von Christian Stahl, 17.6.15
Schwarze Plastiksäcke mit toten Flüchtlingen vorm Bundeskanzleramt? Leichengeruch vorm Reichstag? Spontan ausgehobene Gräber auf den Rasenflächen im Berliner Regierungsviertel?„Die Toten kommen“. So nennt das Zentrum für politische Schönheit seine seit Dienstag stattfindenden Aktionen, um mit namenlosen Leichen von Flüchtlingen auf das Massensterben an Europas Grenzen aufmerksam zu machen.
Die europäische Staatengemeinschaft feilscht derweil um Quoten für die wenigen Flüchtlinge, die es unter Einsatz ihres Lebens hierher geschafft haben. Sie diskutiert Militäreinsätze im Mittelmeer und verzehnfacht den Etat von Frontex, um die eh schon kaputten Schlepperboote zu zerstören, im vollen Bewusstsein, dass danach noch kaputtere Boote überfüllt mit Flüchtlingen die tödliche Route nehmen werden. Und favorisiert sogenannte „Auffanglager“ für Flüchtlinge in den arabischen Ländern, obwohl jeder weiß, dass dort Prügel, Vergewaltigungen, Hunger und Willkür Alltag sind.
Würde für die europäische Flüchtlingspolitik das Strafgesetzbuch gelten, säßen wir alle auf der Anklagebank.
Wegen Beihilfe zum Massenmord im Mittelmeer und unterlassener Hilfeleistung in mehreren Millionen Fällen. Unsere Mantra-Verteidigungsstrategie funktioniert nicht mehr lange. Es sind die immergleichen Phrasen: Es sei doch nur Notwehr, Asyl ja, aber Armutseinwanderung nein, und, wir könnten ja nun nicht die ganze Welt retten.
Die Welt wird uns den Stinkefinger zeigen. Und uns überrennen.
Weltweit sind mehr als 50 Millionen Menschen auf der Flucht., allein in Syrien sind es elf Millionen. Aber in Brüssel pokern EU-Kommission und Mitgliedsstaaten, als hätten sie den Schuss nicht gehört, um die Unterbringung von 40.000 Flüchtlingen, die Italien und Griechenland „zu viel“ sind. Deutschland soll demnach 21,9 Prozent aufnehmen, das sind 5258 Flüchtlinge, Polen 6,65 Prozent, also 1595, Zypern nur noch 0,43 Prozent, also 104.
Haben die in Mathe alle nicht aufgepasst? 50.000.000 vs 40.000?
Zu den Kriegsflüchtlingen werden die Klimaflüchtlinge kommen. Die Angst vor dem Tod wird sie nicht aufhalten, weil sie da, wo sie sind, im besten Fall der Tod auf Raten erwartet. Wer einmal in einem Flüchtlingslager oder Elendsviertel war, ich war in den letzten 10 Jahren in vielen, weiß: Jeder von uns würde alles tun, um sich und seine Familie hier rauszuholen. Alles.
Nicht die Flüchtlinge, die nach Europa drängen und das Sterben in Kauf nehmen, um den Tod zu verhindern, sind kriminell. Wir sind es. Wir machen uns schuldig.
Schuldig daran, dass immer mehr Schlepperboote mit immer mehr Flüchtlingen kommen, die Flüchtlinge ertrinken und die kriminellen Schleuser selbst davon profitieren. Um die Schlepperbanden loszuwerden, müssen wir Europas Grenzen öffnen und Flüchtlingen endlich einen legalen Weg nach Europa ebnen. Sie müssen hier Asyl beantragen können, viel schneller Aufenthalt bekommen und arbeiten dürfen und die neue Sprache lernen.
Wir machen uns schuldig daran, dass die wenigen Flüchtlinge, die es illegal und irgendwie doch nach Europa geschafft haben, in der Illegalität bleiben müssen oder in die Kriminalität abdriften. Durch unsere ebenso menschlich zynische wie ökonomisch dämliche Ausgrenzungspolitik von Flüchtlingen (jahrelang keine Arbeit, kein Studium, kein Aufenthalt, keine Rechte, keine Integrationskurse etc.) schaffen wir erst die Bedingungen, die wir dann beklagen. Warum bitte sollen Flüchtlinge nicht arbeiten und Steuern zahlen?
Wir machen uns schuldig, dass Flüchtlinge nicht längst Teil des europäischen Wirtschaftsmotors geworden sind. Erst am Montag musste der Arbeitgeberpräsident, Ingo Kramer, Kanzlerin und Länderchefs ermahnen, Flüchtlinge endlich arbeiten zu lassen. Der dpa sagte Kramer:
«Viele Menschen, die auf der Flucht vor Krieg und Vertreibung zu uns kommen, werden längerfristig oder sogar für immer bleiben», sagte Arbeitgeberpräsident Ingo Kramer der Deutschen Presse-Agentur in Berlin. «Es ist im Interesse aller, alles zu tun, damit sich diese Menschen zügig in den Arbeitsmarkt integrieren können. … Viele junge Menschen, die als minderjährige Flüchtlinge nach Deutschland kommen, sind nicht nur bereit, sondern auch besonders motiviert, eine Ausbildung zu absolvieren.» Gerade für sie dürfe das Asylverfahren keinen Lebensstillstand bedeuten. «Zugleich gibt es viele Unternehmen, die händeringend junge Menschen für eine betriebliche Ausbildung suchen.»
Wir machen uns schuldig, geschichtsvergessen und grundgesetzwidrig zu handeln. Erstens gibt es das Grundrecht auf Asyl nach wie vor. Und zweitens wurde die Genfer Flüchtlingskonvention in den 50er Jahren ins Leben gerufen wegen den etwa 14 Millionen europäischen Binnenflüchtlingen des Zweiten Weltkriegs. Fast alle Flüchtlinge waren Deutsche. Unsere Großmütter und Großväter. Und was machen wir Kriegsenkel heute mit denen, die unsere Hilfe brauchen?
Und wir machen uns schuldig des Verrats an unserer Zukunft. Wie wollen wir Demokratie, Freiheit und Gleichheit, die Koordinaten unseres ebenso lebens- wie schützenswerten Lebens, in einem sicheren und zumindest vergleichsweise immer noch sehr friedlichen Europa achten und wahren, wenn wir sie derart mit Füßen treten, wenn es um Flüchtlinge geht? Eine aktuelle SPIEGEL-Dokumentation zeigt das empörende Unrecht an Europas Grenzen, wieder einmal, auf.
Unsere Flüchtlingspolitik ist längst zu Europas Guantanamo geworden.
Der aus Singapur stammende asiatische Vordenker, ehemalige UN-Botschafter und Politologe Kishore Mahbubani hat mir schon vor Jahren in einem bemerkenswerten Interview prophezeit, dass Europa das gleiche Schicksal bevorstehe wie einst dem Kaiser ohne Kleider im Märchen.
„The western world sees itself dressd in the finest fabrics of democracy and human rights. But the rest of the world sees the west naked. And this gap in perception will be the source for future wars and riots.“
Ich hoffe immer noch, dass Mahbubanis Prophezeiung sich nicht bewahrheitet und wir mit einer Bewährungsstrafe davon kommen. Wenn wir jetzt handeln.
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