Man darf also weiter hoffen, dass Scholz dem Kriegsgejaul der Waffennarren auf allen Seiten zum Trotz die Ruhe bewahrt und zusammen mit Macron eine Lösung findet, um Europa nicht noch einmal zum Schlachtfeld sinnloser geopolitischer Konflikte zu machen.
von Stefan Heidenreich, 8.2.22
Über die kolonialen Vorläufer »wertegeleiteter« Außenpolitik, den fatalen Willen zu selbstzerstörerischen Sanktionen und die Hoffnungen auf Diplomatie
Der Enthusiasmus der Rufe nach Sanktionen im Ukraine-Konflikt, obwohl sie sich gegen die Interessen der heimischen Wirtschaft richten, ist bemerkenswert. Bestand doch bis dato das Hauptgeschäftsmodell der deutschen Industrie darin, Maschinen und Autos in Wachstumsmärkten wie China abzusetzen und die Produktionskosten mit billigem russischen Gas niedrig zu halten. Es gibt durchaus Ökonomen, die dieses Exportmodell zurecht seit Jahren angreifen. Aber die breite Mehrheit in Presse und Wirtschaft hat es immer mit allen Kräften befürwortet. Bis vor kurzem hat sich hierzulande so gut wie niemand darüber beklagt, dass die vorherigen Regierungen die Wirtschaft bei diesem profitablen Win-Win-Exportmodell mit ganzer Kraft unterstützt haben. Nicht nur wurde mit der Nordstream2-Pipeline die Infrastruktur für günstige Energie weiter ausgebaut, sondern die Regierung Merkel hat auch alles dafür getan, um noch in den letzten Tagen ihrer Regierungszeit ein unterschriftsreifes Handelsabkommen mit China vorzulegen. Doch plötzlich stehen die Zeichen auf Sanktionen, bei denen selbst ihre größten Verfechter eingestehen, dass die Schäden nicht nur bei den vermeintlichen Gegnern, sondern auch hier in Deutschland anfallen. Was macht es plötzlich so erstrebenswert, das Win-Win-Geschäft der letzten Jahre durch eine Lose-Lose-Option zu ersetzen?
Seit Russland ultimativ gefordert hat, in Europa zu einer gemeinsamen Sicherheitsarchitektur zurückzukehren, entwickelt sich die Lage in der Ukraine sehr unübersichtlich. Amerikanische Medien melden schon den Einmarsch der Russen, obwohl er gar nicht stattgefunden hat. In Deutschland tobt derweil die Debatte darum, ob man Waffen liefern soll oder nicht. Die Russen beteuern, gar nicht einmarschieren zu wollen. Im Westen heißt es, die Truppen stünden schon bereit. Russische Medien behaupten ihrerseits, die Ukraine habe ihre Soldaten rund um den Donbass zusammengezogen. Sicher ist bei all dem nur eines: der »fog of war« hängt schon sehr dicht über der Medienlandschaft. Leider haben sich die Informationen der westlichen Dienste in den letzten Kriegen nicht als wirklich zuverlässig erwiesen, man denke nur an den Irak. Auch die Frage, warum die US-Truppen geradezu fluchtartig Afghanistan verlassen mussten, denn freiwillig werden sie es nicht getan haben, bleibt merkwürdig ungeklärt. Könnte es sein, dass der Westen in dem als Grabstätte der Imperien bekannten Gebirgsland gerade einen Krieg verloren hat? Das wäre für »unsere Sicherheit«, die einem geflügelten Wort des damaligen Verteidigungsministers zufolge, »auch am Hindukusch verteidigt« wurde, ein sehr schlechtes Vorzeichen.
Ende Januar traten zwei Militärs mit Aussagen an die Öffentlichkeit, die in der derzeitigen diplomatischen Großunwetterlage vor laufender Kamera offenbar alles andere als erwünscht sind. Dazu gehört der Satz: »The Crimean peninsula is gone. It will never come back. This is a fact.« Oder über Putin: »It is easy to give him even the respect he really demands, and probably also deserves.« Den Vizeadmiral Kay-Achim Schönbach, der das von sich gegeben hat, hielt es danach keine Woche auf seinem Posten. Der Rauswurf hat durchaus seine Berechtigung, wenn auch mehr aus formalen als aus sachlichen Gründen. In einer Demokratie liegen die Richtlinien der Außenpolitik bei der Regierung und nicht beim Militär. Und selbst wenn die Regierung keine klare Linie erkennen lässt, steht es Militärs nicht zu, das Wort zu führen. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass der ehemalige Generalinspekteur der Bundeswehr, Harald Kujat, ihm zu Seite springt: »Er hat nur geschildert, was die amerikanische Position ist.« Die Frage sei doch, so Kujat weiter: »Stimmt wirklich die politische Position der Bundesregierung damit nicht überein, also mit der Position der amerikanische Regierung, unseres engsten Verbündeten. Das ist die Frage? Und muss er deshalb gehen?« Tatsächlich rätseln derzeit viele Beobachter, was genau die amerikanische Position ist, und wie sich das Handeln der deutschen Regierung dazu verhält.
In der Presse dagegen scheint das Urteil schon gefällt. Dass Putin »Respekt verdient« trifft bei manchen bei vielen Journalisten geradezu auf Empörung. Wer die Welt in einem starren Freund-Feind-Verhältnis sieht und genau weiß, wo die Guten und wo die Bösen stehen, hat für derartige Ausrutscher gar kein Verständnis. Dabei sollte es selbst jemandem wie Sascha Lobo zu denken geben, dass Russland im Fall Edward Snowden einem der wichtigsten westlichen Dissidenten politisches Asyl gewährt, während unsere eigene Regierung keinen Finger rührt, um Julian Assange aus dem britischen Schwerverbrecher-Knast zu retten. Vielleicht ist die Welt doch nicht so ganz eindeutig in Gut und Böse aufgeteilt? Aber immerhin jault Lobo in breiter Gesellschaft einen beliebten Refrain: »Es gelten diejenigen, die dicke Backen machen, und harte Hunde als die Tollen« bedauert Wolfgang Kubicki.
Warum ein Großteil der deutschen Presse und in der Regierung vor allem die grüne Partei so verbissen für mehr Härte gegen Russland wirbt, bleibt trotzdem ein Rätsel. Wer glaubt, die gemeinsamen Werte des Westen verlangten diese Haltung, muss sich einige Fragen stellen lassen. Haben den Sanktionen in der jüngeren Vergangenheit zu irgendwelchen positiven Resultaten geführt? Vermutlich im Gegenteil, denn unter dem Druck aus dem Westen sind China und Russland nicht nur näher zueinander gerückt, sondern auch im Inneren immer repressiver geworden. Von mehr Härte ist in diesem Sinn nichts anderes als mehr Verhärtung auf der Gegenseite zu erwarten.
Schlägt man einen etwas größeren historischen Bogen, führt der Ruf nach „Werten‟ geradewegs rasch in die Finsternis der westlichen Kolonialgeschichte. Von Anfang an haben die europäischen Mächte versucht, ihre Raubzüge rund um den Globus mit »Werten« zu bemänteln. Ob sie sich dabei auf die Religion, auf den vermeintlich höheren Stand ihrer Zivilisation oder ganz krude auf rassische Überlegenheit beriefen, stets wurden höhere Werte ins blutige Feld geführt. »Der Eingeborene, heißt es, ist für die Ethik unerreichbar, ist Abwesenheit von Werten, aber auch Negation der Werte«, schreibt Frantz Fanon. Umgekehrt dienen die Werte dazu, ihn als Feind überhaupt erst zu erfinden. So scheint ganz unvermeidlich hinter der Rede von einer »wertegeleiteten« Außenpolitik das Gespenst der alten Kolonialherren auf, auch wenn sie im Gewand einer noch so modernen und fortschrittlichen westlichen Hegemonie daherkommen. Dass die Deutschen ihr koloniales Zuspätkommen mit besonders rassistischer Grausamkeit kompensiert haben, macht die Sache nur um so schlimmer. Wie man es auch wendet, hinter dem Sendungsbewusstsein des Westens steht am Ende ein ungebrochen fortdauernder Anspruch auf moralische Überlegenheit und damit eine Abart des Gaubens an »White Supremacy«. Wie die Ideologie der weißen Überlegenheit, die Rede von Werten und der Kolonialismus über Jahrhunderte Hand in Hand gingen, zeigt übrigens gerade in epischer Breite der bei Arte gesendete Dokumentarfilm «Rottet die Bestien aus«.
Es gibt also gute Gründe, »Werten« gegenüber, besonders wenn sie von alten Kolonialmächten her kommen, sehr misstrauisch zu sein. Zumal sie auch in unserer Gegenwart nur sehr selektiv zum Einsatz kommen. Wo bleiben die Sanktionen gegen frauenverachtende Theokratien wie in Saudi-Arabien, zumal das Land seit Jahren den Nachbarstaat Jemen in einem der brutalsten und vergessensten Kriege unserer Zeit verwüstet? Wo bleiben die Rufe nach Härte gegen das Land, das mit unverkennbar rassistischem Bias die meisten Häftlinge weltweit einsperrt und ihnen elementare Bürgerrechte wie das Wahlrecht vorenthält? Dass der Ruf nach Sanktionen sich nur gegen manche Staaten richtet und andere ganz ausnimmt, wirft die Frage auf, ob die angeführten »Werte« überhaupt leitend sind. Viel einleuchtender erscheint da schon die These, die Sanktionen seien gar kein Mittel zur Durchsetzung irgendwelcher Werte. Vielmehr ist umgekehrt herum die Rede von den Werten Mittel zur Durchsetzung der Sanktionen.
Nun ist der Kanzler Scholz nach Washington gefahren, und der französische Präsident Macron befindet sich zeitgleich in Moskau. Noch gibt es Hoffnung, dass es beiden gelingt, das Loose-Loose-Szenario für Europa abzuwenden. Der französische Präsident zeigt, in welche Richtung ein Kompromiss gesucht werden könnte: »Das geopolitische Ziel Russlands ist heute eindeutig nicht die Ukraine, sondern die Klärung der Regeln der Koexistenz mit der NATO und der EU.« Man darf also weiter hoffen, dass Scholz dem Kriegsgejaul der Waffennarren auf allen Seiten zum Trotz die Ruhe bewahrt und zusammen mit Macron eine Lösung findet, um Europa nicht noch einmal zum Schlachtfeld sinnloser geopolitischer Konflikte zu machen.