von Lukas Fuhr, 30.6.16
Camerons Taktik war so banal wie fatal: Wenn ich nur lange genug auf Brüssel rumhacke, werden die Menschen in Großbritannien mir das schon anrechnen. Hätten sie auch. Ziemlich genau 52 Prozent, um genau zu sein. Nämlich dann, wenn Cameron selbst für den Austritt aus der EU geworben hätte. Das bisschen Emotion im Schlusssatz seiner Rücktrittsrede, das bisschen Es-muss-eben-sein-Wahlkampf konnte den Brexit nicht verhindern. Cameron hat sich verzockt und stürzte. Er hat solange auf die EU geschimpft, dass eine positive Erzählung, mit der man gemeinhin Wahlkämpfe gewinnen kann, keine Chance mehr hatte. Die Kampagne gegen den Austritt war keine Kampagne für Europa.
Der Brexit ist deshalb keine Überraschung, die erstaunte Überwältigung rechtfertigen könnte. Der Brexit ist das Ergebnis einer Negativerzählung, deren Meisterautoren aus Großbritannien kommen. Aber auch in anderen Ländern gibt es nicht nur schmuddelige Szene-Autoren und Self-Publisher der nationalen Überhöhung, sondern eben massenhaft Taschenbuch-Autoren, die zwar weniger gewitzt, weniger pointiert, weniger offensichtlich, dennoch genauso wirksam die EU bedrohen. Auch die großen deutschen Parteien haben solche Autoren in ihren Reihen. Und die Kanzlerin hat gerade das erste Kapitel geschrieben, das in die Anti-EU-Literatur eingehen könnte.
Einerseits gibt Merkel eine klare Linie vor: Keine britische (bzw. vielleicht auch bloß englisch-walisische) Rosinenpickerei, keine Gespräche, bevor die britische Regierung den Austrittswunsch nicht offiziell einreicht. Doch andererseits verdient sie sich gerade den Beinamen Cunctatrix, Zauderin, und anders als im Zweiten Punischen Krieg ist es alles andere als gewiss, dass Merkel mit ihrer Taktik Erfolg haben wird. Denn sie macht den Cameron-Fehler. Wenn es jetzt aus Berlin (und aus vielen anderen europäischen Hauptstädten) tönt, dass man die europäische Einigung faktisch bremsen will, dass neue Vertragsdiskussionen gemieden werden sollen, dann wird die EU weiter angezählt. Dieses Zögern und Zaudern gibt allen EU-Feinden Zeit, weiter zu polemisieren – gerne auch mit dreisten Lügen à la Johnson und Farage.
Der Nationalstaat wird immer als die einfache Antwort auf politische Fragen erscheinen. Jedenfalls bleibt er stets im Wortsinn naheliegender als ein gemeinsames Europa. Die Wähler müssen nicht mitgenommen werden, wenn man nirgendwo hin will. Wer nur den leichten Weg wählt – nationale Alleingänge einerseits, allenfalls noch Verteidigung des europäischen status quo andererseits –, verpasst es, Politik nach seiner Vorstellung zu machen. Wer sich zum Sklaven einer missgünstigen Masse macht, wer das Argument durch das Ressentiment ersetzt, wählt die Cameron-Taktik. Sie hat nicht funktioniert.
Wenn die Kanzlerin nicht Angela „Cunctatrix“ Cameron werden will, könnte sie die Chance nutzen, die so wohl nur der Brexit möglich gemacht hat. Cameron ist gescheitert, weil er eine Wahl angezettelt hat, die er nicht gewinnen konnte. In Deutschland und Frankreich könnte 2017 Ähnliches auf gegenteilige Weise passieren: Die EU-Befürworter könnten Wahlen, die sie nicht angezettelt haben, gewinnen. Ein Jahr sollte reichen, um den Wählern zu erklären, warum eine bessere EU eine souveränere EU wäre. Wenn das nicht gelingt, ist es nur demokratisch, dass auch wir die Exit-Frage stellen.
Europa, das könnte in solch einem Wahlkampf wieder ein im eigentlichen Sinn politisches Projekt sein. Eines, über das man redet. Streitet. Dessen Gestaltung man in Kompromissen aushandelt. Politik eben. Brüssel wäre dann nicht mehr die Chiffre für ein vermeintliches Bürokratie-Monster sondern für den Ort, an dem zögern verboten ist: Europa hätte dann eine politische Arena. Das wäre dann mehr Europa, selbst wenn sich die EU-Skeptiker durchsetzten.
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