#LeaveNoOneBehind

Wen wir nicht vergessen dürfen

Flüchtlinge und Binnenvertriebene sind von der Pandemie besonders betroffen. Sie besitzen nicht die notwendigen Mittel, um sich angemessen vor COVID-19 schützen zu können. Sie leben häufig in dicht bevölkerten Siedlungen oder Camps, wo Hygiene- und Abstandsregeln kaum einzuhalten sind und die notwendige medizinische Infrastruktur fehlt.

von , 19.12.20

Seit Beginn der Pandemie im Frühjahr 2020 kreist die öffentliche Diskussion fast nur noch um ein Thema. Die Lage Geflüchteter und Binnenvertriebener gerät so ins Hintertreffen zu – dabei hat sich deren Situation durch Corona weiter verschärft, so der Geschäftsführer der UNO-Flüchtlingshilfe. 

Hinter uns liegt ein unaussprechliches Jahr. Die Corona-Pandemie hat mit einem Schlag unser gesamtes Leben verändert. Ein unsichtbarer Feind, der uns voneinander isoliert, unsere ökonomischen Lebensgrundlagen zerstört und Hundertausenden von Menschen weltweit letztlich das Leben gekostet hat. 

Für knapp 80 Millionen Menschen auf der Erde gehören diese Verluste schon lange zum Alltag. Aber ihr Feind ist nicht unsichtbar. Er handelt vor unser aller Augen und mit verheerenden Auswirkungen – die Medienberichterstattung ist voll von Krieg, Gewalt und Menschenrechtsverletzungen. Syrien, Afghanistan, Süd Sudan, Myanmar, Jemen und viele andere mehr: sie sind so präsent, dass wir uns bereits an die Zustände in diesen Ländern gewöhnt zu haben scheinen. Sie machen uns betroffen, aber sie betreffen uns scheinbar nicht. 

Die Corona-Pandemie hat uns erneut daran erinnert, was es bedeutet, auf die Hilfe anderer angewiesen zu sein. Vor allem hat sie bewiesen, dass wir COVID-19 nur gemeinsam besiegen können – indem wir uns miteinander solidarisch zeigen, unabhängig von Grenzen, Geschlecht, Hautfarbe oder Religionszugehörigkeit. 

Flüchtlinge und Binnenvertriebene sind von der Pandemie besonders betroffen. Sie besitzen nicht die notwendigen Mittel, um sich angemessen vor COVID-19 schützen zu können. Sie leben häufig in dicht bevölkerten Siedlungen oder Camps, wo Hygiene- und Abstandsregeln kaum einzuhalten sind und die notwendige medizinische Infrastruktur fehlt. Es ist kaum vorstellbar, dass diese Menschen nach dem Verlust ihres Zuhauses, häufig traumatisiert durch Gewalt oder den Verlust der eigenen Familie und geschwächt durch eine anstrengende Flucht, nun auch noch unter erschwerten Bedingungen mit dieser schrecklichen Pandemie zu kämpfen haben. 

Der UNHCR schätzt, dass 3,88 Millionen Menschen im Nahen Osten Hilfe benötigen, um sich angemessen auf den Winter vorzubereiten. Den Menschen vor Ort sichere Unterkünfte zur Verfügung zu stellen und die medizinische Versorgung gleichzeitig aufrecht zu erhalten, ist ein enormer Kraftakt, der sowohl personelle als auch finanzielle Ressourcen beansprucht. 

Während in Europa und in anderen Teilen der Welt die Hoffnung auf ein Ende der Pandemie steigt, ist die Situation für die Geflüchteten im Nahen Osten weiterhin katastrophal und ohne jede Aussicht auf baldige Besserung. Der Konflikt in Syrien dauert nun schon fast länger an als beide Weltkriege zusammen, im kommenden Jahr sind es zehn Jahre. Die Folge: Jeder zweite syrische Mann, jede Frau und jedes Kind wurden seit Beginn des Konflikts 2011 gewaltsam vertrieben – oft mehr als einmal. Die Syrer*innen sind damit die größte Flüchtlingsgruppe der Welt. Länder die selbst höchst instabil sind, wie der Libanon oder Irak, haben Flüchtlinge aus Syrien aufgenommen. Vergleicht man die Zahl der Flüchtlinge mit der Einwohnerzahl, hat Libanon weltweit am meisten Flüchtlinge aufgenommen. Jede(r) siebte Einwohner(in) ist dort inzwischen ein Flüchtling.  Direkt dahinter liegt Jordanien, das eines der Länder ist, das am stärksten von der Krise in Syrien betroffen ist.

Wer keinen anderen Ausweg und keine Perspektive sieht, wagt den Weg zur tödlichsten Grenze Europas. Im Jahr 2020 sind bislang 83.079 Flüchtlinge und Migrant*innen über das Mittelmeer nach Europa gekommen. Ankunftsländer sind Spanien, Italien, Griechenland, Malta und Zypern. Bei der lebensgefährlichen Überfahrt ließen in diesem Jahr bislang über 900 Menschen ihr Leben oder werden vermisst. Immer wieder werden Initiativen, wie Sea-Eye oder SOS Mediterrane für ihre Seenotrettungseinsätze kritisiert. Dabei ist Seenotrettung selbstverständlich und eine Verpflichtung unter internationalem Recht. Von der zentralen Mittelmeerroute, von Libyen aus, stechen immer weniger Menschen in See als in den letzten Jahren, was hauptsächlich mit den verstärkten Kontrollen vor der libyschen Küste zu tun hat. Nur noch wenige Flüchtlinge kommen von der Türkei nach Griechenland. In diesem Jahr bislang 15.000 (2015: rund 1 Million). Die Gründe dafür sind die Corona-Pandemie, die fast alles zum Erliegen brachte, und die Kontrollen vor der türkischen Küste. 

Was wir in diesem Zusammenhang von den Mittelmeer-Anrainerstaaten und von ganz Europa immer wieder einfordern müssen, ist eine verbesserte Koordination, Solidarität und das Teilen von Verantwortung. Trotz und gerade wegen der schwierigen Umstände für die Länder im Kampf gegen die Corona-Pandemie, müssen der Schutz von Leben und die Bewahrung der Menschenrechte höchste Priorität haben.



Die UNO-Flüchtlingshilfe ist der nationale Partner des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen (UNHCR).

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