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“Was macht die Piraten so attraktiv?” – Edmund Stoiber zur Lage der Medienpolitik

von , 2.6.12

Die Einführung der Haushaltsabgabe, der Aufstieg der Piraten und das Aufkommen neuer Akteure in der Distribution audiovisueller Inhalte – der ehemalige bayerische Ministerpräsident Edmund Stoiber erwartet, dass diese Entwicklungen sich bis 2013 in einer intensivierten medienpolitischen Debatte auswirken werden.

Lutz Hachmeister: Herr Stoiber, Sie haben im Oktober 2011 in einem Brief an die Bundeskanzlerin und die Ministerpräsidenten der Länder den Zustand der Medienpolitik in Deutschland deutlich kritisiert. In Ihrem Brief ist die Rede davon, dass keine politische Partei der Medienpolitik eine „erkennbar hohe Priorität“ beimesse, es sei ein „Regulierungsdickicht“ entstanden und ein ermüdender „Wanderzirkus“ der Medienforen.
Da stimmen Ihnen viele Fachkenner sicher zu, könnten aber auch sagen, Sie kritisierten nun als Interessenvertreter eines kommerziellen Medienunternehmens das, was Sie selbst mit angerichtet haben…

Edmund Stoiber: Nein. Sie müssen wissen, dass mich medienpolitische Themen seit den 1970er Jahren beschäftigt haben. Elisabeth Noelle-Neumann hat mit ihrer Theorie der „Schweigespirale“ mein Interesse für die Wirkungen von Massenmedien geweckt. Also etwa für die Frage, ob aktive Minderheiten schweigende Mehrheiten vor sich hertreiben können, ob sie ein Meinungsklima schaffen oder umdrehen können. Es gab die Debatte um die Medien als „heimliche Erzieher“ neben den Kirchen, Parteien und Gewerkschaften.

Als relativ junger Generalsekretär der CSU war ich auch für die Medienpolitik zuständig, habe übrigens sehr bald schon neben dem Pressereferenten einen Referenten für Medienpolitik berufen. Und es gab dann Ende der 1970er, Anfang der 1980er Jahre diese Diskussionen um die technisch mögliche, technisch auch erzwungene Öffnung des Rundfunksystems hin zur Beteiligung privater Anbieter, vor allem durch die Satellitenkommunikation. Das waren ja auch ideologisch sehr aufgeladene Auseinandersetzungen.

Sie waren ein Befürworter dieses Systemwandels, die SPD hatte mit Peter Glotz zunächst nur einen Politiker, der das für unabwendbar hielt. Auch jemand, der aus Bayern kam.

Ja, Peter Glotz, später war dann Wolfgang Clement mein direkter Ansprechpartner. Es gibt da diese nette Anekdote: Ministerpräsident Johannes Rau wollte seinen Chef der Staatskanzlei zu den Ministerpräsidentenkonferenzen über Medienfragen schicken. Da hat sein Kollege Ernst Albrecht zu Rau gesagt: Entweder Sie oder keiner.
Rau hat dann erwidert, der Stoiber sitzt ja auch hier. Worauf Albrecht gesagt hat, ja, der kann aber auch entscheiden. Es war so, dass mir Franz-Josef Strauß dieses Feld ausdrücklich überlassen hat. Man kann hier, glaube ich, Ideologen und Pragmatiker unterscheiden. Bei der SPD gab es zum Beispiel den Giani …

… Paul-Leo Giani, eine Zeitlang Chef der hessischen Staatskanzlei unter Holger Börner und dann Rechtsberater von Alexander Kluge …

… ja, der hat immer gesagt, auch wenn sich die technischen Voraussetzungen ändern, ist das öffentlich-rechtliche System ein Wert an sich, ist hehr und edel, alles andere wird nur zu einer Verschlechterung der Mediensituation führen. Ich habe mich – auch verglichen mit Ernst Albrecht oder Gerhard Stoltenberg, die den öffentlich-rechtlichen Rundfunk viel aggressiver angegriffen haben – immer für das duale System ausgesprochen, das wir dann ja auch bekommen haben. Ich wollte nie den Bayerischen Rundfunk oder das ZDF in Frage stellen, wie Albrecht oder Stoltenberg.

 

Medienentwicklung und Wanderzirkus

 

Da haben Sie ja auch im Umlageverfahren sichere Arbeitsplätze vor der Haustür und immer einen gewissen politischen Einfluss. Das haben dann später auch andere Ministerpräsidenten der Union begriffen – niemand hat den WDR so gelobt wie Jürgen Rüttgers in seiner Amtszeit in Nordrhein-Westfalen.

Gut, die lokale und regionale Berichterstattung lohnt sich für große private Sender vielleicht nicht so sehr. Da ist ein öffentlich-rechtlicher Landessender für die Bundesländer natürlich identitätsbildend, politisch und kulturell. Keine Frage. Aber in den 1980er Jahren habe ich gesehen, wir können es nicht so machen wie die Österreicher, die einzig ihren ORF hochhalten und kaum Arbeitsplätze im kommerziellen Fernsehen generiert haben.

Für mich ging es auch um wirtschaftliches Potenzial, eingebunden in eine allgemeine moderne Technologiepolitik. Leo Kirch und seine Gruppe haben dann in Unterföhring ja auch einiges aufgebaut, aus dem dann die ProSiebenSat.1-Gruppe hervorgegangen ist. Das ist politisch, wenn Sie so wollen, auch ein Kind von mir. Ich wollte immer einen großen elektronischen Medienanbieter in München haben. Das ist ja auch gelungen. Wolfgang Clement hatte ähnliche Interessen für den Standort Köln.

Das hat sich in diesen Veranstaltungen manifestiert, Medientage in München, Medienforum in Köln, bei denen Sie heute den Wanderzirkus immergleicher Experten und Argumente kritisieren.

Entschuldigen Sie, da muss man schon auf die Unterschiede aufmerksam machen. Die Medientage München sind klarer Marktführer, ein Pflichttermin für die gesamte Branche. In meiner politisch aktiven Zeit haben sich die Ministerpräsidenten stärker für die Medienpolitik interessiert, und das haben diese Foren auch repräsentiert. Da wurde Medienpolitik gestaltet.

Biedenkopf war ein großer Diskutierer, Bernhard Vogel war eine Stimme von Gewicht, und das gilt natürlich auch für Helmut Kohl als Kanzler. In den Medienkommissionen der Parteien ist mit viel Herzblut und Prominenz diskutiert worden, Sie haben ja Peter Glotz für die SPD genannt, ich könnte etwa Schwarz-Schilling für die CDU-Seite anfügen. Bei der CDU gab es in den letzten Jahren einige Wechsel. Nacheinander standen Oettinger, Krautscheid und von Boetticher an der Spitze des Medienpolitischen Expertenkreises.

Keine allzu schillernden Namen.

Moment. Jetzt macht das der langjährige Bundesminister Franz Josef Jung. Für die unionsgeführten Länder koordiniert der engagierte Ministerpräsident Stefan Tillich die Medienpolitik. Aber insgesamt muss mehr in das politische Bewusstsein rücken, dass Medien wie nichts anderes unsere Gesellschaft prägen und diese Fragen in das Zentrum der Politik gehören. Jedenfalls kam Thomas Ebeling als Vorstandsvorsitzender von ProSiebenSat.1 auf mich zu und hat gefragt, ob ich mich in einem Beirat medienpolitisch einbringen würde. Ebeling hat gesagt, bei Ihnen wissen wir aus Ihrer Zeit als Ministerpräsident, dass sie sich in der Medienpolitik engagieren und eigene Ideen haben.

An Thomas Ebeling hat mich beeindruckt, dass er als CEO aus einer ganz anderen Branche sich doch sehr für die politischen und gesellschaftlichen Wirkungen dessen interessiert, was die Sender von ProSiebenSat.1 so ausstrahlen. Er hatte auch ganz bestimmte Vorstellungen für die Besetzung des Beirats. Er wollte jemanden haben, der das Thema Nachhaltigkeit besonders vertritt, sein Wunschkandidat war Klaus Töpfer von der Ethikkommission.

Wäre jetzt beinahe Bundespräsident geworden.

Oder im Bereich Sport, da sagte er: Wie wäre es mit Frau Dr. Christine Theiss, der gesellschaftlich engagierten Kickbox-Weltmeisterin. Ich habe dann mit ihr gesprochen, mit Markus Lüpertz, dem herausragenden Maler und Bildhauer, mit dem großen Präsidenten Wolfgang Herrmann von der Eliteuniversität TU München, mit der kreativen Filmschaffenden Minu Barati-Fischer, mit der leidenschaftlichen Geschäftsführerin der Kinder- und Jugendstiftung Heike Kahl und dem Grandseigneur des Journalismus Prof. Dieter Kronzucker.

Mit Klaus Töpfer habe ich mehrfach gesprochen, um ihn zu überzeugen, dass es ein wichtiges Signal ist, wenn sich ein Medienunternehmen einen Beirat holt, der über public value und gesellschaftliche Verantwortung diskutiert. Und die ersten Beiratssitzungen haben ja auch gezeigt, dass wir uns nicht nur als schmückenden Debattierclub verstehen.

 

Müssten wir das Medienkonzentrationsrecht verändern?

 

Sie haben den Brief an die Kanzlerin also auch mit Blick auf die besonderen Regulierungsprobleme geschrieben, mit denen sich ProSiebenSat.1 konfrontiert sieht?

Zunächst einmal wollte ich dazu beitragen, dass Medienpolitik wieder mehr Gewicht beigemessen wird. Dann geht es schon auch um Fragen der veränderten wirtschaftlichen und technischen Umwelt für ein kommerzielles Medienunternehmen.

Nehmen Sie die Landschaft der Media-Agenturen, von denen ProSiebenSat.1 ja ein Stück weit abhängig ist, die Konzentrationsprozesse, die Preisgestaltung. Es gibt durch die Entwicklung des Internets eine ganze Gruppe neuer, sogar globaler Wettbewerber in der Distribution audiovisueller Inhalte. Denken Sie an Google mit seinem Dienst YouTube. Müssten wir da nicht das Medienkonzentrationsrecht verändern?

Schließlich bewegt mich, dass die öffentlich-rechtlichen Anstalten immer weniger jüngere Leute erreichen, die Zahlen sind ja dramatisch – die Privaten hingegen schon, aber nicht unbedingt mit politischen Sendungen. Was bedeutet das für die Demokratie? Demokratie braucht Demokraten, die jungen Leute müssen ein politisches Feeling bekommen, und da kann das private Fernsehen einen bedeutenden Beitrag leisten. Der Fernsehkonsum nimmt ja, trotz Internet, immer noch zu. Auch das private Fernsehen kann zu gesellschaftlicher Toleranz aufrufen und versuchen, dafür Formate zu entwickeln, aber die müssten dann etwas anders aussehen als das Dschungelcamp.

Ist es nicht so, dass die bisherige föderale Medienpolitik spätestens mit dem Siegeszug des Internets an ihr Ende gekommen ist, dass man zumindest stärkere Bund-Länder-Kooperationen bräuchte?

Jahrbuch Fernsehen

Ich bin ein großer Anhänger der Subsidiarität und des föderalen Wettbewerbs. Aber natürlich haben Sie Recht, dass wir auch über Veränderungen in der Administration der Medienpolitik nachdenken müssen. Europa spielt heute beim Wettbewerbs- und Urheberrecht eine wesentlich stärkere Rolle. Wir haben eine Gemengelage zwischen den verschiedenen Regulierungsregimen, die zu dem von mir beklagten Regulierungsdickicht beigetragen hat. Ich war ja zusammen mit Franz Müntefering Vorsitzender der Föderalismuskommission I, die das Dickicht an Verflechtungen zwischen Bund und Ländern generell lichten sollte. Dabei haben wir auch einiges erreicht. Aber derzeit geht die Diskussion wieder eher in die entgegengesetzte Richtung.

Zum Beispiel  haben wir das Kooperationsverbot zwischen Bund und Ländern in der Bildungspolitik festgeschrieben, jetzt will die Koalition das wieder ändern oder aufheben. Da hat die Wissenschaftsministerin Schavan ihre Haltung gegenüber der früheren Kultusministerin Schavan verändert. Es gibt Bestrebungen hin zu einem bundeseinheitlichen Abitur. Sie sehen also, die Dinge sind im Fluss, und vielleicht lässt sich ja manches sogar auf die Medienpolitik übertragen. Das war der Sinn meiner Intervention bei Angela Merkel, die Gespräche werden fortgesetzt, auch mit den Ministerpräsidenten wie etwa Seehofer, Tillich, Beck, Lieberknecht, Bouffier, Carstensen oder Scholz.

Vielleicht bräuchte man in Bundeskanzleramt jemanden, der das Thema stärker koordiniert, nicht im Sinne einer vertikalen Lenkung, wie es Otto Lenz 1953 mit Adenauer versucht hat, sondern im Sinne einer Moderation. Herrn Pofalla interessiert es nicht so sehr.

Bernd Neumann macht es schon in gewisser Weise.

Ja, aber hat nur ein halbes Ministerium, ohne ausreichendes Budget und medienpolitischen Unterbau. Da macht er lieber Filmpolitik, da gibt es mehr Glamour.

Da wird er ja auch hoch geachtet. Die Filmwirtschaft sagt ja heute zurecht, wir lassen nichts kommen auf Bernd Neumann. Das hätte er sich nicht träumen lassen, als er noch in Bremen gegen Hans Koschnick und Henning Scherf angetreten ist. Ich kenne ihn ja noch aus der Zeit.

 

Ist es Freiheit oder sieht es nur so aus wie Freiheit?

 

Es hat sich im Bundestag eine netzpolitische Kultur entwickelt, von Abgeordneten, die sich über die Fraktionsgrenzen hinweg über Twitter verständigen und ziemlich vorbehaltlos die Freiheit des Internets hochhalten, so eine Art netzpolitischer Querfront. Ich habe den Eindruck, dass das die alte Staatskanzlei-Medienpolitik weiter marginalisiert. Das Internet, nehmen wir es mal als Gesamtmedium, erscheint schicker, aktueller, jugendlicher.

Absolut, wobei ich noch einmal darauf hinweise, dass auch der Fernsehkonsum zunimmt. Aber das Internet hat eine neuartige Form von Öffentlichkeit ausgebildet mit der unglaublichen Chance, sich sofort allen auf der ganzen Welt mitzuteilen: Ich bin mit dem falschen Fuß aufgestanden, ich habe Bauchweh, oder verbreite politische Polemik. Und die Follower antworten dann und multiplizieren das. Die Gefahr, die ich darin sehe, ist die Tendenz, sich völlig nackt zu machen, und wenn das auch noch eingefordert wird wie von den Piraten, kann das auch eine Aufhebung von historischen Errungenschaften bedeuten, zum Beispiel des Schutzes der Menschenwürde.

Also: Ist es Freiheit oder sieht es nur so aus wie Freiheit? Ich halte es für hoch problematisch, wenn Urheberrecht und geistiges Eigentum auf dem Altar der Netzfreiheit komplett geopfert werden sollen. Das wäre auch die Zerstörung unseres kreativen Potentials. Wenn ich Ihnen jetzt ihr Handy wegnehme, würde jeder sagen: das ist Diebstahl, weil es gegenständlich ist. Wenn ich Ihre Ideen oder Texte oder Melodien klaue, dann dient es manchen radikalen Mitgliedern der Netzgemeinde zufolge der Vermehrung von Weltwissen. Netzpolitik heißt auch, auf einem völlig neuen Level die Chancen und Risiken digitaler Kommunikation zu diskutieren. Man kann sie aber von der Medienpolitik nicht trennen.

Waren Sie verblüfft, als die Piratenpartei in Berlin auf neun Prozent der Wählerstimmen gekommen ist, die FDP auf 1,9 Prozent?

Dass sie so hoch abschneiden, habe ich nicht geglaubt, hat aber auch keiner geglaubt. Ich war mir aber bewusst, dass sie in Berlin locker über fünf Prozent kommen. Wenn man lange Politik macht, dann spürt man, da ist so eine Art Lebensgefühl, das erinnert ein wenig an die Etablierung der „Grünen“ in den 1970er Jahren. Das wurde schon bei der Europawahl spürbar.

Dann ist es ja um die Demokratie nicht so schlecht bestellt, wenn sich dieses Lebensgefühl im parlamentarischen Raum in Form einer Partei manifestiert.

Aber inzwischen gibt es auch so eine Art Realitätsschock bei den Piraten und manche Sympathisanten werden schon nachdenklich. Man muss auch fragen: Wer sind diese Leute, was macht die Piraten so attraktiv? Das sind ja nicht nur Netzaffine, die jegliche Reglementierung oder Regulierung des Internets ablehnen. Damit haben sich die anderen Parteien noch nicht genügend beschäftigt, auch inhaltlich …

… Peter Altmaier versucht ja zumindest, mitzutwittern.

Ja, warum auch nicht. Netzkompetenz gehört heute auch zu politischer Verantwortung. Das Internet ist ein Thema für die gesamte Gesellschaft. Es gibt inzwischen auch 80jährige, die machen eine Homepage auf, so wie man früher noch einmal ein Bäumchen gepflanzt hat.

 

Europäische Technologiepolitik im Zeitalter des globalen Internet

 

Das Internet ist ja nicht nur ein neues publizistisches Medium, sondern eine allgemeine Informationstechnologie. Energie, Transport und Kommunikation sind hier ja nicht mehr zu trennen. Es ist angewandte und jetzt alltägliche Kybernetik. Die großen Unternehmen, die Märkte machen und treiben, sitzen zumeist in Kalifornien oder in anderen Gegenden der USA: Google, Apple, Facebook, Amazon.

Franz-Josef Strauss war jemand, der seinerzeit mit einer europäischen Initiative gegen die vollständige Beherrschung der Luftfahrtindustrie durch die USA gewirkt hat. Man hat nicht das Gefühl, dass es eine vergleichbare Internet-Offensive in Europa oder gar in Deutschland gäbe…

Ich habe das ja hautnah miterlebt, das besondere Engagement von Franz-Josef Strauß mit der Vision: Das Auto ist gut und schön, aber wir brauchen auch eine eigene Luftfahrtindustrie. Das hat in den 1960er Jahren nicht jeder gesagt, da war Passagierfliegen noch ein absoluter Luxus, da fing es erst an mit den touristischen Flügen nach Mallorca. Ich sehe auch mit Sorge, dass die großen amerikanischen Online-Konzerne durch Börsenkapitalisierung eine enorme Marktmacht erhalten, die auch nach Europa und Deutschland hineinwirkt.

Es ist auch deshalb wichtig, dass Frau Reding die europäischen Standards in Sachen Datenschutz hochhält. Auf der anderen Seite müssen die einzelnen Mitgliedstaaten der EU aufpassen, dass das keine ausschließliche Domäne der Europäischen Kommission wird. Aber Sie haben Recht, wir bräuchten auch mehr  koordinierte europäische Technologiepolitik im Zeitalter des globalen Internets.

Es kann ja nicht an der mangelnden Kreativität der Naturwissenschaftler und Informatiker liegen. Das World Wide Web ist am CERN in der Schweiz bei Genf von europäischen Forschern entwickelt worden.

Erfolgreiche Technologiepolitik heißt: Man schafft günstige Bedingungen, damit aus Entdeckungen und Erfindungen möglichst viele Patente und marktfähige Innovationen hervorgehen. Nur so kann man sich im Weltmarkt behaupten. Es ist dabei schon ein Problem, dass die Generation der heute verantwortlichen Politiker nicht mit dem Internet sozialisiert worden ist, es aber die gesellschaftliche und politische Kommunikation alltäglich prägt.

Viele Politiker nutzen das Internet, aber sie verstehen es nicht unbedingt. Ich gehöre ja auch noch zu denen, deren Tag mit der Lektüre der gedruckten Zeitung anfängt, ich liebe das und verteidige das – auch wenn ich selbst die neuen Medien intensiv nutze. Ich weiß, dass es jüngere Leute gibt, bei denen der gesamte Kontakt zur Welt durch Facebook gefiltert und vermittelt wird.

Noch einmal zum öffentlich-rechtlichen Rundfunk, der mit fast neun Milliarden Euro Budget in Deutschland sehr komfortabel ausgestattet ist. Es gibt diese ewige Debatte um Kernaufgaben des Systems, um die Ausweitung der Sparten- und Digitalsender bei ARD und ZDF, um eine faire Berücksichtigung der Produzenten- und Autorenrechte. Das sind Dinge, die nur medienpolitisch geregelt werden können, ich habe aber nicht den Eindruck, dass dies in letzter Zeit mit besonderer Energie und Präzision passiert.

Es ist ja auch nicht einfach. Es gibt die Entwicklungsgarantie durch das Bundesverfassungsgericht, die natürlich von den öffentlich-rechtlichen Intendanten besonders großzügig ausgelegt wird. Jetzt haben wir diese 25 öffentlich-rechtlichen Fernsehkanäle, da reicht dann Phoenix nicht mehr, sondern es muss auch noch ZDFinfo geben und noch einen Jugendkanal, während für private Anbieter das Medienkonzentrations- oder Kartellrecht ziemlich restriktiv ist.

Das hat ja auch in Sachen ProSiebenSat.1 und Springer eine Rolle gespielt. Da ist schon nach der Balance zu fragen. Es ist ja ein erster Ansatz, dass der Kollege Beck diese digitalen Spartensender jetzt in Frage stellt.

 

Medienpolitik ist immer auch Gesellschaftspolitik

 

Er hat sie aber zunächst mal in den Rundfunkstaatsvertrag, oder vielmehr in einen dieser zahlreichen Änderungsverträge, hineinschreiben lassen. Soviel zur Konsistenz und Logik der Medienpolitik.

Immerhin greift er jetzt einen Punkt auf, der auch von den Vertretern der privaten Medien immer wieder thematisiert worden ist. Ich bin auch der Meinung, dass das öffentlich-rechtliche Fernsehen erstaunliche Summen für Sportrechte und -übertragungen ausgibt. Ich bin ein leidenschaftlicher Fußballfan, sitze im Aufsichtsrat von Bayern München, der mit den Sportrechten hervorragend wirtschaftet. Aber wenn ich sehe, dass ARD und ZDF 600 Millionen Euro im Jahr allein für Fußballrechte aufwenden und dann mit Gebührengeldern ProSiebenSat.1 bei der Rechtevergabe der Champions League erheblich überbieten und aus dem Fußballmarkt drängen …

Mein Vorstandsvorsitzender Karl Heinz Rummenigge sagt natürlich: toll! Je mehr, desto besser! Ich meine, es sind dieselben 90 Minuten Fußballspiel, mal besser, mal schlechter kommentiert, das könnten die Privaten nun wirklich auch. Ich bin mir ziemlich sicher, dass die neue Haushaltsabgabe bei den Bürgern zu einer Diskussion auch über die Budgets und die Mittelverwendung der öffentlich-rechtlichen Sender führen wird. Wir werden spätestens zur Bundestagswahl eine intensivierte medienpolitische Debatte bekommen …

… schon wegen der Piraten.

Nicht nur deshalb. Ich möchte Ihnen noch einen Hinweis geben, der auch unseren Beirat beschäftigt. Medienpolitik ist immer auch Gesellschaftspolitik. Die privaten Sender könnten und sollten sich mit der Frage auseinandersetzen, warum es so viele Nichtwähler gibt. Dreißig bis vierzig Prozent. Ich sehe und höre immer diese Politbarometer, Deutschlandtrends, Umfragen von Emnid und Forsa, aber keiner sagt mir, wie viele Leute vorhaben, nicht zu den Wahlen zu gehen und warum.

Es gibt ja auch intelligente Leute, die nicht wählen, die sagen, mir geht es auf die Nerven, Ihr entscheidet nur nach taktischen Gesichtspunkten unter Ausblendung von Tatsachen und Konsequenzen. Oder die sagen, die Parteien unterscheiden sich kaum noch, was soll ich da mit meiner Stimme noch entscheiden. Ich fände es gut, wenn sich ein Sender in einem Format, das die Jugend wirklich anspricht, mit dieser Frage beschäftigt. Und ich habe den Eindruck, mit Thomas Ebeling gibt es einen Vorstandsvorsitzenden, den das auch interessiert.

In Ihrer Zeit als Ministerpräsident ist die Medienpolitik in Deutschland von zwei großen Unternehmensgruppen beeinflusst worden, von Kirch und Bertelsmann. Hatten Sie eine Ahnung, dass dieses Duopol durch den Zusammenbruch der Kirch-Gruppe hinfällig werden könnte?

Nein, ich habe mich um die Unternehmenszahlen der Kirch-Gruppe nicht gekümmert, habe Leo Kirch selbst vielleicht einmal im Jahr gesprochen. Natürlich gab es diesen Zielkonflikt zwischen Free-TV und Pay-TV, da hat Kirch ja beides zu bespielen versucht, und die Leute investieren nun mal nicht so ins Abonnementsfernsehen, wenn sie Sportübertragungen in Hülle und Fülle im Free-TV bekommen.

Jetzt ist das alles noch einmal komplexer geworden durch die Interessen der Telekom, die auch um Rechte mit bietet. Da gibt es ja schon Medienrechtler, die sagen, die Telekom ist doch zu 30% im Staatsbesitz, die dürfen doch gar keine Fußballrechte erwerben. Daran hatte ich zunächst gar nicht gedacht. Also, Sie sehen, dass wir eine Medienpolitik brauchen, die mit dieser Komplexität auch umgehen kann. Es sollte nicht soweit kommen, dass die privaten Medien, die fast acht Milliarden Euro im Jahr umsetzen und 18.000 Mitarbeiter haben, viele kreative Arbeitsplätze, unter die Räder kommen. Und wie wir am Beispiel anderer Industrien gesehen haben, kann das sehr schnell gehen, wenn man nicht aufpasst.

Das Interview stammt aus der aktuellen Ausgabe des Jahrbuch Fernsehen.

Lutz Hachmeister/Petra Maria Müller/Claudia Cippitelli/Dieter Anschlag/Uwe Kammann/Peter Paul Kubitz (Hrsg.): Jahrbuch Fernsehen 2012. Berlin 2012, 584 Seiten, 34,90 Euro

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