Ein Bundesministerium umgeht die Zuständigkeit der Länder für das Medienrecht und missbraucht das Vereinsrecht, um die Medienfreiheit völlig unverhältnismäßig zu beschränken.
von John Philipp Thurn and David Werdermann, 22.1.20
Kann in Deutschland ein ganzes Medium verboten und sein weiteres Erscheinen auf unbestimmte Zeit verhindert werden, weil darin einige Artikel mit strafbaren Inhalten veröffentlicht wurden? Wenn es nach dem Bundesministerium des Innern (BMI) geht, ja. Denn das hat noch unter Thomas de Maizière im August 2017 die linke Internetplattform linksunten.indymedia.org verboten und abgeschaltet. Breiteren öffentlichen Protest gegen diese Maßnahme gab es in der aufgeheizten Stimmung nach dem Hamburger G20-Gipfel nicht. Eine der wenigen kritischen Stimmen war die von Christian Mihr, Geschäftsführer von Reporter ohne Grenzen: »Um gegen strafbare Inhalte auf linksunten.indymedia vorzugehen, hätte es weniger einschneidende Mittel gegeben. Dass die Bundesregierung ein trotz allem journalistisches Online-Portal durch die Hintertür des Vereinsrechts komplett verbietet und damit eine rechtliche Abwägung mit dem Grundrecht auf Pressefreiheit umgeht, ist rechtsstaatlich äußerst fragwürdig.« Außer der taz und dem NDR-Medienmagazin Zapp haben seitdem wenige über das Verbot oder die beim Bundesverwaltungsgericht erhobene Klage berichtet – obwohl das Verfahren große Bedeutung für die Freiheit der Medien hat. Denn das pauschale Verbot der Plattform unterläuft wichtige rechtsstaatliche Standards des Grundgesetzes: Ein Bundesministerium umgeht die Zuständigkeit der Länder für das Medienrecht und missbraucht das Vereinsrecht, um die Medienfreiheit völlig unverhältnismäßig zu beschränken.
Plattform und Verbot
Was war linksunten? Die 2008/2009 in Baden-Württemberg gegründete Internetplattform gehörte zum weltweiten Indymedia-Netzwerk, das sich seit 1999 als Teil der globalisierungskritischen Bewegung entwickelt hatte. Sie funktionierte nach dem sogenannten Open-Posting-Prinzip, hatte also keine herkömmliche Redaktion, wohl aber bestimmte Moderationskriterien. So wurden beispielsweise rassistische oder antisemitische Inhalte gelöscht. Insofern unterschied sich die Plattform nicht grundlegend von sogenannten sozialen Netzwerken wie Facebook. Auf linksunten erschienen Demonstrationsaufrufe, Berichte und Kommentare zu Veranstaltungen der linken Szene, Debattenbeiträge und Recherchen zu Neonazinetzwerken sowie Erklärungen, in denen Militante illegale Aktionen rechtfertigten oder zu ihnen aufriefen. Einige Artikel dürften dem alternativen Medienaktivismus, andere stärker dem (klassischen) Journalismus zuzuordnen gewesen sein; die vertretenen Standpunkte und die sprachliche Qualität variierten. Wer sich einen eigenen Eindruck von der Vielfalt der Beiträge und der Diskussionskultur verschaffen will, kann dies seit Kurzem in einem Online-Archiv tun.
Laut der auf Paragraph 3 des Vereinsgesetzes gestützten Verfügung des BMI vom 14. August 2017 traf das Verbot einen Verein, dessen Zwecke und Tätigkeit den Strafgesetzen zuwiderliefen und der sich gegen die verfassungsmäßige Ordnung richte. Denn auf der »einflussreichsten Internetplattform gewaltbereiter Linksextremisten in Deutschland« sei eine Vielzahl strafrechtlich relevanter Beiträge veröffentlicht worden, beispielsweise »Selbstbezichtigungsschreiben« nach »linksextremistischen« Anschlägen.
Einige der angeblichen Straftaten dürften in Wirklichkeit zulässige Meinungsäußerungen sein. Regelrecht abstrus wirkt etwa der Vorwurf der Beleidigung, weil der für den Luftangriff beim afghanischen Kundus 2009 mit ungefähr 100 Todesopfern verantwortliche damalige Oberst Georg Klein als »Kriegsverbrecher« bezeichnet wurde. Viele andere angeführte Textpassagen dürften hingegen tatsächlich strafbare Inhalte enthalten. Allerdings setzt die Verbotsverfügung sie nicht ins Verhältnis zur Gesamtzahl der bei linksunten veröffentlichten Artikel, die überwiegend weder strafbar noch verfassungsfeindlich waren, mitunter sogar militante Aktionen kritisierten und rechtsstaatliche und demokratische Standards ausdrücklich verteidigten. Bei einem solchen »Markt der Meinungen« bedarf es laut Bundesverfassungsgericht besonderer Anhaltspunkte dafür, dass sich ein Medium nicht mit diesen Beiträgen, wohl aber mit den strafbaren oder verfassungsfeindlichen Beiträgen identifiziert. Anders als das Innenministerium meint, kann eine solche Zurechnung nicht einfach damit begründet werden, dass anonymes Publizieren auf linksunten durch technische Vorkehrungen ermöglicht wurde. Denn auch die Veröffentlichung von anonymen Beiträgen ist selbstverständlich Teil der Medienfreiheit.
Zentralisierter Exzess
In Wahrheit verstößt das Verbot von linksunten in verschiedener Hinsicht gegen das Grundgesetz. Mit dem Bundesinnenministerium handelte schon eine unzuständige Behörde, denn eine Aufsichtsmaßnahme gegen ein Online-Medium, die ausschließlich mit den veröffentlichten Inhalten begründet wird, fällt nicht in die Kompetenz des Bundes: Sie gehört zum Medienrecht, für das die Länder zuständig sind. Das Vereinsrecht ist für derartige Medienverbote nicht anwendbar, maßgeblich ist vielmehr der zwischen den Ländern geschlossene Rundfunkstaatsvertrag (RStV), der in Paragraph 59 strenge Voraussetzungen für Eingriffe aufstellt. Für die Abgrenzung des Vereins- vom Medienrecht ist historisch interessant, dass das Ministerium bereits 1952 einen Anlauf unternommen hatte, um eine presserechtliche Gesetzesgrundlage für Zeitungsverbote zu schaffen – Totalverbote von Medien auf das Vereinsrecht zu stützen, zog das BMI damals gar nicht in Erwägung. Der entsprechende Gesetzentwurf blieb seinerzeit – auch wegen Protesten von Medien wie dem Spiegel – erfolglos. Inzwischen liegt die Gesetzgebungskompetenz für die inhaltsbezogene Aufsicht über (Tele-)Medien allein bei den Ländern. Der Bund maßt sich also kompetenzwidrig eine Zentralbefugnis für Medienverbote an und missbraucht dazu das Vereinsrecht.
Noch offenkundiger ist die Unverhältnismäßigkeit des Eingriffs in die Medienfreiheit nach Artikel 5 Absatz 1 des Grundgesetzes. Anstatt zunächst, wie es auch im Rundfunkstaatsvertrag vorgesehen ist, mit Unterlassungs- und Sperrverfügungen gegen konkrete rechtswidrige Inhalte vorzugehen, ließ das BMI sofort die gesamte Plattform abschalten, einschließlich zahlloser rechtlich unbedenklicher Artikel. Das Vereinsverbot gegen linksunten macht damit genau das, was es nach dem Bundesverfassungsgericht nicht darf: Es untersagt Publikationen, die für sich genommen von der Freiheit der Medien geschützt sind, und unterläuft damit eine grundrechtliche Garantie.
Dass ein derartiges Totalverbot über jedes Ziel hinausschießt, lässt sich auch der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg entnehmen. Dieser hat etwa im Fall Ürper u.a. gegen die Türkei festgestellt, dass ein vollständiges und unbefristetes Verbot einer Zeitung die Freiheit der Medien nach Artikel 10 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) verletzt – ganz unabhängig von den konkreten Vorwürfen gegen das Presseorgan. Das kann nicht nur offline, sondern muss auch online gelten: Ein pauschales und unbefristetes Verbot des künftigen Erscheinens eines Mediums kann nicht verhältnismäßig sein.
Es ist bezeichnend für das fragwürdige Verfassungsverständnis des Bundesinnenministeriums, dass sich die Verbotsverfügung gegen linksunten auf ganzen zwei von 91 Seiten der Verhältnismäßigkeit des Grundrechtseingriffs und der Vereinbarkeit mit der EMRK widmet. Speziell für die Zukunft partizipativer Onlineformate, aber auch generell für die Freiheit der Medien bleibt zu hoffen, dass das Bundesverwaltungsgericht diesem rechtsstaatswidrigen Vorgehen einen Riegel vorschiebt. Die Verhandlung in Leipzig beginnt am 29. Januar 2020 – vielleicht dann ja auch mit breiterer medialer Aufmerksamkeit.
Die Juristen John Philipp Thurn und David Werdermann haben mitgewirkt an der Stellungnahme der Gesellschaft für Freiheitsrechte (GFF) im Verfahren am Bundesverwaltungsgericht. Die GFF ist eine NGO zur strategischen Prozessführung für die Grund- und Menschenrechte.