#Aufklärung

Warum sind große Teile der Gesellschaft über die Flüchtlingsberichterstattung so frustriert?

von , 15.8.17

Der sehr gelungene Beitrag von Gabriele Hooffacker bei CARTA – er rezensierte zwei Studien zum Thema „Flüchtlinge in den Medien“ – zielt auf zwei zentrale Fragen unserer Mediengesellschaft: Wie wirken Medieninhalte auf Denkweisen, Einstellungen und Meinungen der Rezipienten, d. h. der Bevölkerung oder großer Bevölkerungsgruppen? Und: Wie reagieren die Rezipienten auf das, was Ihnen die Medien als Informationen bieten? Fühlen sie sich als Staatsbürger korrekt informiert oder eher manipuliert? Folgen sie den Bewertungen der Newsmedien oder aus Medienfrust doch eher ihren Vorurteilen?

Diese Fragen standen auch am Ende meiner Studie über die „‘Flüchtlingskrise‘ in den Medien“. Hierzu habe ich ein paar Überlegungen in Form von Hypothesen vorgestellt und diskutiert. Ich greife diese Überlegungen hier auf, um Gabriele Hooffackers Erwägungen auf den Kern dieses Problems zu lenken und dabei ein paar Missverständnisse auszuräumen. Diese betreffen die sogenannten Medienwirkungstheorien, die den Zusammenhang zwischen Medieninhalten (=Ergebnisse meiner Studie) und Einstellungswandel in der Bevölkerung (=Daten aus Meinungsbefragungen) herstellen und plausibel machen sollen.

Warum es keine Medienwirkungstheorien gibt

Bei Lichte betrachtet sind dies gar keine Theorien, sondern „nur“ Modelle. Für unser Web-Zeitalter sind die Einflussgrößen zu zahlreich und zudem dynamisch. Darum gibt es keine generelle, empirisch gesicherte Ursachenerklärung darüber, wie Menschen, Gruppen und Bevölkerungsteile im Kontext ihres Medienkonsums Einstellungen und Überzeugungen herausbilden, verändern oder festigen (Deshalb finden sich meine Erwägungen zur Wirkung im letzten Teil der Studie, wo es um die Interpretation der Befunde geht).

Immerhin: Wirkungszusammenhänge können wir mit Hilfe plausibler Modelle als Hypothesen formulieren. Eines dieser Modelle ist die sogenannte „Schweigespirale“, die Noelle-Neumann bereits in den 1970er Jahren entwickelt hat und die in den folgenden Jahrzehnten kritisch diskutiert wurde (auch vom Schreibenden).

Allein der verborgene Hintergrund dieses Wirkungsmodells hat insofern Theoriecharakter, als Noelle-Neumann davon ausging, dass die Menschen in modernen Gesellschaften generell das Bedürfnis hätten, mit ihrer sozialen Umwelt im Einklang zu leben; deshalb würden sie, wenn es um soziale und politische Themen geht, etwa so denken (wollen) wie ihre Umwelt – heute würde man sagen: sie wollen in ihrem Milieu integriert sein. Dass sich beispielsweise Stadtmenschen gern dort niederlassen, wo sie sich sozial und kulturell „zuhause“ fühlen (wo sie sich also mit den vorgefundenen Lebensstilen und Denkweisen identifizieren können), ist gut erforscht und von der Stadtsoziologe frei nach dem Motto „Gleich und Gleich gesellt sich gern“ bestätigt worden.

Was leistet das Schweigespiral-Modell?

Noelle-Neumanns Modell geht aber noch einen Schritt weiter: Es folgt der sozialanthropologischen Theorie der Konsonanz. Diese behauptet, vereinfacht gesagt, dass den meisten Erwachsenen im Zweifelsfalle die Harmonie mit ihrer sozialen Nahwelt (Freunde, Bekannte, Kollegen usw.) wichtiger ist als die Selbstbehauptung, hier: als die Bekanntgabe einer abweichenden politischen Überzeugung. Wenn nun die tonangebenden Medien als sogenannte Meinungsführer eine bestimmte Auffassung lautstark vertreten, entstünde bei vielen Leuten der Eindruck, dass diese Auffassung die herrschende Meinung sei; würden sie eine deutlich abweichende Ansicht vertreten, käme es zu einem moralischen Dissens. Mit ihm erwachse die Angst, als Sonderling dazustehen und ausgegrenzt zu werden. Weil nun der Einklang mit den anderen das wertvollere Gut sei, würden jene, deren Einstellung von der herrschenden Meinung deutlich abweiche, verstummen – und damit das Gefühl, es gäbe nur eine vorherrschende „richtige“ Meinung, weiter verstärken.

Es versteht sich, dass vor allem selbstbewusste Intellektuelle diese These als Beleidigung empfanden und gegen sie anrannten. Nur: Wie groß ist der Anteil rational denkender, gefestigter und von sozialer Angst unberührter Persönlichkeiten am Insgesamt der Erwachsenenbevölkerung?

Das Doppelmodell Schweigespirale/Reaktanz

Ich will die Einwände gegen Noelle-Neumanns Modell hier nicht rekapitulieren (man kann sie in der Fachliteratur nachschlagen). Für unsere Medienwirkungsfrage ist bemerkenswert, dass dieses Modell das Verhalten sozial schwächerer Personen in Bezug auf Themen, die moralisch stark aufgeladen sind, empirisch erklären kann – erklärten konnte, denn im Unterschied zu jenen analogen Zeiten haben die meisten Erwachsenen heute über die sozialen Medien, über Twitter und dank vieler Kommentarfunktionen die Möglichkeit, ihre Ansichten kund zu tun (und sei es anonym, um als Individuum nicht aufzufallen). Vor allem die Frustrierten, die finden, dass ihre Meinung im öffentlichen Diskurs übergangen oder moralisch abgewertet werde, fühlen sich ausgrenzt, werden wütend und schimpfen öffentlich. Es scheint, als hätten – anders als zu Noelle-Neumanns Zeiten – heute viele Menschen das Bedürfnis (oder das Ventil), nicht zu schweigen, sondern ihre Ansichten zu artikulieren. Wir nennen dieses Verhalten Reaktanz, ein Muster aus der Welt der Sozialpsychologie.

Dabei bleibt der theoretische Hintergrund der Schweigespirale durchaus plausibel, weil die meisten dieser Wütenden – dies belegen aktuelle Studien – sich von der „herrschenden Meinung“ ausgegrenzt fühlen und sich jetzt im Umfeld Gleichgesinnter äußern. Auf einschlägigen Foren, in Blogs und Facebook-Gruppen fühlen sie sich bestärkt und irgendwie „im Recht“. Diese Foren funktionieren wie Echokammern, weil sie singuläre Positionen herausheben und fortlaufend stärken. Sie symbolisieren den Zerfall der Öffentlichkeit in isolierte Kommunikationsinseln – ein demokratietheoretisch bedenklicher Prozess, der gesellschaftliche Verständigung unterbindet und die Polarisierung im öffentlichen Diskurs der Gesellschaft weiter vorantreibt.

Was Gabriele Hooffacker vermutlich übersehen hat: Für unsere Wirkungsfrage habe ich beide Modelle, Schweigespirale und Reaktanz, zusammengeführt. Dieses Kombi-Wirkungsmodell erklärt plausibel, wie es kommt, dass große Teile der Bevölkerung den Informationsmedien nicht mehr trauen, nachdem sie erlebt haben, dass diese Medien eine elitäre „herrschende Meinung“ vertreten und abweichende Überzeugungen übergehen oder auch „von oben herab“ abkanzeln. Nebenbei: Für die Deutungskraft dieses Modells ist es belanglos, ob seinerzeit Frau Noelle-Neumann als Chefin des Demoskopischen Instituts Allensbach anhand der Schweigespirale zeigen wollte, dass viele Menschen ihre Parteipräferenzen nicht zu artikulieren wagten. Und für die Plausibilität dieses Modells – hier muss ich Gabriele Hooffacker widersprechen – ist auch der Umstand bedeutungslos, dass dieses Modell in den 1980er Jahren von der CDU für politische Zwecke instrumentalisiert wurde.

Die Anwendung des Doppelmodells in der Studie

Mit diesem wirkungstheoretischen Vorverständnis möchte ich die Verwendung dieses Doppelmodells in meiner Studie kurz erläutern. Es dient, wie gesagt, allein der sozialpsychologischen Deutung der Befunde.

In den vergangenen Jahren sind mehrere Studien publiziert worden, die sich mit der Qualität der Informationsmedien aus Sicht der Mediennutzer befassen. Hier ein paar Daten aus einer Erhebung durch die Universität Mainz, die methodisch zuverlässig ist (und auf die ich mich im Schlusskapitel meiner Studie beziehe): Im Herbst 2016 hielten mehr als die Hälfte der Befragten es für wahrscheinlich, dass sie von den Medien „systematisch belogen“ würden. Ebenfalls mehr als die Hälfte fand die Aussage durchaus realistisch, dass Medien und Politik die Bevölkerungsmeinung zu manipulieren trachten. Und rund drei Viertel der Befragten bestätigten den Eindruck, die Medien würden „grundsätzlich nicht über berechtigte Meinungen berichten, wenn sie diese für unerwünscht halten“ (37 Prozent stimmen „eher/voll oder ganz“ und 38 Prozent „teils, teils“ zu). Man kann daraus folgern, dass große Teile der Erwachsenenbevölkerung den Informationsmedien bei der Bewertung des Flüchtlingsthemas eine hohe Konformität mit der „vorherrschenden öffentlichen Meinung“ unterstellen, die sich mit der Linie der Bundesregierung deckt.

Die daraus abzuleitende Frage lautet:

Wie kann es sein, dass in der erwachsenen Bevölkerung der Informationsjournalismus quasi als Lautsprecher der politischen Elite wahrgenommen wird, während derselbe Journalismus sich für unabhängig und glaubwürdig hält?

Warum das Wirkungsmodell hilfreich ist

Es ist gewiss verfehlt, die Mehrheit der Deutschen für irregeleitete Neurotiker zu halten, die von Verfolgungsängsten geplagt werden. Naheliegender ist wohl die Annahme, dass die Befragten ein tiefsitzendes Unbehagen artikulieren. Dieses lautet etwa so: Die Nachrichten zeigen unisono eine elitäre Polit-Wirklichkeit, die mit der Lebenswelt der Menschen, mit ihren Erfahrungen und Problemen nicht viel gemein hat. Und ein beachtlicher Teil der Bevölkerung ist heute der Überzeugung, dass Informationen und Meinungen, die der Regierungslinie widersprechen, nicht publiziert, vielmehr systematisch ausgeblendet werden. Diese Meinung ist nicht aus der Luft gegriffen; sie deckt sich weitgehend mit unseren inhaltsanalytisch ermittelten Befunden.

Glaubt man früheren Erhebungen, dann hat sich diese Diskrepanz in den vergangenen Jahren dramatisch verstärkt, nämlich im Verlauf der von uns untersuchten Phase, während der die sogenannte Flüchtlingskrise das dominante Medienthema war. Tatsächlich zeigt unsere Studie, dass insbesondere die meinungsführenden Leitmedien das Thema Flüchtlinge aus der Sicht der Bundesregierung behandelten; hierzu abweichende Positionen kamen kaum zu Wort. Auffällig auch, dass die Vollzugsebene – also die Organisation der Flüchtlingsversorgung, das Management der Behörden und Ämter, Helfer und Initianten, Kirchen und Kommunen – kaum behandelt wurde; die sich dort stellenden Probleme wurden nicht recherchiert, sondern ausgeklammert. Das Gleiche gilt für Fachleute und Migrationsexperten, die zu vielen Problemen Sachdienliches hätten sagen können. Und dasselbe gilt auch für die Betroffenen: die Flüchtlinge und Asylbewerber.

Das oben beschriebene Wirkungsmodell erklärt also plausibel, dass die auf die Regierungspolitik fokussierte, dabei monochrom wirkende Berichterstattung zunehmend Misstrauen und Frust in der Welt der Andersdenkenden erzeugt hat – nicht nur bei radikalisierten Randgruppen, sondern auch in der liberalen Mitte der Gesellschaft. Und es erklärt den Stimmungsumschwung in den sozialen Medien, wo in zig-tausenden Kommentaren Frust zu Wut und Ablehnung zu Hass wurden.

Zum normativen Leitbild des Journalismus

Blicken wir nach vorn: Wie können die tonangebenden Informationsmedien Glaubwürdigkeit zurückgewinnen? Meinem Forschungsansatz zufolge kommen in demokratisch organisierten Gesellschaften dem Informationsjournalismus vor allem diese Aufgaben zu: erstens die in der Gesellschaft aufbrechenden Positionen, Konflikte und Probleme aufgreifen, und zwar so, dass sich die Mediennutzer mit diesen Vorgängen und Positionen auseinandersetzen können. Und zweitens gegenüber Staat und Politik „Kritik und Kontrolle“ (BVerG-Urteil) üben, also: nachfragen, recherchieren, aufdecken. Wenn der Journalismus diese zwei Aufgaben mit einer unabhängigen, an Aufklärung (und nicht an Meinungsmache oder Belehrung interessierten) Haltung an die Hand nimmt, dann kann er den öffentlichen Diskurs wieder in Gang setzen und gesellschaftliche Verständigung ermöglichen. Diese Aufgabenzuschreibung ist der normative Ansatz, an dem ich die gemessenen Medienleistungen eingeschätzt und beurteilt habe. Die oben diskutierten Wirkungsmodelle besitzen keine Normativität; sie sollen vielmehr helfen, die Gründe besser zu verstehen, warum in unserer Gesellschaft so viel Polarisierung und kaum noch Diskurse zustande kommen.

 


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