#Blattkritik

Wie der Stern auf die Digitalisierung reagiert. Eine Blattkritik

von , 7.3.14

Es ist schon ein paar Jahre her, da veröffentlichte der Netzphilosoph und Schriftsteller Peter Glaser einen kurzen Essay, der einmal zu den kanonischen Texten der neuen Zeit gehören könnte. Er trägt den Titel „Kulturelle Atomkraft“ und behandelt die Folgen der Digitalisierung in souverän pointierter Form. „Mit der Digitalisierung gehen“, so heißt es hier, „immer mehr Dinge, die zuvor an bestimmte unaustauschbare Materialien gebunden waren, in einen neuen Aggregatzustand über.“ Und tatsächlich: Analoge Materialien sind träge, körperlich. Einmal digitalisierte Dokumente hingegen lassen sich blitzschnell kopieren, kombinieren, in immer neue Kontexte transferieren, sie besitzen eine neue Leichtigkeit und Beweglichkeit.

Diese Möglichkeit zur rasanten Entbündelung und permanenten Transformation ist eine grandios gute Nachricht für Leserinnen und Leser, die traditionelle Printhäuser, die ihr Angebot stets in gebündelter Form und im Paket verkaufen, allerdings vor ein Dilemma stellt. Sie müssen sich fragen: Wie stärkt man in solchen Zeiten Bindekräfte und schafft kompakte Einzigartigkeit? Wie erzeugt man – ohne die Möglichkeit autoritärer Steuerung – die ökonomisch existenziell notwendige Aufmerksamkeit für das Gesamtprodukt? Auf welche Weise erklärt man sich in dieser Situation den Lesern, den Anzeigenkunden, dem Markt? Wie also gelingt – trotz allem – die große, zentrierende Geste in einem beständig pulsierenden Prozess des Resamplings in der Digital-Sphäre, so dass alle wissen, dass man diese eine, so besondere Geschichte eben gerade nicht überall und irgendwo findet, sondern nur hier, nur in diesem einen, so besonderen Medium?

 

Manche Nonsens-Rubrik hat man ersatzlos gestrichen

Es gibt wohl kaum eine Zeitung oder eine Zeitschrift, die sich solche Fragen nicht vorlegen müsste, aber sie stellen sich für eine klassische General Interest-Illustrierte wie den Stern noch einmal in verschärfter Form, geht es doch darum, Ältere zu interessieren und die Jüngeren nicht ganz zu verlieren, die kaufen sollen, was sie im Netz und auf den Seiten von Spiegel Online oder Süddeutsche.de längst kostenlos bekommen: guten, recherchestarken und doch berührenden Journalismus, Fotos und Bilder, die faszinieren und Interviews und Reportagen, die einen – schon durch das Lesen – irgendwie lebendiger werden lassen, wacher, neugieriger, durchlässiger.

Vor gut zwei Jahren hat Dominik Wichmann, einst beim SZ-Magazin, als Chefredakteur den Stern übernommen. Im März 2012 wurde das erste, entschieden umgestaltete Magazin unter seiner Regie präsentiert, seither eher behutsam weiter überarbeitet. Manche Nonsens-Rubrik („Im Bett mit…“, ein Prominenter in irgendeinem Hotelbett beantwortet ein paar scheinbar indiskrete Fragen und hält dabei unauffällig seine aktuelle CD oder sein neues Buch hoch) hat man inzwischen ersatzlos gestrichen. Neue Kolumnisten wurden eingekauft, eine andere graphische Handschrift gefunden, die den Bildern mehr Tiefe und der gesamten Optik eine größere Wucht geben soll. Nicht sicher ist, ob all dies die Auflage wieder nach oben treiben kann oder ob es nur darum geht, einen allgemeinen Trend irgendwie zu stoppen bzw. zu verlangsamen. Aber man entdeckt hier doch eine kluge Antwort auf die Tendenz zur Entbündelung von Medienmarken in Zeiten der digitalen Revolution.

Es ist ein ideengesteuerter, strikt auf Wiedererkennbarkeit, eine andere Form der Aktualität und rauhe Authentizität setzender Journalismus, der heute das Magazin bestimmt – eben das macht den Relaunch zu einem Experiment, das für die Branche insgesamt bedeutsam ist. Man traktiert hier mit großer Energie die 1-Million-Euro-Frage des Magazinjournalismus: Wie kann es gelingen, die Fliehkräfte der neuen Zeit zu bändigen, Aufmerksamkeit noch einmal zu zentrieren und wieder für das Medium in seiner Gesamtheit zu interessieren?

 

Das ganze Heft ist radikal durchformatiert

Der Stern wählt eine Strategie, die man als behutsamen Epochen-Spagat bezeichnen könnte. Man präsentiert einerseits die gute alte „Wundertüte“, die sich der Magazin-Aficionado Henri Nannen einst in den Gründertagen einfallen ließ: große, die Gefühlswelt durcheinander wirbelnde Geschichten, eine magnetische Opulenz des Visuellen, Menschen, Menschen und nochmals Menschen. Und man versucht andererseits bei all der Beschwörung des klassischen Magazinjournalismus doch die Zeichen der neuen Zeit ernst zu nehmen, ohne aber wiederum die Leserinnen und Leser zu erschrecken, die herausfinden wollen, wo der Zeichner Tetsche in seinem wöchentlichen Cartoon das Spiegelei versteckt hat und wo das traditionell leicht verborgene Kondom zu finden ist.

Das gesamte Heft ist radikal durchformatiert, enthält eine Vielzahl von Rubriken. Und es gibt große, intensiv beworbene Serien; oft sind es Verbraucherthemen, die man wählt. Man muss diese Serien und Testberichte nicht mögen, weil manche einfach nur die Schnäppchenjäger wach rütteln wollen. Aber hier zeigt sich doch der konzeptionell überlegte Versuch, die Marke wiedererkennbar zu machen und in Zeiten der Entbündelung starke Signale zu setzen, die das Medium selbst wieder sichtbar werden lassen. Man weiß damit, was einen als Leser erwartet, nämlich kalkulierbare Unkalkulierbarkeit, die „zuverlässige Überraschung“ (Klaus Schönbach) und die strikt geordnet präsentierte Neuigkeit.

Konzeptionell aufschlussreich sind auch die mitunter dramatischen Sozialreportagen und eher rauhe, oft glänzend geführte Interviews, die schon früher zu den Markenzeichen des Magazins gehörten. Hier regiert eine (unvermeidlich) inszenierte Authentizität, die sich am Einzelnen orientiert. Und hier zeigt sich die moderne Gestalt des klassischen Magazinjournalismus, der schon immer vom Menschen ausgegangen ist und sich nur über den Umweg der Person für die Sache selbst interessierte. Allerdings stellt diese Konzentration auf den einzelnen Menschen heute eben auch ein Statement eigener Art dar. Das Individuum erscheint im Wortsinne als das „Unteilbare“, als jene Einheit also, die Echtheit und Glaubwürdigkeit verbürgt und sich nicht bzw. nur um den Preis ihrer Auflösung und Zerstörung weiter splitten lässt.

Vielleicht hat auch der Autorenkult im Stern hier seinen Ursprung und seine strategische Begründung, geht es doch erneut um einen Versuch, Wiedererkennbarkeit zu sichern, Austauschbarkeit durch Autorensichtbarkeit zu blockieren. Jede noch so kleine Geschichte wird im Heft namentlich gekennzeichnet, in der Regel mit einem Porträtfoto des Autors bebildert, der dann noch in ein, zwei Sätzen erklärt, was die Recherche mit ihm gemacht hat und wie er selbst von dem, was er hier aufschrieb, berührt wurde.

 

Alternative zum Hochgeschwindigkeits-Journalismus

Natürlich verändern die digitalen Echtzeit-Medien auch den Aktualitätsbegriff einer klassischen Illustrierten – allerdings eher im Sinne einer eigentümlichen Dialektik, nicht in Form eines endlosen Steigerungsspiels, das man gar nicht gewinnen könnte. Weil man weiß, dass man mit dem Livestream der Nachrichten ohnehin nicht konkurrieren kann, erzeugt der Hochgeschwindigkeits-Journalismus der Online-Anbieter in der Zeitschriftenbranche eher eine andere Langsamkeit.

Das Alleinstellungsmerkmal, das man (oft in Verkennung der besonderen Tiefenschärfe eines Netz-Dossiers) für sich zu reklamieren sucht, heißt: entschleunigte Orientierung – und dies eben in einer Zeit, in der das Neue immer schon das vom Vortag Bekannte, das scheinbar längst Verstandene und faktisch Gewusste ist. Das Ziel ist es, das eigene Magazin in ein Medium des zweiten Gedankens zu verwandeln, dessen Einfälle und Perspektiven auch über den Tag und die Woche hinaus Bestand haben.

Das ist – zum Prinzip der Themenfindung und der Themenpräsentation erhoben – erst einmal gar nichts Besonderes. Magazinmacher arbeiten so, sie müssen so arbeiten. Sie arbeiten, wenn es gut läuft,  als die Analytiker des „kollektiven Vorbewussten“ (so der genialische Magazinerfinder Markus Peichl, einst Chefredakteur der Illustrierten Tempo), die das noch Undeutliche und Diffuse in Begriffen und Bildern konzentrieren. Das ist, wie gesagt, einfach magazinjournalistische Normalität, keine strategische Reaktionsbildung auf die digitale Revolution. Allerdings entdeckt man im Stern – manchmal ganz ohne Bindung an das tagesaktuelle Geschäft, manchmal in allenfalls loser Kopplung zum momentanen Geschehen – auch eine archetypische Aktualität, die Träume, Schicksale und Grundkonflikte verhandelt.

 

Archaische Muster

Und so erzählt man Sehnsuchtsgeschichten, Aufstiegsgeschichten, David-gegen-Goliath-Geschichten, Gewaltgeschichten, die man eigentlich immer bringen könnte. Es sind in der Regel nicht die armseligen Plastikprominenten, die man hier präsentiert, sondern Personen mit Botschaft, keine selbstreferentiell erzeugten Boulevardhomunkuli, die vorzugsweise in den Vorabendmagazinen der privaten Fernsehsender geklont werden. Prominente kommen vor, das gewiss. Aber man versucht doch, mit den längst üblich gewordenen Selbstvermarktungsorgien zu brechen, lässt Stars und Sternchen Nachrufe schreiben, begleitet sie – auch dies eine feste Rubrik – auf dem Weg zur Arbeit und wählt bewusst einen anderen Zugang, um aus dem starren Schema der modernen Hofberichterstattung auszubrechen.

Und man setzt, neben den Schönen, Reichen und Berühmten, auf kreative Alltagspersönlichkeiten, die doch gleichzeitig für etwas stehen, das über sie selbst hinaus weist. Kurzum: Es ist das archaische Muster der guten, durch das eigene Leben beglaubigten Geschichte, von dem man weiß, dass es auch heute noch wirkt. Denn der Mensch ist, um eine Formulierung des Literaturwissenschaftler Jonathan Gottschalls aufzugreifen, das storytelling animal – ein Wesen, das Geschichten erzählt, das in Geschichten denkt, fühlt und lebt.

Bernhard Pörksen, 45, ist Professor für Medienwissenschaft. Eine Langfassung dieser Blattkritik erscheint im März in der Zeitschrift „Pop. Kultur und Kritik“.

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