#Linke

Aufbruch und Machtwechsel

von , 2.10.18

»Die aktuelle Krise der neoliberalen hegemonialen Formation bietet die Chance, zu intervenieren und eine andere Ordnung zu errichten.«

Chantal Mouffe[1]

1. Die Situation ist offen

Die Welt ist im Wandel. Die Vormachtstellung der USA steht in Frage. Autoritäre Herrschaftsprojekte sind weltweit auf dem Vormarsch. Das bestehende Parteiensystem erodiert. Drei politische Grundströmungen sind in Europa zu beobachten, die sich auch in den Wahlergebnissen der letzten Jahre ablesen lassen: die autoritäre Rechte, ein neoliberales »Weiter-So« und das Projekt einer sozialen und solidarischen Alternative. In Europa drückt sich dies auch darin aus, dass linke bzw. sozialdemokratische Regierungen (wie in Griechenland, Spanien, Portugal), neoliberal orientierte Regierungen (Frankreich, Deutschland) sowie Regierungen der autoritären Rechten (wie in Italien, Österreich, Ungarn) koexistieren. Die Gefahr eines weiteren Rechtsrucks, gar einer Faschisierung besteht real. Dies gilt insbesondere auch hierzulande. Eine fortschrittliche Politik muss einen Umgang mit dieser Situation finden. Sie kann sich nicht darauf beschränken, nur Opposition gegen den Neoliberalismus zu sein und die Lieder der 2000er Jahre zu intonieren: Sie muss die Regierungsfrage offensiv stellen und dabei eine „neue Ordnung« auf den Weg bringen. Es geht dabei um eine klare Alternative zu autoritären Kräften und zum neoliberalen »Weiter-so«.

2. Das autoritäre Projekt führt zur Krise des Konservatismus

Seit 2015 ist es der politischen Rechten gelungen, entlang der Migrationsfrage zu polarisieren. Die Rede vom vermeintlichen »Staatsversagen«, von »Identität«, von herbeigeredeter »Grenzöffnung«, gar von einer drohenden »Umvolkung«[1] bestimmt die politische Agenda. Sie wurde von den Medien popularisiert und bis in die gesellschaftliche Linke hinein aufgegriffen. Die Ereignisse von Chemnitz und die fortschreitende Radikalisierung der AfD haben deutlich gemacht, dass ein solches Projekt mit neo-faschistischer Schlagseite durchaus auf Zustimmung bei ca. 15-20% der Wahlbevölkerung treffen kann.

Auch aktuell greift eine Taktik, die rechte Bewegungen historisch[2] immer wieder angewendet haben: Durch Hass, Gewalt und entsprechende Propaganda wird eine Situation der Ordnungskrise bzw. der Unregierbarkeit geschaffen, auf die sich dann die autoritäre Rechte selbst als „ordnende Antwort« präsentieren kann. So bedrohlich dieses Wechselspiel aus rechter Bewegung und autoritärer Herrschaftsoption sein mag, sie stürzt den etablierten Konservatismus in eine Krise. Der Volksparteicharakter der CDU und ihre Rolle als führende Kraft stehen in Frage. Diese Situation eröffnet aber auch eine Chance. Sie öffnet den Möglichkeitsraum für einen Macht- und Regierungswechsel von links, eine Regierung gegen den Rechtsblock, – und damit die Option, eine grundlegend andere Politik zur Durchsetzung zu bringen.

3. Die Sache selbst: Eine »neue Ordnung“ statt mehr Krisen

Das autoritäre Projekt wird die Probleme unserer Gegenwart nicht lösen. Dies gilt für die Frage nach einer Neuordnung der Wirtschaftsweise im europäischen Binnenmarkt, für den Klimawandel, für den Umgang mit den Kriegsgefahren in der Weltpolitik, nicht zuletzt für die Herausforderungen, die durch Migrations­bewegungen auf uns zukommen. Nur eine neue Ordnung in Europa und der Welt, die auf Ausgleich und Verhandlung beruht, wird die Probleme in den Griff bekommen können. Zentral ist dabei die Verfügung über Machtressourcen. In den letzten Jahrzehnten haben sich Reichtum, Verfügungs­gewalt, Wissen und Ent­schei­dungsbefugnisse zunehmend in den Händen weniger konzentriert. Diese Machtkonzentration muss aufgelöst werden. Dafür braucht es eine intelligente Strategie der europäischen Linken, um nicht an den Verhältnissen des inter­nationalen Wirtschaftsverkehrs zu scheitern oder – wie es in Griechenland der Fall war – der Erpressung zu unterliegen.

Eine populare Politik, die von der Durchsetzung her gedacht ist, wird eine solche Strategie ausarbeiten und sie über gesellschaftliche Mobilisierungen, über die Regierungsmacht in unterschiedlichen Ländern sowie europäische und inter­nationale Institutionen verallgemeinern müssen. Sie kann sich nicht aufs Nationale zurückziehen, wenn sie die Dinge tatsächlich in eine progressive Richtung verändern will.

4. We, the people! – Das verbindende Wir der »neuen Ordnung«

Der Träger der neuen Ordnung ist ein neues »Wir«: Es sind wir – die Vielen –, die an unterschiedlichen Stellen der Gesellschaft – sei es in Kirchen, Gewerkschaften, NGOs und Vereinen, bei der »Seebrücke«, bei Demonstrationen gegen Über­wachung oder für Frieden – für eine humane Alternative kämpfen. Es sind aber auch wir, die wir uns von der Politik abgewendet haben und nicht wollen, dass Europa nach rechts rückt. Unser neues »Wir« ist inklusiv: Es geht davon aus, dass wir in einer Einwanderungsgesellschaft und in internationalen Bezügen leben. Es weiß, dass die Macht der Wenigen nicht nur darin besteht, viel Geld auf dem Konto zu haben, sondern auch darin, Menschen anderer Herkunft oder Hautfarbe auszuschließen oder Frauen zu diskriminieren. Es ist ein machtkritisches, und kapitalismuskritisches »Wir«, das auf Entflechtung und Umverteilung setzt und die Macht der Konzerne ­von Google bis zur Deutschen Banküberwinden will. Es ist ein »Wir« in internationaler Perspektive, das die Ausbeutung des globalen Südens thematisiert und keine bornierte Selbstbezüglichkeit pflegt. Es ist ein feministisches »Wir«, das die Arbeitsverteilung zwischen Männern und Frauen neu ordnet. Und es ist ein »Wir«, das sich nicht mit Armut abfindet, sondern ein gutes Leben sowie soziale Garantien für alle anstrebt. Dieses „Wir« grenzt sich konsequent nach „oben« ab: Gegen die Machtkonzentration in den Händen weniger und die damit einhergehende Herrenmentalität.

5. Den popularen Kollektivwillen organisieren

In seinen Gefängnisheften, die der italienische Linke Antonio Gramsci in den 1930er Jahren schrieb, als er von den Faschisten ins Gefängnis gesperrt wurde, entwarf er in Anlehnung an Niccolò Machiavelli die Konzeption eines „neuen Fürsten«. Dieser neue Fürst sollte den popularen „Kollektivwillen« zum Ausdruck bringen. Schon damals war klar, dass sich das »Wir« nicht einfach so ergibt, allein weil es großen Rednerinnen oder Führern zuhört. Vielmehr muss es sich koordinieren und organisieren, um der neuen Ordnung gegen mächtige Gegner zum Durchbruch zu verhelfen.

Der »neue Fürst« wurde von Gramsci schon damals als „Organismus« gedacht, als ein »komplexes Gesellschaftselement«, das sich in langwierigen Auseinander­setzungen in unterschiedlichen Hinsichten, auf unterschiedlichen Ebenen bewähren muss. Der Kollektivwille muss immer wieder aufs Neue erarbeitet und überprüft werden. Nur Verbindung und gemeinsame Erfahrung, nur aktiver Gemeinsinn und Kollektivität kann die neue Ordnung tragen. Das »Wir« als Träger einer neuen Ordnung gewinnt seine Stärke in einer gemeinsamen organisierenden Praxis. So mühsam dies kurzfristig scheinen mag, so trägt es langfristig auch dann noch, wenn es gilt, sich gegen die Mächtigen durchzusetzen und wenn die knappen Ressourcen charismatischer Herrschaft verpufft sind.

Deshalb braucht es eine Partei in Bewegung, um das gemeinsame Handeln auf Dauer zu stellen. Soll heißen, eine Partei, die sich erstens selber bewegt, also als lernende Organisation agiert, die eng verbunden ist mit den Vielen, die schon in Bewegung sind und die ausdrücklich etwas in Bewegung setzen möchte, also auf die Veränderung der Verhältnisse hinarbeitet.

6. Was konkret zu tun ist

6.1.Verbindende Politik, Bildung von Äquivalenzketten

Gerade in Zeiten des Rechtsrucks ist eine verbindende Politik gefragt. Eine Politik, die soziale und ökonomische Konfliktlinien, ja Frontstellungen heraus­arbeitet und Menschen verschiedener Lebenslagen verbindet. Um es an einem Beispiel zu illustrieren: Von explodierenden Mieten sind sowohl Studierende, Rentnerinnen als auch Facharbeiter betroffen. In den aktuellen Bewegungen für bezahlbaren Wohnraum entstehen Verbindungslinien zwischen unterschied­lichen sozialen Gruppen, und zwar über die jeweiligen kulturellen Vorlieben hin­weg. Und sie stellen sehr grundsätzliche Fragen an die Art wie die Eigentumsver­hältnisse in unserer Gesellschaft beschaffen sind. Die Kämpfe gegen Mietspekula­tionen sind auch immer mit der Frage verbunden: Wem gehört die Stadt? Wem gehört der Grund und Boden?

Hier werden ganz praktisch die Mouffe‘schen »Äquivalenzketten« geschmiedet. In strategischer Hinsicht haben sie das Potential die Frage nach nationaler Zuge­hörigkeit und Angst vor den »Fremden« durch soziale bzw. oben-unten Zuge­hö­rigkeitsgefühle zu überlagern. Wenn wir einer Alternative zum Rechtsblock zum Durchbruch verhelfen wollen, dann kommt es darauf an, genau diese konstruktive, verbindende Praxis zu vertiefen und so die Spaltungslinien, das Ausspielen der Entrechteten untereinander, der Deutschen gegen die Migranten, der Jungen gegen die Alten zu überwinden.

6.2. Den Politik- und Regierungswechsel vorbereiten

Um dem Rechtsruck entgegenzuwirken und die Unentschiedenen zu gewinnen, brauchen wir eine Aussicht auf wirkliche Verbesserung. Doch mit der jetzigen Regierung werden weder die Mieten bezahlbar, noch die Rente armutsfest oder der Niedriglohnsektor abgeschafft, geschweige denn der Klimawandel gestoppt oder die Fluchtursachen nachhaltig bekämpft. Deshalb sind alle fortschrittlichen Kräfte gefragt, Mehrheiten links der Union zu erkämpfen und eine andere Politik zur Durchsetzung zu bringen.

Solch ein grundlegender Politikwechsel muss organisatorisch und inhaltlich vorbereitet und diskursiv gerahmt werden. Er kann nicht einfach Ergebnis parteipolitischer Verhandlungen nach der Wahl sein, sondern braucht ein Fundament, eine Erzählung und Rückhalt in der Gesellschaft selbst.

Natürlich: Für niemanden wird dies ein Spaziergang. Der Weg wird auch innerhalb der jeweiligen Parteien umkämpft sein. Genau deshalb sollten wir jetzt die Zusammenarbeit für fortschrittliche Mehrheiten beginnen. Im Wissen um ihre Unterschiede müssen die verschiedenen Akteure von Gewerkschaften, Kirchen, Bewegungen und Zivilgesellschaft über DIE LINKE und die Grünen bis hin zur SPD in konstruktiver Absicht zusammenkommen.

6.3. Eine neue Ordnung beginnt nicht mit der Kapitulation

In ihrem »Plädoyer für einen linken Populismus« arbeitet Chantal Mouffe heraus, dass New Labour, also der von Tony Blair und Gerhard Schröder vertretene Dritte Weg der Sozialdemokratie, vor allem „eine Kapitulation vor dem Neoliberalismus« war.[3]

Magret Thatcher, die während ihrer Amtszeit dem Neoliberalismus zum Durchbruch verhalf und die Gewerkschaften nachhaltig schwächte, wurde in späteren Jahren nach ihrer größten Leistung gefragt. Ihre Antwort lautete: »Tony Blair und New Labour. Wir haben unsere Gegner zum Umdenken gezwungen.«[4]

Selbst als die Konservativen nicht mehr an der Regierung waren, waren Thatchers Leitsätze so dominant, dass sie den Kurs der britischen Sozialdemokratie ver­änderten. Die Sozialdemokratie von Blair und Schröder feierte den angeblichen »Konsens der Mitte« und setzte selber auf Privatisierung und Prekarisierung.

Damals war der Zeitgeist neoliberal. Seit 2015 haben nun die Problembe­schreibungen der Rechten und ihre Mär von angeblichen »Grenzöffnungen«, bloßer »moralischer Willkommenskultur«, »Denkverboten«, »Genderwahn« und ähnlichem den Boden für den Rechtsruck bereitet. Es sind jene Problem­beschreibungen, die sich im politischen Leben und der medialen Bericht­erstattung verallgemeinert haben und bis heute ein rechtslastiges »Umdenken« bei den Funktionseliten bewirken.

Wer nun wirklich eine »neue Ordnung« zur Durchsetzung bringen will, darf genau auf dieser Ebene nicht kapitulieren, im Gegenteil: Es gilt den Kampf um den Zeitgeist, um das, was als »Problem« gilt, um, das was unterschieden wird und um die Ideen offensiv aufzunehmen. In diesem Sinne ist für die Durchsetzung einer anderen Politik unerlässlich, dem aktuellen Rechtsruck schlichtweg die Stirn zu bieten.


[1] Dass diese Deutungsmuster von rechten Strategen langfristig vorbereitet wurden und nicht plötzlich als allgemein geteilte Artikulation vorhanden waren, zeigt u.a. folgende Dokumentation: http://www.3sat.de/page/?source=/dokumentationen/193786/index.html

[2] Vgl. bereits den Umschlag der demokratischen Revolution in Frankreich 1848 in den Bonapartismus, wie ihn Karl Marx im 18. Brumaire schildert.

[3] Mouffe: S. 44

[4] Mouffe: S. 43

Anlässlich der „Luxemburg lectures“ von Chantal Mouffe diskutiert Katja Kipping mit der Politologin und Autorin über linken Populismus: Mittwoch, 03.10.2018, SO36, 19:00 Uhr

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