von Hans-Jürgen Arlt, 31.7.15
Lange vor Markt und Demokratie hat der Sinn die Menschen zu Wählern gemacht.1 Sie haben zu wählen, ob sie die Kuh zum Zugtier, zur Milchkuh, zur lila, zur heiligen, zum Schlachtvieh mit anschließendem Schnitzel oder wie im Wallis zur Kampfkuh machen. Von Formel 1 Rennen bis zu Hinrichtungen gibt es keinen Wahnsinn, den Leute nicht als sinnvoll ausflaggen und – Gesinnungsgenossen finden. Das Denkbare und das Sagbare entscheiden sich im Medium Sinn. Es kommt sehr darauf an, wie viel verschiedenen Sinn eine Gesellschaft aushält. Wenn es ganz schön viel ist, nennt man es Multikulti.
Seit der Aufklärung setzt sich eine kulturelle Grundhaltung durch, deren Gestus Dirk Baecker so beschreibt: „’Wie interessant!’ leitet eine Praxis des Vergleichs, der Reflexion und der Selbstkritik ein, auf die die moderne Kultur gegründet ist […] Man muss sich das vorstellen: Ein Gläubiger kniet nieder und beginnt ein Gebet. Ein Intellektueller stellt sich neben ihn und sagt:‚Wie interessant, weißt du, dass andere Völker an ganz andere Götter glauben?“2
Verdammt viel Korn für einen Winter
Die Aufklärung der Arbeitsgesellschaft steht noch aus. Die Digitalisierung lädt dazu ein, über den Mainstream noch einmal nachzudenken, Deutungshoheiten in Frage zu stellen. Aber die Einladung wird nicht angenommen. Man muss sich das vorstellen: Leute lassen sich aus dem Schlaf reißen, um sich auf den Weg zu einem Arbeitsplatz zu machen. Sie opfern dabei alleine in Deutschland jährlich 10 Milliarden Stunden Lebenszeit für den Hin- und Rückweg.3 An ihrem Arbeitsplatz lassen sie sich herumkommandieren, machen Sachen, die sie für hirnrissig halten, unter Bedingungen, die oft gesundheitsschädlich sind, retten sich in beißenden Spott über ihre Vorgesetzten, halten das Maul, wenn es ernst wird, und werden für ihre Karriere zum Kollegenschwein. Sie produzieren immer mehr überflüssiges Zeug und pressen es mit einem Riesenaufwand an Werbung in die Märkte; im Erfolgsfall führt es zum Bankrott anderer, bei Misserfolg zum eigenen. Die Leute erbringen Arbeitsleistungen, für die Konzernmanager pro Kalendertag rund 40.000 Euro kassieren – verdammt viel Korn für einen Winter –, Durchschnittsbeschäftigt bekommen (hierzulande) 100 Euro. Frauen werden nicht nur schlechter bezahlt, sie leisten auch noch den Hauptanteil an unbezahlter Arbeit. Alle zusammen plündern sie mit ihrer Arbeit den Planeten. Letzteres hat Walter Benjamin schon aus dem Verständnis von Arbeit des Gothaer Programms (1875) der alten SPD herausgelesen. „Dieser vulgärmarxistische Begriff von dem, was Arbeit ist […], will nur die Fortschritte der Naturbeherrschung, nicht die Rückschritte der Gesellschaft wahrhaben [und] läuft auf die Ausbeutung der Natur hinaus, [welche] ‚gratis da ist’“.4
Die Arbeitsgesellschaft kann man auch ganz anders beschreiben, den Handlungen und Vorgängen einen ganz anderen Sinn zuschreiben: Fleißige und engagierte Leute suchen den kürzesten Weg zur Arbeit, treffen dort nette Kolleginnen und Kollegen, mit denen sie viel Spaß haben, erfreuen sich sozialer Anerkennung, entwickeln laufend neue Ideen für Problemlösungen, treiben die Medizin, die Maschinen und die Mobilität, die Speisekarten, die Klamotten und die Kultur zu immer schöneren Blüten. Sie entfalten die Kräfte der Natur zum Wohle der Menschheit, verwirklichen sich selbst durch ihre Leistungen, globalisieren Zivilisation und Fortschritt.
Jetzt könnte man anfangen, darüber zu streiten, was die Wahrheit ist, ob die ersten oder die zweiten Sinnzuschreibungen falsch sind. Stattdessen wird hier vorgeschlagen, das Aufregende am Sinn darin zu sehen, zumindest zeitweise vergessen zu müssen, dass er nur gewählt ist.
Welche Bedeutung Dingen, Ereignissen, Personen zugeschrieben wird, ist eine stets offene Frage. Sie verlangt jedoch in jedem Moment Antworten, denn sonst könnten wir mit den Dingen, Ereignissen, Personen nicht umgehen. Spätestens wenn wir handeln, müssen wir uns festlegen. Es wäre einfach nicht auszuhalten, man liefe orientierungslos, entscheidungs- und handlungsunfähig durch die Welt, wäre die Vieldeutigkeit von allem und jedem ein Dauerzustand. Was machst du mit der Kuh, wenn du alles gleichzeitig in ihr siehst? Am Ende nichts. Man weiß ja schon nicht, was man mit sich selber machen soll, wenn man sich nicht mit sich auf ein Selbstverständnis einigen kann.
Wie funktioniert das mit der Stabilisierung einer bestimmten Bedeutung, die dann als die wahre durchgeht? An den gewählten Sinn knüpfen sich Erwartungen; im Fall der Kuh Milch, Schokolade oder Schnitzel. Die Erwartungen werden praktisch auf ihre Brauchbarkeit geprüft. Bewähren sie sich, verfestigen sie sich und werden zu einer Struktur: das erwarten wir jetzt immer – von der Kuh, von anderen, von uns selbst.
So funktioniert es mit jeder Wahl. Du wählst dieses T-Shirt aus, keines der achthundertsiebenundneunzig anderen, die auf dem Kudamm auch zu bekommen sind; von den unzähligen außerhalb deines Wahrnehmungshorizonts gar nicht zu reden. Gehst du später an den Kleiderschrank, erwartest du dieses T-Shirt vorzufinden, keines der 897 anderen, obwohl du vielleicht noch an dieses oder jenes denkst, das in der engeren Wahl war. Hat sich diese Erwartung stabilisiert, wurde sie zur Struktur, rechnest du nicht mehr mit den anderen T-Shirts, sie spielen als Möglichkeiten in deinem Leben keine Rolle mehr, in deinem Kopf und in deiner Zeit ist jetzt Platz für anderes. Um das zu ändern, musst du wieder von vorne anfangen, dein T-Shirt in Frage stellen, einen neuen Auswahlprozess einleiten…
Wer sagt „das geht nicht“, teilt bei Lichte besehen erst einmal nur mit, dass er sein Sinngehäuse nicht verlassen, dass er seine Erwartungen nicht verändern, also nicht lernen, seine Gewohnheiten nicht aufgeben und die bestehenden Strukturen beibehalten möchte. Zu beachten ist, dass es von der real existierenden Hegemonie abhängt, auf welchen Gebieten und in welchen Hinsichten Veränderungen willkommen geheißen werden. Unter der Vorherrschaft neoliberaler Sinnstiftung beispielsweise galt Gerhard Schröders Agenda 2010 als brauchbar und fortschrittlich.
„Wir sind hier nicht bei ‚wünsch dir was’“
Der Auswahlcharakter eines bestimmten Sinns geht verloren, sobald er sich zur Erwartung verdichtet, sich die Erwartung als brauchbar erweist, zur Struktur verfestigt und den Einzelnen im Elternhaus, in der Schule, in den Massenmedien als vorgegebener, von (fast) allen anerkannter Sinn vorgesetzt wird. Dann tritt dieser T-Shirt-Text in Kraft: „Wir sind hier nicht bei ‚wünsch dir was’. Wir sind hier bei ‚so isses’!“ Dann wird so getan, als sei es nie um eine Wahl gegangen, sondern um das Wesen, die Sache an sich. Sprechverbote und Denkverbote treten in Kraft. Spezialisten für verbotenen Sinn sind die Religionen. Wer nicht daran glaubt, riskiert es, dran glauben zu müssen. Über viele Jahrhunderte hinweg haben sie Liebe gepredigt und ihr Monopol der Sinnstiftung mit blutiger Gewalt verteidigt.
So entpuppt sich die Sinnfrage auch als Machtfrage. Welche Bedeutung setzt sich durch, wer entscheidet, ob etwas richtig oder falsch verstanden wurde? Welche Erwartung ist gerechtfertigt, welche nicht? Brauchbarkeit ist keine neutrale Kategorie. Brauchbar für wen und wozu? Hier sind Interessen im Spiel. „Nichts ist unmöglich“ wird über Arbeit nur gepredigt, wenn es um Gewinne, nicht wenn es um Gerechtigkeit geht. Eine Gesellschaft, die erwartet, dass die Einzelnen jederzeit leistungsfähig und leistungswillig sind, ihre Brauchbarkeit an Arbeitsplätzen kontinuierlich beweisen, steckt Alte in Seniorenheime, physisch oder psychisch Kranke in Isolierstationen (mit schöneren Namen), Kleinstkinder in Fördergruppen, Abiturienten in Bachelor-Studiengänge. „Das kannste schon so machen – aber dann isses halt Kacke.“ (T-Shirt-Aufschrift und Postkartentext)
Die Digitalisierung wirbelt die Arbeitswelt durcheinander, aber die Sinnstiftungen der Arbeitsgesellschaft scheinen stabil zu bleiben. Die soziale Phantasie kriecht wie eine alte Raupe auf ihrer Spur weiter, während die technischen Experimente ihre Flügel ausbreiten und sich in ungeahnte Höhen schwingen. Es sei „evident wichtig, dass wir darüber jetzt reden und nicht so tun, als wäre es eine Debatte, die in 15 Jahren ansteht“, sagt Constanze Kurz, Sprecherin des Chaos Computer Clubs.5 Aber eine engagierte Diskussion über eine andere Zukunft der Arbeit findet nicht statt. Die alten Erwartungen, die bekannten Probleme, die üblichen Sorgen bestimmen die Gutachten, Konferenzen und Medienbeiträge. Kurt Martis Frage,”wo kämen wir hin, wenn alle sagten, wo kämen wir hin, und niemand ginge, um einmal zu schauen, wohin man käme, wenn man ginge“, schafft es nicht einmal auf T-Shirts.
Wo kämen wir hin, wenn die Arbeit und mit ihr die Wirtschaft nicht mehr das Zentrum unseres Lebens wäre? Wenn wir die Arbeitsleistung auf den Rang einer (notwendigen) Tätigkeit unter vielen anderen zurückstufen. Wenn wir anerkennen, dass es sich nicht rechnen muss, was wir tun, sondern dass es genügt, wenn es nützlich ist. Wenn wir die Bildung, die Medizin, die Erziehung, den Sport, die öffentliche Kommunikation vom Zwang der Wirtschaftlichkeit befreien. Wenn wir uns von den Fesseln der Wertschöpfungsketten befreien, die Börsenzocker und Kapitalvermehrer nicht mehr beneiden, sondern als Ewiggestrige einstufen. Wenn wir beschließen, dass die Maschinen, Automaten und Computer so produktiv sind, dass wir uns ganz viel Zeit nehmen können, Dinge zu tun, auf die wir Lust haben, die uns bereichern, die unserem Intellekt und unseren Gefühlen gut tun – und dabei respektieren, dass anderen nicht schaden darf, was wir tun und lassen. Will wirklich niemand schauen, wohin man käme, wenn man ginge?
1 Immer noch das mit großem Abstand Beste dazu: Luhmann, Niklas (1971): Sinn als Grundbegriff der Soziologie. In: Jürgen Habermas/ Niklas Luhmann, Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie. Frankfurt/M., Suhrkamp, S. 25-100
2 Baecker, Dirk (2003): Wozu Kultur? Berlin, Kadmos, S. 48f.
3https://www.destatis.de/DE/Publikationen/Thematisch/EinkommenKonsumLebensbedingungen/Zeitbudgeterhebung/WobleibtdieZeit5639101029004.pdf
4 Benjamin, Walter (1961): Illuminationen. Frankfurt/M., Suhrkamp, S. 274f.
5 ver.di publik, 03-2015, S. D1
Wieviel Ideologie steckt in der Vorstellung, dass jede zweckgerichtete Tätigkeit Arbeit sei? Wie verändert sich die Arbeitswelt mit der Digitalisierung? Welche Rolle spielt das Individuum angesichts globalisierter Produktionsströme? Wie verändert sich die Kommunikation über Arbeit, und wie die Kommunikation, wenn sie zur Arbeit wird? Beiträge zu diesen und anderen Aspekten von Arbeit finden Sie in im Carta-Dossier: “Ausbeutung 4.0? Was heißt und zu welchem Ende leistet man Arbeit?”.
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