»Clubhouse« wirkt wie eine ins Virtuelle abgewanderte »Republica« im Dauerbetrieb, die Brechts Radio-Utopie geradezu idealtypisch realisiert. Doch bildet die Plattform im kleinen das Dilemma ab, das liberale Demokratien im großen gegenwärtig häufig erfahren: Im Prinzip ist Teilhabe möglich, in der Praxis jedoch durch allerlei Begrenzungen erschwert.
von Lukas Franke, 31.1.21
Die App »Clubhouse« ermöglicht Online-Gesprächsrunden und erinnert an utopische Demokratisierungshoffnungen, die schon früher mit dem Aufkommen neuer Medien verbunden waren. Ob die neue Plattform ein Kind des Lockdowns ist oder sich auf Dauer hält, bleibt jedoch abzuwarten.
Der Traum von der Gesellschaft der Freien und Gleichen, die sich stets auf Augenhöhe und ohne Hierarchien und Paternalismen begegnen, eint nicht nur Kommunisten und Anarchisten, er liegt auch etlichen emanzipativen Medientheorien zugrunde. Bertolt Brechts Betrachtungen über das in den 1920er-Jahren revolutionär neue Medium des Rundfunks gehören in diese Kategorie, ebenso wie die Netzutopien der 1990er-Jahre, die dem Internet das Potenzial zuschrieben, die mediale Infrastruktur für eine radikale Basisdemokratie bereitzustellen. Wo Brecht den Rundfunk von einem »Distributionsapparat in einen Kommunikationsapparat« verwandeln und »den Hörer als Lieferanten organisieren« wollte, sollte das Netz in den 1990er- und 2000er-Jahren als Metastruktur sozialer Organisation die technologische Grundlage schaffen, die Grenzen zwischen Sender und Empfänger vollends aufzuheben.
Brechts Vorwegnahme späterer Netzutopien wurde in der Zwischenzeit ebenso oft besprochen wie deren in jüngster Zeit scheinbar eher dystopischer Verlauf. Bereits in den 1990ern wiesen Richard Barbrook und Andy Cameron in ihrem Essay »Die kalifornische Ideologie« auf die »Kolonialisierung des Cyberspace« durch die Konzerne des Silicon Valley und auf die Verschmelzung des »semantischen Kapitalismus« (Franco Berardi) mit den Traditionen der kalifornischen Hippies hin. In den letzten Jahren war es vor allem der Aufstieg der postfaktischen neuen Rechten, der aus den utopischen Potenzialen des Netzes »digitale Traurigkeit« (Geert Lovink) werden ließ. Denn an die Stelle eines digitalen Debattenraums unter Freien und Gleichen ist oft eine hyperventilierende, hysterische Rechte getreten, die aus der basisdemokratischen Utopie Verschwörungsunsinn und Hatespeech werden ließ.
Anders erscheint demgegenüber der Hype um die neue Smartphone-App »Clubhouse«, die wie eine ins Virtuelle abgewanderte »Republica« im Dauerbetrieb wirkt, die das im Lockdown gesteigerte Bedürfnis nach Austausch bedient. Abgesehen von datenschutzrechtlichen Bedenken und dem Einwand, dass derzeit nur Besitzer*innen von Apple-Smartphones teilnehmen können, hat sich dort in kurzer Zeit eine Vielzahl digitaler Räume etabliert, in denen ausgiebig und vielfach auf gutem intellektuellem Niveau aktuelle Debatten geführt werden, die grundsätzlich allen Teilnehmer*innen offenstehen. Brechts Radio-Utopie erscheint insoweit geradezu idealtypisch realisiert. Wo sonst ist es möglich, Ministerpräsidenten dabei zuzuhören, wie sie offen über den Verlauf von Regierungsbersprechungen und darüber sprechen, welche Smartphone-Spiele etwa im stundenlangen Verlauf der Ministerpräsidentenkonferenz die gelegentliche Langeweile überbrücken? Wo sonst kann die gemeine Leserin der Redaktionskonferenz einer großen deutschen Wochenzeitung beiwohnen und sich einschalten, wenn sie Fragen stellen möchte?
Insofern führt »Clubhouse« ein weiteres Mal die politischen und gesellschaftlichen Potenziale sozialer Medien vor, die als digitale Agora das Zeug haben könnten, Debatten in der Demokratie neu zu strukturieren. Wie gesagt – könnten. Die neue Plattform offenbart nämlich auch die Begrenzungen deutlicher als die etablierten Netzwerke. Denn »Clubhouse« funktioniert nicht über das geschriebene, sondern eben das gesprochene Wort. Es melden sich also eher jene zu Wort, die rhetorisch begabt und erfahren sind und über den beruflichen Hintergrund und die Bildung verfügen, Argumente entwickeln und verteidigen zu können. Mithin ist es wenig verwunderlich, dass – zumindest derzeit in Deutschland – Politiker*innen, Journalist*innen, Aktivist*innen und Menschen, die in sonstiger Form mit Öffentlichkeit zu tun haben, auf der Plattform überrepräsentiert sind. Alle anderen halten sich einstweilen eher zurück.
Damit bildet »Clubhouse« im kleinen das Dilemma ab, das liberale Demokratien im großen gegenwärtig häufig erfahren: Im Prinzip ist Teilhabe möglich, in der Praxis jedoch durch allerlei Begrenzungen erschwert, sei es der materielle Zugang (»iPhone only«), die Art, gelesen zu werden, die technologische Kompetenz, der kulturelle Schliff oder der individuelle Geltungsdrang. Es wird spannend, die weitere Entwicklung zu beobachten. Wenn es sich um keine Eintagsfliege handelt, deren möglicherweise kurzer Hype durch den Corona-Lockdown bedingt und befeuert wurde, so sind ähnliche Entwicklungen zu erwarten, wie sie auf Twitter und Facebook bereits zu beobachten waren: Inmitten von unfassbar viel Blödsinn und Hysterie finden sich dann Inseln, auf denen Überraschendes, Unerwartetes, Neues, Differenziertes Platz findet und sich bürgerliche Öffentlichkeit im Habermas’schen Sinne immer wieder neu konstituiert. Die Formen dürften sich dabei finden und neu erfinden, sie könnten die durch Podcasts bereits aufgeweichte Grenzen des Radios weiter öffnen und die Grenzen zwischen Sendern und Empfängern in neuer Weise verringern, wenn nicht gar auflösen.
Indes ist zu erwarten, dass andere, oben genannte Begrenzungen bestehen bleiben und die politische Hoffnung auf Demokratisierung der Medien und der Gesellschaft, die schon die Entstehung des Internets begleitete, ein weiteres Mal enttäuscht werden könnte. Denn die technologische Möglichkeit von Teilhabe ist, wie die Erfahrung von rund zwei Jahrzehnten social media lehrt, mitnichten Garant dafür, dass Bildung, Kultur, sozialer Status und sonstige Trennlinien aufgehoben werden.