von Felix Neumann, 16.12.09
In den Kommentaren zur Debatte um das Schweizer Minarettverbot hat sich eine Diskussion darüber entwickelt, ob Direkte Demokratie ein Anwendungsfall der »Weisheit der Massen« ist. Meine These: Dem liegt eine Fehleinschätzung zugrunde.
Das Konzept der Weisheit der Massen basiert darauf, daß unterschiedliche Informationen integriert werden. Je größer die Gruppe ist, desto mehr unterschiedliche Informationen kommen zusammen. Informationen, die zur Verfügung stehen, weil sie gelernt wurden, weil man sie gehört hat, weil man durch geographische Nähe Informationen hat, weil man durch Ferne einen Außenblick hat, weil man sich gezielt über das Thema informiert hat. Jeder einzelne hat nur einen Bruchteil der Informationen, die der Masse (abstrakt) als Ganzes zur Verfügung steht.
Das Phänomen ähnelt der Preisbildung im Markt, wie sie Friedrich August von Hayek in “The Use of Knowledge in Society“ beschrieben hat. Mittels Weisheit der Massen kann das Problem, daß die Gesamtheit des Wissens nicht zur Verfügung steht, gelindert werden. Hayek formuliert das Ideal für das Wirtschaftssystem so:
If we possess all the relevant information, if we can start out from a given system of preferences, and if we command complete knowledge of available means, the problem which remains is purely one of logic.
Das Problem ist nun, daß die Informationen nicht gesammelt zur Verfügung stehen, die für eine objektiv richtige logische Entscheidung nötig werden. Sowohl bei der Preisbildung im Markt wie bei der Anwendung der Weisheit der Massen geht es darum, prinzipiell objektiv Entscheidbares festzustellen: Im Markt, eine knappe Ressource zuzuteilen, bei der Weisheit der Massen darum, ein Sachurteil zu fällen. Was mittels Weisheit der Massen entschieden werden kann, sind Fragen, bei denen es eine richtige Antwort gibt.
Werturteile dagegen lassen sich über solche Mechanismen nicht entscheiden – außer, man ist, etwa mit Rousseau, der Ansicht, daß die Mehrheit die letztgültige Rechtsquelle ist oder sie zumindest sicher zu erkennen vermag.
Natürlich gibt es auch im Bereich des Politischen eine Art Normalverteilung; die gruppiert sich aber nicht um das »Richtige«, sondern um einen gesellschaftlichen Konsens, der sich mit der Zeit ändern kann und keine Wahrheit darstellt. Entscheidungsverfahren, die der Mehrheitsregel folgen, dienen nicht der Wahrheitsfindung, sondern der Konsensfindung – wobei der Konsens darin besteht, daß die Minderheit den Mehrheitsentscheid akzeptiert. In der Politik geht es nicht um Sachurteile, sondern um Werturteile. Natürlich basiert Politik auf Sachurteilen; die eigentliche Arbeit beginnt aber erst beim Werturteil.
Die romantische Vorstellung, daß die direkte Demokratie der repäsentativen durch die Weisheit der Massen auf einer inhaltlichen Ebene überlegen sei, speist sich aus dieser Verwechslung von Sachurteil und Werturteil.
Die Entscheidung wird nicht durch die Weisheit der Massen richtiger – sie unterscheidet sich nur durch das Verfahren. Ob zum Guten oder zum Schlechten, ist eine andere Frage. Daß »das Volk« gesprochen hat, erzeugt weder eine höhere Legitimität als ein Parlamentsentscheid noch kann das in irgendeiner Form eine Korrektheit, Angemessenheit oder gar Wahrheit der Entscheidung begründen. Wahrheit ist keine Kategorie des Politischen.
Dieser Beitrag erschien zuerst bei fxneumann.