von Till Westermayer, 30.9.13
Vielleicht bin ich einfach schon zu lange dabei in dieser Partei, vielleicht ist das der Grund, warum ich das derzeit stattfindende innerparteiliche Ringen um die Deutungsmacht nach der Wahlniederlage nicht besonders beeindruckend finde. Wir streiten über den richtigen Kurs, das tun wir als Partei, das tun wir gemeinsam – und wir tun es nicht zum ersten Mal. Und es wird, da bin ich mir sicher, nicht mit dem Durchmarsch des einen oder des anderen Flügels enden, sondern mit einer neuen Selbstgewissheit grüner Eigenständigkeit.
Eingeständnisse und Eigenständigkeit
Auch der vorgestern stattgefundene Länderrat zum Wahlausgang, an dem ich als Delegierter für Baden-Württemberg teilgenommen habe, ändert nichts an dieser Bewertung. Nein, er bestärkt mich sogar in dieser Auffassung. Klar: Es gab die großen Schaufensterreden, in denen nicht nur für den einen oder anderen Kurs geworben, sondern auch versucht wurde, die Schuld für die Wahlniederlage möglichst auf der anderen Seite des innerparteilichen Spektrums abzuladen. Einige Reden lassen sich richtig schön als Musterbeispiel dafür hernehmen, wie versucht wird, nachträglich ein neues Narrativ über die Tatsachen zu stülpen, bei dem dann die »andere Seite« schlechter als vorher dasteht.
Wenn wir bei den Fakten bleiben, dann wurde das Programm von einer Bundesdelegiertenkonferenz mit großer Mehrheit beschlossen (war es nicht sogar nahezu einstimmig?). Das heißt jetzt nicht, dass alle Delegierten des Parteitags damals das Programm auch von vorne bis hinten gelesen haben. Und es stimmt, dass die große Zahl übernommener Änderungsanträge dazu geführt hat, dass an einigen Stellen nachher Dinge im Programm standen, die vorher nicht dringestanden haben.
Es stimmt allerdings auch, dass es bereits 2011 in Kiel kritische Worte zum Steuerkurs gegeben hat, und dass es wiederum auf der Programm-BDK Kritik daran gab. Die steuerpolitischen Ideen wurden trotzdem beschlossen, und sind gültiges Programm.
Es gibt den lauten und sehr vernehmlichen Ruf, jetzt wieder zu zentralen Werten der Partei zurückzukehren. Das Primat der Ökologie hat auf dem Länderrat, egal von wem es angesprochen wurde, immer Beifall bekommen. Und klar ist auch: wir sind und waren nie eine nur ökologische Partei, sondern immer eine, die Ökologie mit sozialer Gerechtigkeit – auch im globalen Kontext – verbunden hat. Manche nennen das Nachhaltigkeit. Und wir sind und waren immer eine Partei mit einer starken libertären Strömung jenseits der Flügelzuordnung. Insofern stehen wir gut da, wenn es darum geht, das bürgerrechtliche Profil und den grünen Freiheitsbezug in Zukunft zu stärken und stärker herauszustellen. Auch hierfür gab es auf dem Länderrat immer wieder großen Applaus.
Paradoxerweise sind all das – die Ökologie, der Nachhaltigkeitsgedanke, die emanzipatorische, libertäre Position – Themen, die sich in den dreihundertirgendwas Seiten unseres Wahlprogramms ausführlich finden. Nur: Wer hat das da gelesen? Wer hat diese Themen in Talkshows angesprochen? Wer hat sie plakatiert?
Insofern gebe ich all denen Recht, die jetzt sagen, dass nicht das Programm falsch war, sondern die Kommunikation darüber. Das ist zunächst einmal eine beliebte Ausrede – der Wähler, die Wählerin hat einfach nicht verstanden, was wir wollten. Aber es ist mehr als diese Ausrede: Wir haben es in diesem Wahlkampf nicht geschafft, die Punkte rüberzubringen, die uns Grüne ausmachen. Nicht, weil wir sie nicht kennen würden, sondern weil wir dachten, die seien eh klar. Und es sei jetzt wichtiger, finanzpolitische Kompetenz, Steuerehrlichkeit und ein Stück weit auch ein gestärktes sozialpolitisches Moment in den Vordergrund zu stellen.
Darüber wurde die große Erzählung vergessen. Das ist keine, die wir neu erfinden müssten, aber eine, die wir als Rahmen brauchen, um all die anderen Puzzlesteine einzuordnen. Der Kampf für eine bessere Zukunft – das hat in den Talkshows und Presseberichten niemand interessiert. Wir hatten im Übrigen – jenseits der Frage von Gestaltungsoptionen – auch kein großes Wahlversprechen, kein »das machen wir auf jeden Fall«, wie es 2009 der neue grüne Gesellschaftsvertrag war.
Das Wesentliche ist in diesem Wahlkampf untergegangen.
Aber es ist nicht deswegen untergegangen, weil wir ein ehrliches, durchgerechnetes Wahlprogramm hatten. Es ist nicht untergegangen, weil wir die falschen Forderungen hatten. Es ist erst recht nicht deswegen untergegangen, weil die Bundespartei zu links war, oder weil es in Baden-Württemberg unpopuläre Maßnahmen während der Wahlkampfzeit gab. Beides mag zu Stimmverlusten geführt haben, aber beides erklärt nicht den Absturz, den wir erlebt haben.
Es gab harte Kampagnen gegen uns – ich kann mich jedenfalls nicht erinnern, dass es jemals zuvor einen so dreckigen Wahlkampf gegen Grün gegeben hat. Diese Kampagnen haben uns auf dem falschen Fuß erwischt. Dass wir darauf nicht vorbereitet waren, war unser Fehler – und dass wir kein Narrativ, kein übergeordnetes Ziel, keine große Botschaft hatten, die wir der Negativkampagne entgegensetzen konnten, war ebenfalls unser Fehler. (Das gleiche gilt für den Versuch, nicht die eigenen Inhalte herauszustellen, sondern die Fehler der Regierung zu betonen – die Motive dieser Negativkampagne unsererseits waren zwar teilweise amüsant, aber trafen nicht die Stimmungslage.)
Waren diese Kampagnen gegen uns »Klassenkampf«? Es gab in diesem Wahlkampf Lobbys, die sehr aktiv in den Wahlkampf eingegriffen haben. Die Warnung privater Versicherungen an ihre Versicherten, auf keinen Fall für die Bürgerversicherung zu stimmen. Oder eine BILD kurz vor der Wahl, die an alle Haushalte verteilt wurde und dabei gewohnt unabhängig und überparteilich agiert hat. Die Pädophilie- und die Veggieday-Kampagne haben gezündet und bei den Leuten Ekel bzw. Angst vor Bevormundung verbreitet. Unsere eigenen, zum Teil hinter einem Wust an Zahlen und Behauptungen über diese Zahlen versteckten Botschaften kamen nicht an. Aber war das Klassenkampf, eine Frontstellung BDI gegen Grün? Und welche Bündnisse hatten wir, wenn es denn so gewesen sein sollte, dem entgegenzusetzen?
Ich finde es richtig, dass wir uns jetzt auf unsere Eigenständigkeit besinnen. Nicht als Chiffre für Schwarz-Grün, sondern als Orientierung der Partei Bündnis 90/Die Grünen zuallererst an unseren eigenen Zielen. Wenn die ausformuliert werden, gibt es starke inhaltliche Übereinstimmungen mit der LINKEN, aber die Prioritäten liegen natürlich ganz anders. Da gibt es zum Teil Übereinstimmungen mit der SPD – wobei das die Partei ist, die zunächst über die Zahl der Ministerposten und dann über Inhalte redet.
Und natürlich gibt es auch Übereinstimmungen mit der CDU, empirisch betrachtet ist diese Schnittmenge klein. Das hat etwas damit zu tun, dass wir die Welt retten wollen. Aber diese Übereinstimmungen sollten uns jetzt nicht zu dem Fehlschluss verleiten, dass grüne Ziele einzig und allein in einem rot-grün-roten Bündnis oder gar nur in einem rot-grünen Projekt erreicht werden können. (Das betrifft jetzt gar nicht so sehr 2013, sondern geht eigentlich schon in Richtung 2017 und die Frage, wie wir uns da positionieren können.)
Um uns unserer gemeinsamen grünen Ziele zu vergewissern, brauchen wir kein neues Grundsatzprogramm und keinen Korrekturbeschluss zum Programm. Aber wir brauchen eine Rückbesinnung. Manche sprechen vom Kern, oder von den Wurzeln, auf die wir uns besinnen sollten. Ich glaube, dass es eigentlich eher ein übergreifender Schirm ist, das gemeinsame Dach.
Innerparteiliche Vielfalt als Stärke begreifen
Und damit bin ich bei den Flügeln. Die sind in ihrer Prominenz das hervorstechendste Symptom dafür, dass wir unterhalb dieses gemeinsamen Daches immer noch eine sehr heterogene Partei sind, ein Bündnis unterschiedlicher Interessen und Profile. Das betrifft nicht nur die Flügel – vielleicht sogar weniger, als manche das glauben.
Wir haben starke Landesverbände mit eigenständigen Profilen; in den großen Landesverbänden gilt das auch für regionale Zusammenhänge. Insofern ist die Idee richtig (wenn auch revolutionär), eine Strukturkommission einzurichten, die dafür sorgen soll, die Landesverbände und insbesondere die grün (mit)-regierten Länder stärker in die Diskussions- und Entscheidungsprozesse der Bundespartei einzubeziehen. Hier im Süden ist »Berlin« ein Schimpfwort – das muss nicht so bleiben.
Wir haben Menschen mit sehr unterschiedlichen inhaltlichen Schwerpunkten, die sich in der Partei zusammenfinden, unter dem Dach von Nachhaltigkeit inkl. sozialer Gerechtigkeit und einem emanzipatorischen, libertären Menschenbild. Kein grünes Mitglied wird mit allen Programmpunkten übereinstimmen. Diese Vielfalt müssen wir aushalten und produktiv nutzen. Das gelingt nur, wenn wir pragmatisch mit Dissens umgehen, und wenn wir zugleich die parteiinterne Meinungsbildung stärken, um hier Dominanzen zu verhindern.
Das bedeutet auch, dass sich in den unterschiedlichen grünen Weltsichten an dem einen oder anderen Punkt möglicherweise auch Themen und Meinungen durchsetzen, die zum Beispiel mir nicht gefallen. Das gehört dazu. Die Hoffnung mancher, mit einer »gereinigten«, auf bestimmte Haltungen reduzierten Partei neue Wählerschichten zu erschließen – nach links oder, häufiger, nach rechts, hin zur neuen alten oberen »Mitte«, – halte ich für eine Illusion. Die ÖDP, Ökolinx oder die Grünliberalen in der Schweiz sind empirische Beispiele für Abspaltungen, die sich aus derartigen »Reinigungsprozessen« ergeben haben. Große Erfolge sehe ich nicht. (Die thematische Vielfalt ist dabei nicht deckungsgleich mit der Flügelfrage – Netzpolitik ist dafür ein ebenso gutes Beispiel wie der Konflikt Naturschutz vs. Erneuerbare.)
Es gibt möglicherweise gewisse Generationenkonflikte, die sich gar nicht so sehr an der Grünen Jugend festmachen, sondern eher an der »Generation Trittin« der Mitfünfziger, die über lange Jahre hinweg das Profil von Bündnis 90/Die Grünen geprägt hat. Die Rückzüge der letzten Tage sind auch deswegen ein Aufbruchssignal, weil die Dominanz dieser Generation damit endet.
Regionale, inhaltliche, auf das Lebensalter bezogene Differenzen (und ja, die Geschlechterdifferenz gibt es auch noch) – reicht das nicht aus als Vielfaltsgeneratoren in dieser Partei? Wozu dann noch Flügel?
Es gibt ein aus meiner Sicht romantisch-naives Bild von Flügeln. Als »Think tanks«, als geschützte Denkorte der Partei, an denen neue Konzepte entwickelt und in die Partei eingespeist werden. Die jährlichen Treffen von grün.links.denken mögen in diese Richtung gehen. Die Funktion, die Flügel in der Partei einnehmen (und die ähnlich auch noch von einigen anderen Formen der Vernetzung erfüllt wird), ist aber, meine ich jedenfalls, in erster Linie eine ganz andere: Sie stellen Vorsortiermechanismen dar, um thematische und personelle Durchsetzungschancen zu erhöhen.
Wer in einem Flügel organisiert ist – und ich vermute, dass das maximal eher für ein Drittel als für die Hälfte der Mitglieder der Partei zutrifft –, hat, wenn dieser Flügel überzeugt wurde, deutlich größere Chancen, sein oder ihr Thema oder sich selbst auf einem Parteitag durchzusetzen – weil es einen größeren Block von Stimmen gibt, der auf das Thema oder die Person vereint wird, weil es möglicherweise flügelübergreifende Absprachen gibt, und weil »flügelinterne« Konkurrenzen im Vorfeld entschieden werden.
Den Delegierten der Partei – auch hier gehe ich davon aus, dass beide Flügel zusammen keine Mehrheit der Delegierten stellen – bietet sich damit eine vorsortierte Abstimmungsgrundlage. Häufig geht das, im Zusammenspiel von flügelinternen und flügelübergreifenden Absprachen, so weit, dass nur noch eine aussichtsreiche Person für ein Amt kandidiert, oder dass thematische Entscheidungen auf zwei Alternativen (oder auf einen Kompromiss) zusammengedampft wurden.
Diese Funktion von Flügeln ist hilfreich, weil sie Entscheidungen vereinfacht – und so lange ihre Organisationskraft begrenzt ist, aus meiner Sicht auch nicht schädlich für eine Partei. Anders sieht es aus, wenn ein Flügel so dominant ist, dass andere Positionen oder Personen überhaupt keine Chance mehr haben. Diese Situation gab es in Baden-Württemberg in den 1990er-Jahren. Im Vergleich dazu wirken die heutigen Flügelkämpfe zwar möglicherweise noch lästig, aber nicht mehr existenziell bedrohlich.
Anders gesagt: Auch für die Macht der Flügel in der Partei gilt das Kretschmann-Wort vom Maßhalten. Eine vielfältige und vitale Partei kommt mit Flügeln klar, solange deren Wirken begrenzt ist.
Warum dann nicht einfach die Flügel abschaffen? Ich halte das für ein extrem unwahrscheinliches Ereignis. Erstens existieren die Flügel, die wir heute kennen. Beide haben Wandlungsprozesse durchlaufen, es gibt interne Spaltungen (Subsystembildungen der Partei in der Partei in der Partei?) und Positionsverschiebungen. Aber beide sind organisationsstark und binden nennenswerte Teil der FunktionärInnen der Partei ein. Wer sie abschaffen will, stellt sich gegen ein ziemlich großes Bündel an Macht.
Dann gibt es zweitens historisch durchaus Erfahrungen damit, dass ein Flügel so dominant wird, dass der andere die Exit-Option wählt und die Partei verlässt. Das ist mit größeren Teilen des damaligen »Fundi-Flügels« in den 1990er-Jahren passiert – übrig geblieben sind innerparteiliche Basis- und Regierungslinke, deren größere Teilmenge heute unter dem Etikett grün.links.denken in der Partei agiert. Aus dem Stumpf des abgeschlagenen wächst ein neuer Flügel.
Oder, wie schon genannt, das Beispiel Baden-Württemberg – hier gab es nach Jahren der gefühlten absoluten Realodominanz das Bedürfnis sehr unterschiedlich links verorteter Einzelpersonen, sich zu organisieren und so »die Partei nicht den Realos zu überlassen«. (Das dass gelingt, hat auch etwas damit zu tun, dass wir nach wie vor Wahlverfahren haben, die einen gewissen Schutz vor dem »Durchmarsch« einer Seite bieten …)
Und drittens: Selbst wenn per Zauberei beide Flügel verschwänden und sich niemand mehr daran erinnern würde, dass es sie je gab, würde sich doch ziemlich schnell eine Fraktionsbildung nach dem Motto »als Einzelner bist du allein, zusammen sind wir stärker« ereignen. Ob das nach einem Rechts-Links-Schema, nach programmatischer Reinheit einerseits und pragmatischer Realpolitik andererseits erfolgt, oder anhand ganz anderer Fragen – in relativ kurzer Zeit würde es, wage ich die sozialwissenschaftliche Prophezeihung, wieder Cliquen, Zirkel und Flügel geben.
Insofern kann ich zwar nachvollziehen, wenn immer wieder darüber geklagt wird, dass die Flügel sich unmöglich benehmen (und dagegen lässt sich ja auch was tun), halte es aber für unwahrscheinlich, dass wir eines Tages in einer Partei ohne Flügel aufwachen. Auch diese Vorsortiersysteme gehören damit zur zu akzeptierenden Vielfalt der Partei, mit der umzugehen zum grünen Alltagsgeschäft dazugehört.
Mein Plädoyer
Mein Plädoyer: Lasst uns als Partei gemeinsam lernen. Dazu gehören Strukturveränderungen. Dazu gehört die erneute Besinnung auf grüne Dachinhalte. Dazu gehört eine über das Dulden in einem gemeinsamen Haus hinausgehende Akzeptanz der innerparteilichen Vielfalt, auch im produktiven Streit. Und dazu gehört, dass wir die diesmal gemachten wahlkampfstrategischen Fehler in Erinnerung behalten, wenn der nächste Wahlkampf ansteht – die Europawahl im Mai 2014 ist hier, auch wenn einige Weichen sicherlich schon gestellt sind, der Testfall für Erneuerung in der Wahlkampfstrategie.
Warum blogge ich das? Als eine Art Rückblick auf den Länderrat 2013.3 in Berlin.
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