von Klaus Vater, 26.3.19
Was muss Mensch können, um wählen zu dürfen? Muss er wissen, wie der Bundestag funktioniert? Wie der Bundespräsident heißt? Muss er mittlere Reife haben oder Abitur? Heterosexuell veranlagt sein? Lohn und Einkommensteuer zahlen? In Deutschland geboren sein? All das sind komische Fragen, gilt doch die einfache Regel: »One Man, one Vote«.
Aber so einfach scheint es nicht zu sein. Für die Wahlen zum europäischen Parlament, demnächst abzuhalten, gilt das so nicht. Da gilt: Je größer und bevölkerungsreicher ein Land ist, desto weniger „wert« ist die einzelne Stimme, weil die Zahl der Euro- Abgeordneten (wenigstens sechs pro Land, maximal 96) begrenzt und diese begrenzte Zahl unter den Bevölkerungen der wählenden Länder aufzuteilen ist. »Degressiv-proportional« heißt das, festgelegt im Lissaboner Vertrag.
In der Bundesrepublik sichert das Grundgesetz, dass nicht nur »one Man, one Vote« gilt, sondern es garantiert in Artikel 38 auch, dass jede Stimme den gleichen Wert hat.
Eigentlich müssten wir alle uns rege für Wahlrecht und Stimmengewicht interessieren und auch stolz darauf sein, dass wir in Deutschland die Gleichheit an diesem entscheidenden Punkt so klar geregelt haben. Aber Wahlrechtsfragen liegen im »Ranking« von Interesse und Beachtung noch weit hinter der zweiten Bundesliga.
Das wirkt offenbar auf manche wie eine Einladung: Ein Hermann Behrendt aus der nordrhein-westfälischen AfD wollte Bundes- und Landesparlamente abschaffen, weil in denen überwiegend »Arbeitsscheue« säßen. Behrendt wollte seine Idee als »Realutopie« verstanden wissen, nachdem sich Kritik regte. Nur einen kurzen Aufschrei gab es, als 2008 der Bundesvorsitzende des Rings Christlich-Demokratischer Studenten, RCDS, Gottfried Ludewig ein doppeltes Stimmrecht bei Bundestagswahlen für »Leistungsträger« forderte. Er meinte, die Balance im Land sei verloren gegangen. Heute treibt er als Abteilungsleiter im Bundesgesundheitsministerium die Digitalisierung voran. Den Bundesvorsitz verlor er anschließend. Heiner Geißler meinte damals, man solle ihm dafür gewiss nicht auf die Schulter klopfen, aber 25-Jährige könnten mitunter schon mal Unsinn reden.
Der Volkswirtschaftsprofessor Roland Vaupel lief eine ähnliche Strecke ab. Er wollte die »Leistungseliten« im Land vor einem zu großen Einfluss der Mehrheit schützen. Nach Beispielen gefragt, wies er auf Solons antike Verfassung für Athen mit den vier Wählerklassen hin. Für die Nicht-Eliten hatte er die vierte, die unterste Klasse aus Lohnabhängigen ohne nennenswertes Vermögen im Sinn. Die hatte politisch nix zu sagen. Frauen waren sowieso ausgeschlossen.
Auch der Publizist Konrad Adam, später AfD-Vorstand, versuchte sich 2006 am Wahlrecht. Mit dem Aufkommen der industriellen Revolution und der Massenarbeitslosigkeit sei die »Fähigkeit, aus eigenem Vermögen für sich und die Seinen zu sorgen, als Voraussetzung für das Wahlrecht entfallen«. Ob das ein Fortschritt war, sei »mit einigem Recht (zu) bezweifeln«. Sein zeitweiliger AfD- Kombattant Hans-Olaf Henkel bescheinigte Adam später laut Spiegel online höhnisch »schrullige« Erklärungen und »total von der Rolle« zu sein. Andreas Kemper hat diese »Fälle« in seinem Blog alle fein säuberlich aufgeführt.
Im Dezember 2018 hatte der thüringische AfD- Landtagsabgeordnete Stefan Möller unter dem Protest des Landtages gefragt, ob geistig behinderten Menschen das Wahlrecht gegeben werden solle. Der AfD-Mann zur Begründung: »Das Wahlrecht hat einen viel zu hohen Wert, um Experimente solcher Art zu machen.«
Experimente? Am 21. Februar 2019 entschied das Bundesverfassungsgericht, dass der pauschale Ausschluss von betreuten, geistig behinderten Menschen verfassungswidrig sei: »Diese Entscheidung ist unanfechtbar.«
Im Bundestag war der Ausschluss dieser geschätzt 80 000 bis 85 000 Menschen lange erörtert worden. Die große Koalition hatte die Beseitigung des Ausschlusses in die Koalitionsvereinbarung aufgenommen. Nun reagierte er rasch: Am 16. März verabschiedete er eine entsprechende Änderung von Bundes- und Europa-Wahlrecht. 345 Abgeordnete unterstützten den Antrag der Regierungskoalition, 240 enthielten sich der Stimme. Warum die sich enthielten, ist nicht so recht klar. Zieht man die 94 AfD- Bundestagsmitglieder ab, bleiben immer noch 146 Skeptiker oder Ablehnende.
Bereits im April 2017 schrieb ARD-Korrespondent Mathias Zahn mit Blick auf den Ausschluss: »Im Parlament gibt es Abgeordnete, die das für richtig halten. Einige Innenpolitiker befürchten, dass das Wahlrecht von den Betreuern missbraucht werden könnte – zum Beispiel, indem sie für Wachkoma-Patienten wählen.« Er zitierte die Bundesvorsitzende der Lebenshilfe, Ulla Schmidt in diesem Zusammenhang: Wenn jemand Wachkomapatient sei, könne der nicht wählen. Und wenn ein anderer für ihn wähle, mache der sich strafbar. Sie empfahl jetzt: Wer von den bisher Ausgeschlossenen sich nicht sicher sei, ob sein Name in das Wahlregister aufgenommen wurde, solle das nachprüfen.
Bis kurz vor der entscheidenden Abstimmung im Bundestag hätten Beamte des Bundesinnenministeriums befürchtet, es gebe dann eine Wahlbeteiligung durch Menschen, die wahlunfähig seien. Daher wurde darüber nachgedacht, ob nicht eine Wahlfähigkeitsprüfung erforderlich sei. Der Einfluss dieser Leute habe bis in die Spitze der Unionsfraktion gereicht, ist zu hören.
Peter Fölsch, Mitglied im Vorstand des schleswig-holsteinischen Richterbundes und ehemals Betreuungsrichter, sagt hingegen, er habe als langjähriger Betreuungsrichter niemandem tatsächlich das Wahlrecht entzogen. Es gebe keine Kriterien, nach denen gemessen werden könne, ob eine Person eine Wahlentscheidung treffen könne oder nicht.
Die Wahlrechtsänderung hat nur kurzzeitige Beachtung gefunden. Wenige Tage später ist sie fast vergessen. Vergessen wäre aber völlig falsch. Bei so viel Misstrauen gegenüber menschlicher Vielfalt und menschlichem Können gilt es aufzupassen, dass nicht doch am Ende eine wie auch immer geartete bürokratische Hürde installiert wird. Devise: Was muss der Mensch können, um wählen zu dürfen.