr Anhänger dieses Vereins, auf allen Bolzplätzen meiner westfälischen Geburtsstadt trug ich grimmig stets den Geißbock auf der Brust, wo meine Kameraden alle zu Schalke oder zu Dortmund hielten, wenn sie nicht opportunistisch für die Meister München oder Mönchengladbach optierten, ich bin wegen des FCs sogar nach Köln gezogen – wirklich wahr!, der Studienplatz ein bloßer Vorwand….“. Die Treue zur Diva vom Rhein verrät eine beachtliche Hartnäckigkeit, die zur Zeit sogar belohnt wird.
Zwei ostdeutsche Frauen haben es in der Hand, einen möglichen Kandidaten Navid Kermani zu verhindern. Da ist Sahra Wagenknecht mit ihren Putin-Sympathien, die keine Gelegenheit versäumt, ihre tiefe Abneigung gegen Sozialdemokraten und Grüne griffig zu formulieren. In der historischen Tradition der kommunistischen Bewegung spielt sie mit dem Verrats-Vorwurf gegen die Parteien, die sich der Reform verpflichtet fühlen. Könnte sie zudem einen Kandidaten wählen, der als letzte Option auch militärische Schläge gegen den Terrorismus für denkbar hält?
Und da ist Angela Merkel. Wenn sie den mit Seehofer und Gabriel vereinbarten Auftrag erfüllt und einen Präsidentenkandidaten vorschlägt, der vielleicht kein Sozialdemokrat ist, sich der SPD aber eng verbunden fühlte, dann wird die SPD kaum eine andere Wahl haben, als Merkels Kandidaten zu wählen.
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