#Anpassung

Wo steht der Onlinejournalismus 2012?

von , 17.9.12

„Wir“: Dieses Wort in den drei folgenden Thesen soll bitte nicht missverstanden werden. Es ist eine generalisierende Referenz auf uns Journalisten in Deutschland, aber natürlich betreffen die Thesen nicht alle oder alle gleichermaßen. Es geht um eine Selbstkritik, wo wir als Profession dazulernen müssen.

„Peinlich“: Mit diesem Wort habe ich im Vortrag beschrieben, dass wir deutschen Journalisten in Summe noch viel zu wenig aus dem Medium namens Online machen. Es geht daher um Antworten auf die Frage, wie wir Journalisten unser Verständnis von Online ändern sollten, um besser zu werden, und was wir Onliner ändern können, um online besser zu machen.

1 – Wir sind zu zahlenhörig.

Uns Online-Journalisten wird von jeher vorgeworfen, bloß auf Klicks zu schielen und dafür jeden Mist zu machen. Ich will eine elaborierte Variante dieses Vorwurfs erheben.

Jeden Monat stürzen wir Journalisten uns auf Reichweiten-Rankings, die eigentlich für Anzeigenkunden gemacht werden. Wir versuchen aus ihnen zu lesen: Wer ist der digitale Marktführer im Journalismus? Und meinen dabei: Wer hat die größte Seite, wer wächst am stärksten? Wir glauben, in den langen Tabellen mit den Zahlen die Antworten zu finden – nur lesen wir die Zahlen oft nicht mal richtig. Ich habe hier und hier beschrieben, welche Schwächen diese Ranglisten haben; ich will darauf nicht herumreiten, aber machen Sie bitte mal Folgendes:

Schauen Sie sich diese Tabelle der Monats-Nutzerzahlen der größten Nachrichtenseiten vom Juni an. Merken Sie sich, wie groß die Unterschiede zwischen den ersten fünf bis zehn Positionen sind.

Schauen Sie sich jetzt diese Tabelle an, ebenfalls vom Juni. Hier geht es nicht um die Zahl der Besucher, sondern um die Zahl der Besuche – also nicht wie viele kommen, sondern wie häufig. Betrachten Sie ebenfalls die Unterschiede zwischen den ersten fünf bis zehn Positionen.

Erstaunlich, oder? In der einen Tabelle ein dichtes Rennen, in der anderen ein Bruch nach Platz zwei. Wie kann es sein, dass eine Seite sehr viele Besucher hat und zugleich relativ wenig Besuche? Zahlen-Profis können die Gründe benennen, Suchmaschinenoptimierung und Klicktricks sind die häufigsten. Doch schon dieses Hinterfragen sparen sich viele Journalisten, Anzeigenkunden und Manager, nach dem Prinzip: Das sind eben die besten Zahlen, die wir haben. Am Ende werden dann hoppladihopp Äpfel mit Birnen mit Kirschen mit Bananen verglichen.

Damit sollten wir aufhören. Was hat die Bild-Zeitung mit dem Spiegel zu tun? In Print kämen wir kaum darauf, diese beiden Medien nebeneinander zu betrachten. Im Netz tun wir es jeden Monat. Wir ranken da die SZ gegen den Focus, die Welt gegen die Zeit, die FAZ gegen den Stern. Wir werfen suchmaschinenoptimierte Newsschleudern mit Boulevardplattformen zusammen und mit hintergründigen, analytischen Seiten. Aus Sicht der Anzeigenkunden, die einfach die optimale, größte, heißeste Plattform für ihre Werbung suchen, ist so eine Perspektive vielleicht praktisch. Aber für uns Journalisten?

Guter Journalismus braucht eine publizistische Idee. Nur wer eine Idee davon hat, was er seinen Lesern anderes bieten will als alle anderen, wird auf lange Sicht überleben, weil es im Netz eh zu viel Verwechselbares gibt. Nur wer mit einer sauberen Strategie nachhaltig Leser überzeugt vulgo Reichweite aufbaut, wird darüber hinaus dem Journalismus dienen, weil er ihm eine digitale Perspektive gibt. Auch die Seite, bei der ich arbeite, kann da noch zulegen, selbstverständlich, aber: Ich persönlich glaube an eine Renaissance des Qualitätsjournalismus im Netz. Weil es genug Trashjournalismus gibt, mit 08/15-Tickertexten, Trivialboulevard und Billig-Bildergalerien. Deshalb sollten wir Onliner jetzt selbstbewusst beginnen, unsere publizistischen Ideen zu ranken, wenn wir schon etwas ranken müssen.

Welchen journalistischen Ansatz finden wir als Branche gut, welchen finden wir schlecht? Diese Debatte müssen wir Online-Journalisten führen, statt sie Watchbloggern oder Print-Kollegen zu überlassen. Das ist wichtig für die Weiterentwicklung zu besserem Online. Auf Zahlen werden wir weiter schauen müssen, schon wegen der Anzeigenkunden. Aber es darf nicht dominieren.

Zumal auch Anzeigenkunden lieber auf Seiten werben, auf denen anspruchsvollere Leser lang und gerne sind – nicht nur die Massen kurz sporadisch vorbeischauen. Umsatz = Qualität * Reichweite, hat ein Kollege mal formuliert. Ich denke und hoffe, er hat Recht.

2 – Wir diskutieren platt.

„Google ist böse.“
„Google ist gut.“
„Blogger machen guten Journalismus.“
„Blogger machen keinen Journalismus.“
„Online ist Trash.“
„Online ist die Zukunft.“
„Facebook ist die Zukunft.“
„Handys sind die Zukunft.“
„Tablets sind die Zukunft.“
„Die deutschen Verlage kapieren es nicht.“
„Print kapiert es nicht.“
„Der Leser ist dumm.“
„Paid Content wird nie funktionieren.“

Keiner dieser Sätze stimmt. Für jeden dieser Sätze gibt es gute Gegenargumente. Sie sind ideologisch. Trotzdem oder gerade deswegen werden sie in der Debatte über digitale Medien in Deutschland ständig vertreten, seit Jahren immergleich, von Journalisten und Bloggern, Verbands- und Wirtschaftsvertretern, von Managern und Visionären. Die Provokateure unter ihnen haben die lautesten Stimmen und das lauteste Echo; die leiseren, klügeren Stimmen überhören wir oft. Das kann etwas damit zu tun haben, dass Diskussionen über die digitale Zukunft in dieser Republik generell oft holzschnittartig ablaufen (1, 2, 3 et al.). In jedem Fall ist es des Journalismus’ unwürdig.

Um die Kritik an der Plattheit platt auszudrücken: Solche Debatten sind 0101010101010101010101. Binär. Aber Journalisten sollten nicht binär denken. Journalisten sollten denken.

Statt die Kämpfe der Ideologen belustigt zu verfolgen oder erbittert mitzuführen, sollten wir Rationalität stiften. Drei Beispiele zu den Sätzen oben: Da ist zum Beispiel der Frenemy Google, von dem alle Nachrichtenseiten so stark profitieren, dass wir es uns kaum leisten könnten, von der Suchmaschine infolge aktueller Unstimmigkeiten ausgesperrt zu werden. Wie sehen wir Journalisten eigentlich Google? Wie wollen wir mit dem Konzern umgehen? Eine pragmatische Diskussion darüber ist fällig. Genauso über Paid Content, ein Hassthema vieler Onliner. Dabei wissen wir alle um die Volatilität der Online-Anzeigenmärkte. Wir müssen unsere Geschäftsmodelle weiterdenken – und zwar ohne jene Scheu vor Neuem, die wir Onliner unseren Print-Kollegen so oft vorwerfen. Überhaupt, die Print-Kollegen: Wir Onliner müssen einfach mit ihnen zusammen an der Zukunft unserer Jobs arbeiten. Und umgekehrt. Denn: We’re in this together. Es wird Zeit, mit den Ideologien und Ideologen unserer Branche zu brechen. Ideologie wird uns alle nicht retten.

Die schwierigsten Zeiten infolge des Medienbruchs stehen uns noch bevor, wobei das zu negativ formuliert ist; pragmatische Debatten führt ja nur derjenige, der auch das Positive sieht. Darum: Die spannendsten Zeiten stehen uns noch bevor.

3 – Wir sind zu konservativ.

Wer hat schon mal newsgebloggt?
Wer hat schon mal livegetwittert?
Wer hat schon mal HTML-Code embeddet?
Wer hat schon mal einen Shitstorm auf Facebook gemeistert?
Wer hat schon mal Daten gescrapet?
Wer wertet täglich Google- und Twitter-Trends aus?
Wer fühlt sich wie die digitale Avantgarde in seiner Redaktion?

Auf die letzte Frage, in der Vollversammlung von „besser online” gestellt, ging höchstens ein Dutzend Finger hoch – nun, vielleicht war die Frage zu spitz formuliert. So oder so, selbst in vielen Online-Redaktionen können nach meiner Erfahrung die wenigsten Journalisten die Mehrheit der Fragen mit Ja beantworten. Das ist zu wenig im Jahr 2012. Wir ticken als Redaktionen in der Summe noch immer zu konservativ, zu wenig offen gegenüber der Entwicklung da draußen, die für viele unserer Leser, Zuhörer und Zuschauer längst selbstverständlich ist. Wir haben Fortbildungsbedarf. Wobei wir oft ja nicht faul sind, sondern überarbeitet – und darum immer eine Begründung dafür haben, weiterzumachen wie bisher, statt uns persönlich und als Profession weiterzuentwickeln.

Das wird uns nur nicht helfen. Wir brauchen journalistische Strategien für diese neue Zeit. Korrigiere: für diese Zeit, denn neu ist sie nicht mehr.

Wer Chef ist, sollte an diesen Strategien und den Spielräumen dafür arbeiten. Wer jung ist, sollte sich freuen, die digitale Inkarnation des Journalismus miterfinden zu dürfen. Selbstbewusst dabei zu sein, statt Unlust oder Zukunftsangst zu kultivieren – das ist auch ein Gebot für die Älteren. Es reicht nicht, sich zu denken: Bis zur Rente habe ich noch x Jahre, sollen sich andere um diese neuen Sachen kümmern. Wer das tut – wie leider einige –, blockiert und vergeht sich so an unserer Zunft.

Wir müssen jetzt darüber nachdenken, wie wir das Beste aus Online machen – weil die digitalen Medien unsere größte Chance sind, den Journalismus in die Zukunft zu bringen. Wir sollten nicht auf Verleger, Experten oder irgendwen anders warten. Wir müssen das selbst tun.

Wer soll den Journalismus über diesen digitalen Medienbruch retten können, wenn nicht die Journalisten selbst?

Text der Eröffnungsrede von Stefan Plöchinger auf dem DJV-Kongress „besser online“ am Samstag

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