#Blogging

Vive la Redaktion!

von , 17.6.09

Es ist schon ein paar Jahre her, dass der hellsichtige Soziologe Michael Rutschky die Beobachtung gemacht hat, dass scheinbar keiner mehr lesen mag – alle wollen nur noch schreiben. Rutschky muß schon früh das Zeitalter der Blogs heraufdämmern gesehen haben.

Über 130 Millionen Blogs gibt es inzwischen weltweit. Im Schnitt werden innerhalb eines Tages 900.000 neue Beiträge in diesen Netzjournalen verfaßt. 1,59 Milliarden Menschen waren im Mai 2009 online, jeder zwölfte Internetbewohner bloggt also und trägt dazu bei, dass eine formidable Textflutwelle an die Bildschirme des Planeten brandet.

Dieser immense Zustrom bedeutet eine immer größere Vielfalt an Lesenswertem. Die hat allerdings einen Preis: Was herkömmlich in Zeitungsrubriken und Sender-Programmschemata vorgeordnet wurde, wird nun entbündelt. Textatome fliegen uns um die Ohren, als hätte eine kulturelle Nuklearexplosion stattgefunden. Musiker verkaufen im Netz keine Alben mehr, sondern einzelne Tracks. Ähnlich geht es nun in der Online-Textwelt zu, in der ein flatterhafter Leser durch riesige Textmengen streift und sich hier und da und dort für einen einzelne Artikel entscheidet.
Um nicht unterzugehen in dieser Übermenge an Geschriebenem, gibt es drei mögliche Strategien:

  1. Redaktion,
  2. Aggregation und
  3. Ignoranz.

Ignoranz ist eine der stärksten Waffen im Kampf gegen Überinformation, sie schenkt uns ein gewisses Gefühl der Souveränität. Redaktion heißt, dass wir nun in der Internet-Ära alle miteinander dazu verdammt sind, Journalisten zu sein und ein Gefühl für Qualität zu entwickeln. Und Aggregation heißt, dass aus den Textatomen schnell wieder Moleküle werden – vollautomatisch, wie bei Google News oder sorgsam oder spielerisch von Hand, wie es vielfach im Netz bereits geschieht.

Zu den Blogs kommen noch weitere digitale Schreibgelegenheiten wie Facebook mit 200 Millionen Nutzern oder Twitter mit 14 Millionen Nutzern in den USA und einige Zehntausend in Deutschland – den Kurztextklassiker SMS nicht zu vergessen. Im Januar 2009 erhielt Greg Hardesty aus dem kalifornischen Silverado Canyon die Handy-Rechnung seiner Tochter Reina. Sie war 440 Seiten lang und verbuchte 14.528 SMS (im Schnitt 484 Kurztexte pro Tag). Hardestys Glück: Reina hat eine Flatrate mit unbegrenzt SMS.

Es soll aber niemand glauben, dass die Vielschreiberei ein Phänomen ist, das erst jetzt in der digitalen Ära zum Vorschein kommt. Einer der exzessivsten Proto-Blogger war der Architekt Buckminster Fuller, der sein Leben in einer unglaublichen Ausführlichkeit dokumentierte: Von 1915 an schrieb er 68 Jahre lang alle 15 Minuten einen Eintrag in ein Journal. Als Fuller am 1. Juli 1983 starb, hinterließ er 80 laufende Meter an Notizbüchern.

Die immer eingehenderen Aufzeichnungen, mit denen wir es zu tun haben, werfen ein Problem auf, das der argentinische Schriftsteller Jorge Luis Borges in seiner Erzählung “Von der Strenge der Wissenschaft” beschrieben hat. Es geht darin um ein Reich, in dem die Kunst der Kartographie eine solche Vollkommenheit erreicht hat, dass eine Karte entsteht, “die genau die Größe des Reiches hatte und sich mit ihm an jedem Punkte deckte”.

Aber eine Karte, die genauso detailliert ist wie die Wirklichkeit, verliert ihre Funktion.

Peter Glaser bloggt auf auf der Glaserei. Dieser Beitrag wird hier mit freundlicher Genehmigung des Autor crossgepostet.

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