von Klaus Vater, 8.11.16
Mögen Sie Zeitreisen?
Kommt drauf an, sagen Sie.
Auf was, frage ich.
Sie lächeln wissend: Vor vielen Jahren hat Rod Taylor, der australische Schauspieler mit dem markant maskulinen Gesicht, die Hauptrolle in der Verfilmung von H.G. Wells „Zeitmaschine“ gespielt. Der Film war damals das, was man heute in unschöner Anlehnung an mauerbrechende Bomben einen „Blockbuster“ nennt. Das war eine Zeitreise!
Na gut. In meiner Zeitreise spielt der vergangenes Jahr verstorbene Aussie nicht die Hauptrolle. Meine Zeitreise dreht sich um Arbeit und Rente, um ein behindertes Kind (davon gibt es 130 000 in Deutschland – im Alter bis 15 Jahre). Es geht um einen Studienabbruch – davon gibt es geschätzte 70000 pro Jahr -, um Existenzgründung (rund 170 000 Frauen gründen jährlich ein Unternehmen), um Liebe, Verantwortung und den Staat. Nicht interessiert? Schade. Dann lese ich meine Geschichte unserer Katze vor, die hat eben gefressen und guckt nun neugierig.
1. Kapitelchen
Heute hat Denise Meyers ihr zweites Kind geboren. Es ist gesund und munter, Ole soll es heißen – wie der Vater. Ihr erstgeborenes Kind heißt Gloria Nena, es ist vier Jahre alt.
Ole und Denise lieben ihre ältere Tochter über alles. Sie tun alles für sie, alle Möglichkeiten und Hilfen, die vierjährige Erdenbürgerin zu schützen, zu fördern und zu stärken, werden in Anspruch genommen. Denn Gloria Nena weist ein Handikap auf, ihr Köpfchen lässt sich nicht auf Leistung trimmen, wie das bei anderen Kindern der Fall ist. Glorias Fantasie verbiegt die Zahlen. Besonders die Bögen der Zahl acht. Buchstaben verwirren Gloria. Das große T drückt nieder, das kleine s läuft weg und in das große Y fällt man hinein. Gloria Nena ist ganz weit weg, während andere auf dem Alphabet spielen.
Das würde aber sehr schwierig, hat man Denise und Ole mit hochgezogenen Brauen und Blick auf die Aufgaben in Kita und später auf der Schule erklärt. Und weil die Großen so ernst da stehen, während diese Worte fallen, kringelt sich Gloria vor Lachen, so dass die Herzen der Eltern warm werden. Sie wird sich nie wie andere Heranwachsende in späteren Jahren auf dem sogenannten „ersten Arbeitsmarkt“ im Wettbewerb um Leistung durchsetzen können. Sie muss ihr Leben lang auf ihre Weise kämpfen, damit sie auf ihre Weise arbeiten, sich freuen und respektiert werden kann, sie benötigt, um überleben zu können, lebenslang Unterstützung; bis ins hohe Alter und bis sie stirbt.
Denise wurde 1984 geboren, sie ist jetzt 32 Jahre alt. Vom Großvater wusste sie, das man früher „kleben“ sagte, wenn jemand Rentenbeiträge zahlte; und das es „stempeln gehen“ hieß, wenn jemand seine Arbeit verloren und keine neue gefunden hatte. „Schaffen gehen“, sagte ihr Großvater, wenn er über seine Arbeit sprach. Manchmal sagte ihr Opa „wo gehobelt wird, fallen auch Späne“; Großmutter mochte diese Worte nicht, bevorzugte hingegen den Spruch: „Immer wenn du denkst, es geht nicht mehr, kommt von irgendwo ein Lichtlein her“.
All diese Worte und Sprüche waren passé, im Laufe der Zeit verloren gegangen wie Cent-Stücke, die davonrollen, um in irgendwelchen Ritzen zu verschwinden. Neue Worte, die allgemein gebraucht wurden, etwa als Ersatz für das Stempelngehen oder ein Lichtlein aus dem Nirgendwo, gab es nicht. Allgemeines hatte sich aufgelöst, war weg, so wie das Verständnis für Abstraktes in Glorias Kopf. Manche „hartzten“, manche „riesterten“, das war’s aber auch schon.
Denise ist an einer Company beteiligt, die sie mit anderen Frauen zusammen gegründet hat. Es werden spezielle Stoffe gesucht, gekauft, zugeschnitten und zu durchaus gefragter Frauen-Oberbekleidung verarbeitet. Sie hat Design studiert. Sie ist Teil der Berliner Kreativwirtschaft. Besetzt eine Nische im Geschäft mit Kleidern. Ein richtiger Vollzeitjob. Denises Company wirft für jede Beteiligte im Schnitt gut 20 000 Euro im Jahr ab. Sie ist nicht rentenversichert, steckt hingegen Geld in zwei Lebensversicherungen, die so viel abwerfen sollen, dass es später mal am Lebensabend reicht.
Ihr Mann Ole ist 27 Jahre alt, er kam im Jahr der deutschen Einheit auf die Welt. Auf dem Prenzlauer Berg hatte er ein Zimmer in einer WG bewohnt. Wenn Denise verliebt zu ihm auf den Prenzelberg fuhr, zum Sohn einer wirtschaftlich erfolgreichen westdeutschen Apothekerfamilie, sagte sie sich spöttisch: Ich fahre nach Dinkeldeutschland.
Ole war gut. Er hatte seiner entstehenden kleinen Familie zu Liebe sein Studium vorerst (wie er sagt) an den Nagel gehängt. Hatte sich bei der Bahn beworben. Er fuhr eine S Bahn, kürzlich stieg er auf einen BVG Bus um, das brachte statt 2500 brutto inklusive Zulagen 2800 Euro brutto. Die beiden wohnten in der Nähe des Marheineke-Platzes in Berlin Kreuzberg. Dort wollten sie bleiben, glücklich sein und alt werden. Sie wohnen nicht billig, aber 900 € Miete alles in allem schaffen sie. Das ist die Situation der Meyers 2016.
2. Kapitelchen
Bis 2060 – also auf die nächsten 43 Jahre hinaus gesehen, wollen die Rentenfachleute der Regierung vorausdenken und vorausplanen. Denise würde dann 76 Jahre alt sein, Ole 71, Ole II 43 und Gloria 47 Jahre.
Würden sie sich etwa 2055 zu einer Geburtstagsfeier treffen, kämen unter Umständen vier Lebenszeiten zusammen, populär geschrieben „vier Generationen“: Die Lebenszeit der Kinder von Ole II, die wahrscheinlich noch zur Schule gehen. Dann die Lebenszeit der arbeitenden Eltern dieser Kinder, also Ole II und seine Frau, und die Glorias, die, wenn auch vielleicht behütet, ebenfalls arbeitet. Dann käme die Lebenszeit Oles, also von Ole I, der bei noch guter Gesundheit auf die Rente zumarschiert. Und schließlich die Lebenszeit der Denise, die sich der Greisen- beziehungsweise der Greisinnen-Zeit nähert. Vier Lebenszeiten, vom Schulkind bis zur Rentnerin, feiern einen Geburtstag.
Über die Meyers 2016 wissen wir ein wenig. Über die Meyers im Jahr 2060 wissen wir nichts. Zwischen 2016 und 2060 liegen Jahre, während derer recht kopfstarke Jahrgänge in Rente gehen. Die Zahl der Geburten hat mit der Massenbewegung in die Rente aber nicht Schritt gehalten. Außerdem leben die Menschen länger, die Beiträge der Arbeitenden müssen längere Lebenszeiten finanzieren. „Altersarmut wächst“, lesen die Meyers, oder „Beiträge explodieren“.
Weder Denise noch Ole hörten genau hin, wenn die öffentlich-rechtlichen Sender morgens in kurzen Stücken über die Rente berichteten. In diesen Berichten schrillte ununterbrochen die Sirene. Und wenn die Sirene nach zwei Minuten abgestellt wurde, war man so schlau wie zuvor. Denise hatte einen anderen Blick. Sie wusste aus eigener Erfahrung als Geschäftsfrau, dass man immer nur das ausgeben konnte, was sie in der Company im Laufe eines Wirtschaftsjahres angesammelt hatten. Das galt auch für die Rente.
Ole rechnete Denise vor: Wenn ein Jahrgang um 80 000 Geburten geringer ausfällt als der vorherige, dann fehlen 80 000 Kinder, folglich später 40 000 Frauen, die Mütter werden könnten. In den darauf folgenden Generationen wirke sich das aus. In der dritten Generation habe sich die Frauen- Lücke – bei einer angenommenen Geburtenrate von 1,5 Geburten – von 40 000 auf 80 000 verdoppelt. Denise schaute ihn zweifelnd an. Mein lieber Ole! Und wenn 300 Mainstream-Frauen aus Film, Fernsehen und was-weiß- ich- noch überraschend beschlössen, entgegnete sie, dass drei und vier Kinder zu haben ganz toll sei, steigt die Geburtenrate plötzlich steil an. Längerfristig gesehen seien solche Szenarien nicht besonders schlau angelegt, meinte sie. Überleg mal, sagte sie. Deine S-Bahnen fahren mittlerweile ohne Fahrer. Die meisten Straßenbahnen auch. Die Busse werden folgen. Die Bahnen fahren führerlos öfter als früher. Wir stellen mit einem Drittel der Frauen in der Company mehr als das Doppelte im Vergleich zur Gründungszeit her. Wir steigern die Leistung. Das gibt Spielraum für Renten und anderes. Dafür hing mir manchmal die Zunge aus dem Halse raus, weil so aufs Tempo gedrückt wurde.
Ole gab sich so rasch nicht geschlagen. Stimmt. Aber anderes geht’s nicht. Denise nahm ihre Jacke. Komm, lass uns Gloria abholen. Und zusammen etwas essen gehen. Am besten zum Vietnamesen. Das Essen liebt sie so.
3. Kapitelchen
Man rechnete jedenfalls und plante seitens Parlament und Regierung. Denise hatte zwar Recht; aber die Entwicklung der Renten an die Launenhaftigkeit einer Gruppe zu koppeln, das ging gar nicht.
Für die Meyers wurde mitgeplant. Ob sie das wollten oder sich vorstellen konnten oder nicht, spielte keine Rolle. Ole hatte sich ausrechnen lassen, dass er 2060 weit über 3000 Eurofranken Rente sowie weit mehr als 1000 Eurofranken aus seiner Zusatzversorgung erhalten würde. Dabei war der der Weg aus der Gegenwart in die Zukunft für ihn nicht einfach gewesen. Er hatte bis zum 44sten Lebensjahr auf dem Bock gesessen. Bis sein Rücken die Stöße von Pflaster und Bruchstellen auf der Straße einfach nicht mehr ertrug, sondern nur noch mit Schmerz antwortete. Lange hatte es gedauert, bis man für ihn etwas gefunden hatte. Er wechselte über in die Verkehrsüberwachung, nachdem seine Qualifikation rundum erneuert worden war. Da arbeitete er hoch und trocken, aber einfach war das nicht – wegen der sich ständig erneuernden Technologie und der sich fortwährend ändernden Strukturen. Das merkte er so richtig, als er über die 50 hinaus war. Aber da er sich gut vernetzt hatte, aktiv im Betriebsrat war, wurde er mit seiner eigenen Zustimmung umgesetzt. Er nahm nun reparierte und überholte Wagen ab, stand mit seiner Unterschrift dafür ein, dass sie wieder in Schuss waren. Das hat er bis zum 61. Lebensjahr in Vollzeit getan, danach bis zum Erreichen der Altersgrenze von 67 in Teilzeit.
Die Company war zwischenzeitlich einmal in Konkurs gegangen, die BVG natürlich nicht. Es hatte Denise fast das Herz gebrochen, durch die Räume des Unternehmens gehen zu müssen, die nun mit all ihren Einrichtungen totenstill da lagen. Ole II, wirtschaftlich rasch erfolgreich, hatte für die Mama gebürgt. Er arbeitet mit seinen 43 Jahren längst in Kanada, wo er erfolgreich ein tüchtiges Management eines florierenden Unternehmens betrieb. Ole II arbeitet ausdauernd und zugleich umsichtig. Er ist verheiratet, hat drei Kinder. Denise war nach der Rettung durch den Sohn durch die Welt gereist, um neue Stoffe ausfindig zu machen, hatte die Company neu gegründet. Die lief wieder.
Von all den gesponnenen Dingen, die in dieser Geschichte stehen, ist der folgende Teil – wie ich finde – der wahrhaftigste: Ole II hatte seine Schwester Gloria stets vermisst. Daher hat er sie für längere Zeit nach Kanada geholt. Dort hatte sie munter in einer Kantine ausgeholfen. Ole liebt seine Schwester. Später war sie wieder zurückgereist, zusammen mit Mama und Papa, die sie abgeholt hatten. Das Intermezzo war möglich, weil es in Deutschland keine Probleme mit Bürokratie und Anträgen und Angaben gab, Gloria wieder in ihren gewohnten Lebensrhythmus zu bringen.
Gloria Nena wäre 2060 schon 48 Jahre alt, sie hätte 30 Jahre lang fleißig und zuverlässig gearbeitet. Nach dem 18. Lebensjahr hätte sie Geld aus der sozialen Grundsicherung erhalten. Das würde lebenslang so sein. Seit langem dachten die älter werdenden Eltern darüber nach, was aus ihrer Tochter werden würde, wenn sie beide nicht mehr unter den Lebenden weilen würden.
Denise und Ole I waren zusammen geblieben, sie hatten den Stürmen ihres Lebens getrotzt; auch der Tochter wegen. Die beiden hatten lernen müssen, mit Verantwortung etwas besser umzugehen als andere.
4. Kapitelchen
Die Meyers haben mich eingeladen. Auf einen Kaffee in ihre Wohnung am Marheinike Platz. Ja, den Platz gibt es immer noch. Auch den Markt in der Halle mit seinen verlockenden Angeboten. Die Hammett-Krimibuchhandlung um die Ecke hat ebenfalls durchgehalten, seit 75 Jahren gibt es die. Getreu der Devise: Geschossen und gestochen, vergiftet und ins Wasser gestoßen wird immer noch; und darüber geschrieben erst recht.
Oft ist die fiktive Denise in meinem Kopf herum spaziert. Ich habe mich gefragt, was sie sich noch vom Leben erhoffe.
Als wir da sitzen, erklärt sie: Jetzt erfülle ich Ihnen den Wunsch und sage ihnen, was ich mir noch erhoffe. Also, es ist so: Gloria bekommt seit dem 18. Lebensjahr soziale Grundsicherung. Das ist eine gute Sache. Aber später, wenn wir nicht mehr da sind? Die Grundsicherung im Alter wird nicht reichen, damit sie bequem leben kann. Ich bete manchmal, dass der Gesetzgeber da etwas tut.
Was meinen Sie damit?
Es wäre wunderbar, wenn wir für Gloria auf deren Namen einen Sparplan einrichten könnten, dessen Kapital unserer Tochter helfen würde, später bequem zu leben. Jetzt läuft der Sparplan auf Ole, unseren Sohn, der später Gloria peu à peu Geld zur Verfügung stellen wird. Denn wenn wir das auf ihren Namen getan hätten, dann würde dieses Geld auf die Grundsicherung angerechnet. Daher gehen wir den Umweg über unseren Sohn, was ja eigentlich ausgemachter Blödsinn ist. Und wenn sie nach 2016 zurückkehren, hätten sie doch die Möglichkeit, in Parlament und Regierung für meine Idee zu werben! Sie sollten also dafür werben, dass die eigene Vorsorge für das Alter nicht auf die Grundsicherung angerechnet wird. Verstehen sie das?
Ja, das habe ich verstanden. Denise bewegt sich ein wenig wackelig durch die Wohnung. Oles Blicke folgen ihr besorgt.
Was würden Sie tun, Ole, wenn Sie Sozialminister wären, fragte ich.
Ich bin 56 in Rente gegangen, mit gut 40 Beitragsjahren. Da kommt schon was zusammen.
Zufrieden, fragte ich.
Man müsste schon was machen, überlegt er laut, während seine Frau in einem Nebenzimmer herum kramt.
Was suchst du?, ruft er. Es folgt eine undeutliche Antwort. Ole denkt nach.
Überlegen Sie mal, wenn man sich heute richtig ins Zeug legt, ist man meist schon an die dreißig. Ab dann musst du ranklotzen wie der Teufel. Wer 35 Jahre lang Vollzeit gearbeitet hat, der sollte im Alter von seinen Beitragspunkten in Eurofranken gut leben können. Das wär mein Wunsch. Könnten sie auch wegen meines Wunsches etwas tun, wenn sie wieder bei Merkel und Nahles gelandet sind? Wie gesagt: 35 Jahre sind genug!
Nach dem Kaffeetrinken verlasse ich die von mir geschaffenen Eheleute. Als ich aus dem Haus trete, wird Gloria gebracht. Sie grinst mich an, ich grinse zurück. Sie betrachtet mich. Ganz schön achtig, sagt sie höflich.
Achtig? Du meinst artig, fragt ich.
Nein, ich sagte achtig. Ach—tig!
Sie sieht, dass mir die Notizen mit den Meyerschen Rentenplänen aus der Jackentasche lugen. Was ist das? Ich erwidere: Geheim! Und dann sause ich die Straße entlang, denke darüber nach, was ach-tig bedeuten könne.
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