von Wolfgang Michal, 26.9.13
Ein Tweet von Frank Schirrmacher (geschrieben vor 9 Monaten!) brachte es auf den Punkt:
„Die einen stürzen von 14% auf 4% und regieren, die anderen stürzen von 14% auf 4% und resignieren.“
Gemeint waren die beiden ‚großen’ liberalen Parteien, die FDP und die Piraten, die nahezu gleichzeitig in den Umfragen verloren und einen grandiosen Absturz von 28 auf 8 Prozent hinlegten. Doch das war vor der Niedersachsenwahl, also vor dem 20. Januar 2013.
Und nun? Ist jetzt alles anders? Nein, es ist alles noch ein wenig schlimmer geworden.
Die Unfähigkeit zu innerer Solidität und Solidarität, die mentale Krise der Mittelschichten und die weitgehend ungeklärte Haltung zum europäischen Prozess lassen die deutschen Liberalen zu labilen Funktionsparteien herabsinken: Mal werden sie gebraucht, mal nicht, mal bläst man sie auf wie Luftballons (14,6 Prozent 2009!), mal zerlegen sie sich in irrelevante Splitter-Grüppchen. Ihre Führungsfiguren wirken unstet und ratlos.
Die Bundestagswahl hat gezeigt: Die organisierten Liberalen zerfallen in identitätslose, führungsschwache Rösler- oder Schlömer-Parteien und in zahllose Wutbürgervereinigungen – von der Libertären Partei der Vernunft über die Freien Wähler und die Freiheitlichen bis zu den verschiedenen Achsen des Guten. Als Randerscheinungen und Abspaltungen bilden sie oft ein Konglomerat aus Klimaskeptikern, Steuerfeinden, Sozialstaatsverächtern und Weltverschwörern.
Warum ist das so?
Dem organisierten Liberalismus in Deutschland fehlt noch immer ein stabiles Rückgrat. Sobald politischer oder wirtschaftlicher Druck ausgeübt wird, verbiegt sich dieses Rückgrat, zersplittert und zerfällt in tausend Stücke. Und dennoch überdauert die Sehnsucht nach politischer Liberalität die organisierte Unfähigkeit der Liberalen nahezu ungebrochen.
Der fatale Hang zur Spaltung. Ein Rückblick
— Nach dem Entstehen des deutschen Liberalismus, der zwischen Wartburgfest und Paulskirche seine wohl aufregendste Zeit hatte, gründete sich 1861 die Deutsche Fortschrittspartei. Sie war die erste Programmpartei überhaupt, denn sie konstituierte sich noch vor Ferdinand Lassalles „Allgemeinem Deutschen Arbeiterverein“.
Die Deutsche Fortschrittspartei stand in klarer Opposition zu Bismarcks antiparlamentarischer Machtpolitik. Doch im so genannten Verfassungskonflikt um die Bewilligung höherer Militärausgaben spaltete sich der rechte Flügel der Liberalen ab. Er ordnete sich lieber Bismarcks Machtpolitik unter, als die Rechte des Parlaments zu verteidigen.
Das war der Sündenfall der Liberalen. Aus der Spaltung ging die Nationalliberale Partei hervor, die sich mit Bismarcks Konservativen eng verbündete. Dies führte zu immer neuen Abspaltungen und Neugründungen. Der Spaltpilz wurde das Markenzeichen der labilen Liberalen.
— Nach dem Schock des Ersten Weltkriegs fanden die Liberalen in der Deutschen Demokratischen Partei (DDP) eine neue Heimat. Die DDP verstand sich klar als Verfassungspartei und drückte der Weimarer Republik ihren rechtsstaatlichen Stempel auf, ja, man kann guten Gewissens behaupten, der wache und fortschrittliche Geist des Bildungsbürgertums war in ihr fast vollzählig vertreten: durch Max Weber, Hugo Preuß, Theodor Wolff, Friedrich Naumann, Walther Rathenau, Ernst Cassirer, Helene Lange, Ludwig Quidde, Reinhold Maier und viele andere.
Im Januar 1919 gewann die DDP bei den Reichstagswahlen 18,5 Prozent der abgegebenen Stimmen: das höchste Ergebnis, das der organisierte Liberalismus unter den Bedingungen eines allgemeinen und gleichen Wahlrechts jemals in Deutschland erreichen konnte.
Zusammen mit dem katholischen Zentrum und der SPD bildete die DDP die berühmte Weimarer Koalition und war bis in die dreißiger Jahre an fast allen Regierungen beteiligt. Doch schon bald nach ihrem größten Triumph gaben die Liberalen ihrem unseligen Hang zur Spaltung wieder nach. Unter dem Druck von rechts und links sank der Wähleranteil bis 1932 auf 1 Prozent.
Der Deutschen Volkspartei (DVP) Gustav Stresemanns (sie war die rechtsliberale Erbin der Nationalliberalen Partei), erging es ähnlich. Auch sie war in fast allen Regierungen der Weimarer Republik vertreten, schrumpfte aber von 13,9 Prozent der Wählerstimmen im Jahr 1920 auf 1,2 Prozent 1932. Die Liberalen drifteten während der Weltwirtschaftskrise nach rechts und versanken schließlich in der politischen Bedeutungslosigkeit.
— Nach dem Schock des Zweiten Weltkriegs besannen sich die Liberalen zunächst wieder auf die Einheit. Ex-Mitglieder von DDP und DVP gründeten 1948 die FDP (in der auch zahlreiche Alt- und Ex-Nazis Unterschlupf fanden). Mit Theodor Heuss stellten die Liberalen sogar den ersten Bundespräsidenten. Als „Zünglein an der Waage“ war die FDP in den unterschiedlichen Bundesregierungen fast ein halbes Jahrhundert lang vertreten – sie regierte damit länger als jede andere Partei.
Doch selbst in der stabilen Bundesrepublik begann die FDP-Basis nach einiger Zeit wieder zu bröckeln. In den Auseinandersetzungen um die Ostpolitik Willy Brandts kam es zu Abspaltungen am rechten Rand (Erich Mende ging zur CDU). 1982, während des dramatischen Endes der sozialliberalen Koalition, folgte die Abspaltung des linken Flügels (zur SPD).
Zu diesem Zeitpunkt waren die Grünen als neue Umwelt- und Bürgerrechtspartei bereits auf der Bildfläche erschienen. 2006 folgten die Piraten, die sich als sozialliberale Bürgerrechtler definierten. Trotzdem erreichte die FDP (allerdings mit medialer, industrieller und christdemokratischer Unterstützung) 2009 ihr bestes Nachkriegsergebnis: 14,6 Prozent. Schon wenige Monate später begann unter dem Druck der Merkelschen Machtpolitik ihr rasanter Verfall. Die Bundestagswahl 2013 und die neu auftauchende Konkurrenz der rechtsliberalen AfD sorgten für den vorläufigen Schlusspunkt.
Heute regiert die FDP nur noch in einem einzigen Bundesland mit, während die Piraten den Fall der großen Schwesterpartei FDP in Turbogeschwindigkeit nachvollzogen.
Die Jungen wollen mehr Liberalität
Ist der Liberalismus also am Ende – wie manche Beobachter vorschnell vermuten? Nein, trotz des immerwährenden Zerfallsprozesses gibt es in Deutschland noch immer eine unstillbare (und ungestillte) Sehnsucht nach Liberalität – mag der organisierte Liberalismus in seinen gegenwärtigen Parteien und Vereinigungen auch noch so abschreckend wirken.
Vor allem die nachwachsenden Generationen tendieren zu einer liberalen Grundhaltung. Bei Schülerbefragungen vor der Niedersachsenwahl erreichten die Piraten trotz ihres mittlerweile verheerenden Medien-Images 13,1 Prozent. Die Grünen stiegen zur zweitstärksten Partei auf. Und die FDP schaffte immerhin noch 4,1 Prozent.
Für die Zukunft des Liberalismus braucht man also gar nicht so schwarz zu sehen. Er blüht auch jenseits der unfähigen Organisationen, die er hervorbringt. Denn nach wie vor sucht er verzweifelt nach einem Rückgrat, das ihm Stabilität verleiht.
Eine erweiterte Fassung dieses Beitrags ist am 14. Januar 2013 in der FAZ erschienen.