von Juliana Goschler, 30.4.14
Bestimmt hat meinen geneigten Leser/innen etwas gefehlt. Aber endlich ist die Zeit des Wartens vorbei: Ein neuer Artikel ist da, der Eltern erzählt, wie man mit der Mehrfachbelastung Kinder – Beruf – Privatleben umgehen soll! Dieses Mal hat sich das Magazin der Süddeutschen erbarmt.
Möglicherweise werden einige meiner Leser/innen schon nach dem ersten Draufklicken abwinken: Ein Mann, 38 Jahre, kinderlos, ist der Autor, der mit Formulierungen wie “möglichst schnell an eine Betreuungsstätte abgeschoben” und “Kinder ins Arbeitsleben hineinzerren” aufwartet. “Sonst noch was?” ist außerdem reizend getitelt.
Kann man sich den Artikel also vielleicht nicht gleich sparen? Diesen Übereiligen möchte ich aber zurufen: Nicht so schnell! Denn obwohl der Autor Tobias Haberl sich seiner Privilegien als Kinderloser durchaus bewusst ist – denn er zählt sie lang und breit auf – MÖCHTE er aber Kinder!
Nicht morgen, aber in ein, zwei Jahren, so genau nehme ich es nicht. Ich möchte Vater werden, eine kleine Familie, einen Sohn oder eine Tochter haben.
Das ist doch rührend, ich denke, da sollten dauergestresste Eltern doch einmal kurz von ihrem ständigen Wehklagen ablassen und ihm zuhören, welche großartige Analyse er zum Thema Vereinbarkeit von Familie, Beruf und persönlichen Ansprüchen zu liefern hat!
Der Autor beginnt damit, den Leser, die Leserin und sich in einem großen WIR zu vereinen – und wenn Sie sich darüber wundern, was Sie eigentlich mit dem Autor gemeinsam haben sollen, dann immer daran denken: Sie sind zwar vielleicht tatsächlich berufstätige Eltern, oder zwangsweise zu Hause, weil kein ordentlicher Betreuungsplatz für das Kind (oder gar mehrere Kinder) da ist, oder irgendetwas dazwischen, aber der Autor gehört auch dazu, denn er MÖCHTE ja schließlich mal Kinder haben. Nicht jetzt gleich, aber bald! Deshalb sind wir alle “wir”. So ähnlich wie damals bei den Jungpionieren, wo man unterschrieb:
Wir Jungpioniere treiben Sport und halten unseren Körper sauber und gesund.
Der das geschrieben hat, war wahrscheinlich selbst kein Jungpionier, also jedenfalls nicht so richtig, dafür aber im Geiste. Und “wir” klingt ja auch immer viel netter. Vor allem, wenn man dann mit Forderungen – wie bei den Jungpionieren – oder undifferenzierten Vorwürfen – wie der Autor des Süddeutsche-Magazins – weitermacht. Denn jede Kritik wird ja so quasi zur Selbstkritik, und was könnte daran falsch sein?
Da kann man dann auch schon mal hart mit sich, also uns, ins Gericht gehen. Denn, das stellt der Autor fest, heutige Eltern sind einfach nur gierig – “genau wie die Banker, genau wie die Hedgefondsmanager”, auf die doch immer alle schimpfen.
Da kriegen sie schon alles auf dem Präsentierteller, Sozialstaat, Betreuungsgeld, Kindergeld, Elterngeld, Mutterschaftsgeld – “alles Wohltaten, von denen drei Viertel der Menschheit noch nie etwas gehört hat”, aber anstatt sich brav zu bedanken und glücklich zu sein, was machen sie, also WIR, also, Sie wissen schon, Eltern und Solche? Wir, äh, sie schreien nach mehr, betteln die Politiker an, anstatt mal den eigenen Act zusammenzukriegen:
Aber es reicht halt immer noch nicht. Und deshalb sollen die Politiker doch bitte noch bessere Bedingungen dafür schaffen, damit endlich beides gleichzeitig möglich ist: Beruf und Familie, Kinder und Karriere. Also noch mehr Kindergeld. Noch mehr Homeoffice. Noch mehr Kita-Plätze. Laut Familienreport können sich darauf mehr als 90 Prozent der Deutschen einigen.
NOCH mehr Kita-Plätze. Ein Unding. Reichen denn die etwa 0,65 Plätze pro Kind mit arbeitswilligen Eltern nicht? Ihr spinnt doch, ich meine, WIR spinnen doch. Da ist wirklich harsche Kritik, also natürlich SELBSTkritik angesagt:
Es klingt gespenstisch, aber wir sind längst eine Gesellschaft, die in einem erschöpfenden Tag im Büro mehr Bestätigung findet als in den Augen unserer Kinder.
Und
Ausgerechnet in dem Land, das weltweit die beste Infrastruktur bereitstellt, ein Kind zur Welt zu bringen und zu einem gesunden und glücklichen Menschen zu erziehen, werden fast keine mehr geboren, weil sie uns beim Leben und Arbeiten stören.
Wem diese Argumente familienpolitisch noch ein bisschen zu dünn angerührt waren, dem wird – Sie ahnen es – auch gleich noch ein bisschen Kapitalismusskepsis dazu geliefert:
[…] dabei sind wir das Schmieröl dieses Systems, indem wir unser Leben exakt definierten Effizienzkriterien unterworfen haben. Denn Karriere machen wollen wir ja nicht, um überleben zu können, sondern weil wir finden, dass unser Lebensstandard ruhig mal wieder einen Tick nach oben geschraubt werden könnte.
Nun denken Sie bitte nicht, hier rede der Herr Haberl aber wohl eher über sich als über uns. Frauen etwa, die jetzt denken, halt, was, natürlich arbeite ich, um überleben zu können und meine Kinder zu versorgen – bitte nicht so engstirnig, es geht hier sehr wohl um uns. Denn auch und vor allem die Tatsache, dass jetzt auch Frauen arbeiten sollen und wollen, ist ein Problem. Denn natürlich:
Es ist eine Tatsache, dass den Frauen der Zugang in die Chefetagen und damit zu beruflicher Verwirklichung ermöglicht werden muss.
Sehr großzügig, Herr Haberl. Aber der nachdenkliche Nachsatz folgt natürlich auf dem Fuße:
Es ist aber auch eine Tatsache, dass sich jetzt auch noch die andere Hälfte der Menschheit in die Hände einer Effizienz- und Wachstumslogik begeben hat, die erstens Stress auslöst und zweitens Mütter und Väter immer mehr zu Konkurrenten werden lässt. Laut Statistischem Bundesamt halten 68 Prozent der Deutschen die Karriere der Frau für das größte Konfliktpotenzial in einer Beziehung.
Das ganze Gegeier der Frauen nach Jobs macht also nicht nur die armen Kinder, sondern auch noch die Beziehungen kaputt. Also, halten WIR doch bitte einen Moment inne und denken mal nach:
Wir könnten doch wenigstens mal versuchen, unsere Vorstellung vom geglückten Leben zu überdenken und uns ernsthaft zu fragen: Worauf bin ich zu verzichten bereit, weil mir mein Kind, meine Gesundheit, meine immer älter werdenden Eltern oder meine Integrität wichtiger sind? Auf die nächste Stufe der Karriereleiter? Auf die um 15 Quadratmeter größere Wohnung? Auf das, was ich mir früher unter einem unabhängigen Leben vorgestellt habe?
Ist es wirklich so undenkbar, zugunsten eines Kindes auf die nächste Mini-beförderung zu verzichten oder – warum nicht? – umgekehrt, weil sich jemand halt nur dann spürt, wenn er nicht zwei, sondern dreihundert Leuten sagen kann, was sie tun oder lassen sollen?
Ja, ich gebe zu, ich schäme mich jetzt ein bisschen. Denn wirklich! Das ist alles schon ganz schön krank, wenn man sich nur noch spürt, wenn man dreihundert Leuten Befehle erteilen kann. Gruselig. Herr Haberl, Sie haben auch mir die Augen geöffnet mit Ihrer schonungslosen Selbstkritik.
Crosspost von Dr. Mutti