#Desillusionierung

Wieviel Aufklärung hätten Sie gern? Geschnitten oder am Stück?

von , 7.4.13

Susan Neiman, Direktorin des Einstein-Forums in Potsdam, und Sigmar Gabriel, Vorsitzender der SPD, schreiben in der Printausgabe der FAZ vom  3. April einen Essay unter dem Titel: Europa: Wie wäre es mit Aufklärung?

Der Vorspann des Essays verwirrt:
 

Die Realpolitik der Eurokrise löst vielleicht Probleme, sorgt aber nicht für Vertrauen. Nötig ist das Bekenntnis zu einer europäischen Wertegemeinschaft.

 
Welche Realpolitik? Welche Probleme? Wie klingt im Halbdunkel der öffentlichen Meinung heute ein “Bekenntnis” zu einer europäischen “Wertegemeinschaft”?  Wie Pfeifen auf dunkler Treppe in den Kohlenkeller. So viele Konzessionen, so viele Voraussetzungen.

Nach den jüngsten Kapriolen der Eurokrise verschwindet die Bereitschaft, auf “Werte” zu vertrauen, unter die labortechnische Nachweisbarkeitsgrenze. Nicht einmal mehr homöopathische Verdünnungspotenzen bleiben übrig, von denen “Europa” zehren könnte. Gemeinsamkeiten scheinen im Verhandlungsregime der Brüsseler Gipfelverhandlungen verglüht zu sein. Was müssen wir davon halten, wenn ein beteiligter Finanzminister nur wenige Tage nach diesem denkwürdigen Desaster in der führenden Zeitung seines Landes seine Eindrücke zu Protokoll gibt? To put it bluntly: Desillusionierung ist heute alternativlos.

Schauen wir genauer auf den Versuch, diesem Befund entgegen zu treten. Die Autoren beginnen mit einer Retrospektive auf den Begriff, die Praxis und die jüngere Geschichte von “Realpolitik”. Fassen wir die Begriffsgeschichte, die anfängliche Praxis, den Rückblick auf die Anfänge als Versuch, historische Enttäuschungen zu verarbeiten, und rücken ins Auge, wodurch sich Realpolitik auszeichnet: die Einsicht darin, dass politisch verfasste Akteure Interessen verfolgen. In einem so komplexen Gebilde wie der EU hat sich in bald 60 Jahren ein Verhandlungsregime etabliert, das das wechselseitige Misstrauen nach Maßgabe berücksichtigter Interessen in Schach zu halten verstand.

Europäische Realpolitik bzw. ihr Output konnte noch bis vor wenigen Jahren insoweit als Resultante dieser Verhandlungsroutinen verstanden werden. Das Misstrauen schießt heute aber fast ins Unendliche. Die Interessen werden undurchsichtig. Die Bereitschaft, auf sie Rücksicht zu nehmen, schwindet dahin. Und das aus einem erstaunlichen Grund: Die maßgeblichen staatlichen Akteure in den Gipfeln scheinen die eigenen Interessen und die ihrer europäischen Partner aus den Augen verloren zu haben. Im Bodennebel der verwirrten Begriffe und einer technokratisch selbstgenügsamen Sprache ist das kein Wunder. Von “Sichtweite” nichts in Sicht. Auch im Autopilot geht die Reise nicht mehr weiter. So wenig Gemeinsamkeit war nie.

“Scheitert der Euro, dann scheitert Europa!” Das Mantra der Kanzlerin wirkte auf mich schon immer wie das Grinsen von Carrolls Cheshire-Cat, das Grinsen ohne Katze. Warum? Weil dieser Satz aus dem Repertoire der nüchternen Kanzlerinnen-Sprache aus zwei Gründen heraussticht: Er kleidete sich anfangs durch den Tonfall in das Gewand einer Mahnung, die implizit Selbstbindung (“das darf nicht passieren!”) versprach, tatsächlich beschreibt er aus der Perspektive eines so gelehrigen Wendehalses wie dieser Kanzlerin heute bloß noch im nüchternen Indikativ einen Sachverhalt.

Ihre maskenlose Botschaft lautet: Auf uns ist kein Verlass. Sie bleibt auf ihrer Linie aus dem Spätsommer 2008: Chacun sa merde! Damals plädierte Sarkozy für schnelles gemeinsames Handeln. Merkel setzte ihr “jeder kümmere sich um den eigenen Scheiß!” dagegen, was sie nicht davon abhielt, durch eine Einlagengarantie die anderen Länder alternativlos unter Zugzwang zu setzen. Der moraltheologische Diskurs von “fiskalischen Sündern” und das Warnen vor “moral hazard” haben die eigenen Bastionen befestigt.

Mr gäbbet nix. Mr hend scho ois! Das schwäbische Mantra fasst die deutsche Euro-Politik sehr weitgehend zusammen. Die Rettungspakete dienten überwiegend dazu, die Interessen hiesiger Gläubiger zu bedienen und im Durchwursteln auf Zeit zu spielen.

Im Kontrast zu dieser – ich gebs ja zu: etwas raschen – Beschreibung des status quo setzen Neiman und Gabriel die Erinnerung an eine andere Realpolitik aus den späten 60er und frühen 70er Jahren. Ich brauche das nicht auszuführen. Nur, welchem Ziel dient dieser Kontrast?  An welcher Front brauchen wir heute eine “mutige Entspannungspolitik der linken Mitte”? Wir sind von Freunden umzingelt, die uns nicht über den Weg trauen. Ich mache mir das “EUdSSR”-Geschwalle nicht zu eigen, aber zwischen Compiègne und Brest-Litowsk ist kein Bahnhof in Sicht, auf dem eine europapolitische Einigung über langfristig wirksame Auswege aus der Krise vereinbart werden könnte.

Die Online-Variante des Essays unterscheidet sich nicht nur durch den Vorspann, sondern auch eine eigentümliche Zwischenüberschrift von der Printausgabe. Ich rieb mir eben die Augen, als ich las:
 

Die Miesere [sic] des politischen Pragmatismus

 
Das klingt ein bisschen üppig nach freudscher Fehlleistung und ist gewiss nicht den beiden Autoren zuzurechnen. Was veranlasst sie allerdings dazu, die historisch ehrwürdigen Begriffe des Materialismus und des Idealismus so schnöde von ihrer ideengeschichtlichen Herkunft abzuschneiden? So seltsam das an dieser Stelle klingen mag: Es gibt keine Alternative zu pragmatischer Politik, auf lange Zeit gibts die nicht.

Wer einen anderen Eindruck erweckt und nach Ideen und Konzepten für Europa ruft, stellt sich selbst unter den Verdacht, mit ideologischem Budenzauber die eigene Beteiligung an einer teilweise verfehlten pragmatischen Politik vergessen zu machen. Mit Budenzauber ist es nicht getan. Wie könnte ein besserer politischer Pragmatismus aussehen?
 

Manche behaupten, der Materialismus von links und rechts habe den Idealismus besiegt, so dass sich die Parteien inzwischen bis zur Unkenntlichkeit ähnelten; es gibt auch jene, die überhaupt am politischen Establishment verzweifeln und in einen für die Demokratie verhängnisvollen Fatalismus geflüchtet sind. Allen gemeinsam ist indes: Hier ist von menschlichen Gefühlen, Enttäuschungen, Verdrossenheit und Vertrauensverlust die Rede.

 
Tut mir leid. Das reicht nicht. Auch die folgende Beschreibung erfasst nicht einmal phänomenologisch, was seit Ausbruch der Krise passiert. Ok, das auf Zeit setzen, das auf Sicht fahren, und so weiter, aber es verrutschen selbst die ökonomischen Metaphern:
 

Im Rahmen der Möglichkeiten kauft Europa zu horrenden Preisen Zeit und hofft, dass irgendwann eine unsichtbare Hand die Märkte wieder beruhigt.

 
Ich gebe zu, ich habe lange darüber nachgedacht, wer diese unsichtbare Hand schwingen könnte. Auch die Zeitzählung ist verrutscht. Die Autoren sagen, wir befänden uns im Jahre drei der Euro-Krise, womit sie den Eindruck erwecken, die Krise habe mit den ersten Rettungspaketen begonnen.
 

Die Wirklichkeit im Jahre drei der Euro-Krise zeigt, dass eine bloß verwaltete Politik, die sich nicht mit Leidenschaft an Idealen und Werten orientiert, lebloses und technokratisches Krisenmanagement bleibt, weil sie auf Furcht und Unsicherheit setzt, aber nicht auf Mut und Aufklärung.

 
Der Leidenschaft, den Idealen und Werten ist mehr als bloß die Geschäftsgrundlage abhanden gekommen. Der Ruf danach wirkt hohl.

Warum versuchen sie nicht genauer mitzuteilen, was für unsere Zeit unter dem “Ausgang aus selbst verschuldeter Unmündigkeit” zu verstehen sei? Weil sie sich diese Mühe ersparen, können sie auch die Frage nicht beantworten, welche Alternative sie einer “alternativlosen Politik” entgegensetzen.
Der Beitrag wirkt – besonders im Kontext dieser europapolitischen Essay-Reihe der FAZ – wie aus der Zeit gefallen, unfertig, fällt hinter den Diskussionsstand müde ermattet zurück.

 
Crosspost von Wiesaussieht

Zustimmung, Kritik oder Anmerkungen? Kommentare und Diskussionen zu den Beiträgen auf CARTA finden sich auf Twitter und auf Facebook.