#BTW21

Zeitalter der Quantenpolitik

Moderne Gesellschaften sind immer auch von Widersprüchlichkeiten und Ambiguitäten geprägt – die »Gleichzeitigkeit von Ungleichzeitigkeiten« gehört zum Wesenskern komplexer Gesellschaften.

von , 12.12.21

Das Einüben stabiler Mehrparteien-Koalitionen wird entscheidend für die Zukunftsfähigkeit vieler westlich-demokratischer Systeme sein.

Die neue Regierung ist vereidigt, Deutschland wird von einem Dreierbündnis regiert. Verbunden damit sind allerdings Befürchtungen, dass mehr Regierungsparteien auch fragilere Bündnisse bedeuten und somit für erhöhte politische Instabilität sorgen. Dabei ist davon auszugehen, dass die sich abzeichnende Dreierkoalition in Deutschland nicht als kurzfristige Betriebsstörung eines eigentlich auf Zweierbündnisse ausgerichteten Systems in die Geschichte eingehen wird, sondern vielmehr als Startschuss in den Übergang eines »neuen Normals« des deutschen Politikbetriebes gelten darf. Deutschland ist kein Einzelfall, überall in der westlichen Welt erodieren die Bindekräfte der Volksparteien schleichend. Ehemals stabile Wählermilieus lösen sich auf, politische Willensbildung findet verstärkt in Nischen- und Querschnittssegmenten statt.

Dieses Zerfasern der Parteienlandschaft wird besonders im aktuellen Europaparlament sichtbar, wo derzeit 13 deutsche Parteien vertreten sind. Diese Entwicklung macht das Denken in alternativen Koalitionslogiken langfristig unabdingbar, da stabile binäre Lagerbildung in vielen westlichen Staaten an ihr Ende zu kommen scheint – und eine Neuordnung der Parteienlandschaft stattfindet. Diese Entwicklung gilt mit Abstrichen gleichermaßen für Staaten mit Verhältniswahlrecht als auch mit Mehrheitswahlrecht, und auch für diejenigen, die heute noch über eine relativ stabile Parteienlandschaft verfügen.

Neue Parteien treten auf den Plan, etablierte Parteien versuchen, sich neu zu erfinden oder sich sprichwörtlich »umzufärben« – und manch ehemalige Kleinstpartei bindet innerhalb kürzester Zeit nun deutlich größere Wählersegmente. In Frankreich stellt eine vor der Wahl neugegründete Partei den Staatspräsidenten. Staaten wie Italien experimentieren mit Technokratie oder Regierungen der nationalen Einheit, um den Übergang in neue Phasen der Stabilität zu schaffen. In Österreich wurde die traditionelle Volkspartei ÖVP gleichsam über Nacht zur türkisenen Bewegung. In den USA unterziehen die unterschiedlichen Strömungen in den beiden Großparteien die inneren Bindekräfte permanent heftigen Stresstests, so dass die Herausbildung eines Vierparteiensystem keine allzu große Überraschung darstellen würde. Vielerorts vollziehen sich diese Entwicklungen schleichend und inkrementell, so dass der tatsächliche Wandel erst in der Rückschau offensichtlich wird. Es ist aber davon auszugehen, dass die Ausdifferenzierung der politischen Landschaft in Zukunft weiter fortschreiten wird.

Wir bewegen uns in ein Zeitalter der Quantenpolitik – ein Sprachbild, das bewusst der Informationstechnologie entlehnt ist. Bei handelsüblichen Computern kann die Basisspeichereinheit, ein Bit, zwei Zustände einnehmen, entweder 0 oder 1. Damit folgt das System einer binären Logik. Anders stellt sich dies bei Quantencomputern dar, deren transformatives Potenzial sich derzeit am Horizont abzeichnet. Hier bilden Qubits die Basiseinheit, die nach den Gesetzen der Quantenmechanik Überlagerungszustände bzw. beide Zustände gleichzeitig einnehmen können. Dieser Überlagerungszustand wird auch Superposition genannt. Zudem können sich Qubits auf eine spezielle Art und Weise miteinander verbinden, dabei ist von einer Quantenverschränkung die Rede. Stark vereinfacht dargestellt sind Qubits durch Verschränkung funktional miteinander verbunden, auch wenn sie sehr weit voneinander entfernt liegen. Ein grundsätzliches Problem ist jedoch, dass Qubits schwierig zu kontrollieren und stabil zu halten sind.

Quantenpolitik zeichnet sich also dadurch aus, dass nicht nur die Umfelder, sondern auch die Verbindungen zwischen den Elementen des Systems von struktureller Instabilität geprägt sind. Sie zielt darauf ab, in fragilen und volatilen Umfeldern stabilisierende Zustände zu erreichen. In Zeiten erschwerter Koalitionsbildungen liegt die neue Staats- und Regierungskunst darin, eine Art Quantenverschränkung selbst zwischen inhaltlich weit auseinanderliegenden Parteien und Personen herzustellen. Wenn sich die Gesellschaft wandelt, muss die repräsentative Demokratie neue Repräsentationsmuster entwickeln, um zukunftsfähig zu bleiben.

Daher könnten funktionierende Mehrparteienkoalitionen politische Systeme langfristig stabilisieren, weil sie vielfältigere Aspekte des politischen Meinungsspektrums abzubilden vermögen – und somit auch mehr Positionen in einer sich weiter ausdifferenzierenden Gesellschaft repräsentieren. Moderne Gesellschaften sind immer auch von Widersprüchlichkeiten und Ambiguitäten geprägt – die »Gleichzeitigkeit von Ungleichzeitigkeiten« gehört zum Wesenskern komplexer Gesellschaften. Stabile Mehrparteien-Koalitionen könnten diese Mehrdeutigkeiten besser politisch kanalisieren, da derartige Regierungskonstellationen in der Regel selbst innere Widersprüchlichkeiten aufweisen und unterschiedliche Positionen vereinen. Auch bei einem Quantencomputer sind mehrere Qubits miteinander verschränkt, womit diese gleichzeitig – statt aufeinander folgend wie bei heute handelsüblichen Computern – Rechenoperationen ausführen können.

Im Zeitalter der Quantenpolitik ist von Politikerinnen und Politikern eine neue Offenheit in der Zusammenarbeit mit anderen politischen Kräften und gegenüber neuen Regierungskonstellationen gefragt. Dies bedeutet nicht, radikalen Parteien und Bewegungen die Türe zu Regierungsbildungsprozessen zu öffnen. Vielmehr bedeutet es, innerhalb des demokratischen Spektrums auch im täglichen politischen Wettbewerb viel stärker als bislang nach Schnittstellen und Anknüpfungspunkten zu suchen, statt deutlich das Trennende hervorzuheben. Gleichzeitig sollte auch eine Offenheit gegenüber alternativen Regierungsformen wie etwa Minderheitsregierungen bestehen, mit denen es in vielen Staaten noch kaum Erfahrungswerte gibt. Quantenpolitik ist in erster Linie die Fähigkeit zur Neuinterpretation des politischen Systems und des Selbstverständnisses der Parteien durch das Hinterfragen bestehender Denkmuster. Selbstreflexion und politischer Kulturwandel gehen hier Hand in Hand.

Dabei sollten gezielt auch Erfahrungswerte mit alternativen Konstellationen auf kommunaler und Landesebene genutzt werden, ohne reflexartig auf die Besonderheit der Bundesebene hinzuweisen. Dieser Erfahrungsschatz kann als wichtige Inspirationsquelle für Koalitionsbildungen und Zusammenarbeit auf nationaler Ebene betrachtet werden. Die Zukunftsfähigkeit unserer politischen Systeme entscheidet sich daran, welche Stabilisierungsmechanismen des politischen Betriebs künftig greifen: Die einer binären Vergangenheit, die wohl so nicht wiederkommen wird, oder solche, die sich aus quantenpolitischen Experimenten ergeben?

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